Das Glück des Genießens: Sich spielerisch des Lebens freuen
Von Ute Rademacher
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Das Glück des Genießens - Ute Rademacher
Ute Rademacher
Das Glück
des Genießens
Sich spielerisch des Lebens freuen
HERDERImpressum
© Verlag Herder Freiburg im Breisgau 2013
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlagkonzeption: Agentur RME Roland Eschlbeck
Umschlaggestaltung: Verlag Herder
Umschlagmotiv : © Helder Almeida – iStockphoto.com
ISBN (E-Book) 978-3-451-34569-2
ISBN (Buch) 978-3-451-06480-7
Inhalt
Kapitel 1: Vom Muss zum Genuss
Sich von falschen Glaubenssätzen befreien
Kapitel 2: Von Sinn und Sinnlichkeit
Ein Plädoyer für das wahre Genießen
Kapitel 3: Genießen – aber richtig
Der Schlüssel zum Glück oder Hamsterrad der Gelüste
Kapitel 4: Welcher Genusstyp bin ich?
Die vielfältigen Facetten der Persönlichkeit
Kapitel 5: Sail away – es kann losgehen
Einfache Übungen fürs Genießen ohne schlechtes Gewissen
Kapitel 6: Kopfkaviar – kann das Gehirn genießen?
Spannende Erkenntnisse der Neurowissenschaften
Kapitel 7: Vom Quälgeist zur Kraftquelle
Wie Sie innere Hindernisse in Kraftquellen verwandeln und damit auch zum Wohle anderer beitragen
Anmerkungen
Kapitel 1
Vom Muss zum Genuss
Sich von falschen Glaubenssätzen befreien
»Enjoy« – mit einem strahlenden Lächeln stellt mir der blonde Lockenkopf einen knackigen Salat mit scharf angebratenen Gambas vor die Nase. Wie das duftet! Die Frühsommersonne scheint mir auf die Nasenspitze, und das Kleid, das ich heute zum ersten Mal aus seinem Winterquartier befreit habe, flattert fast aufmüpfig um meine noch blassen Unterschenkel. Natürlich werde ich es genießen – wie könnte ich nicht?, denke ich mir, als der erste Happen in meinem Mund landet. Wer würde diesen Moment nicht genießen? Entspannte Stimmung, sanfte Sonnenstrahlen und ein vorzügliches, leichtes Mahl. Und doch gibt es viele Menschen, die sich nicht in diese Verlegenheit bringen würden. Weil zu Hause die Wäsche wartet, die Sonne auch morgen noch scheint und die Reste im Kühlschrank dringend gegessen werden müssen.
Vielen Menschen ist in ihrem fordernden Alltag die Fähigkeit zu genießen mehr und mehr verloren gegangen. Das Gefühl, ständig noch etwas erledigen zu müssen, lässt keinen Spielraum fürs Genießen. Wir müssen Sport machen, weil wir ein paar Kilo abnehmen wollen, statt uns an der Bewegung an sich zu erfreuen. Wir meinen, den neusten Blockbuster sehen zu müssen, weil alle darüber reden, obwohl wir eigentlich lieber zum zwanzigsten Mal gemütlich auf dem Sofa unseren Lieblingsfilm sehen würden. Ein übervoller Terminkalender, unrealistisch lange To-Do-Listen, hohe Erwartungen anderer und von uns selbst machen eine »Genusskultur« schwer möglich. Dauerhafte Anspannung und ein stressgeprägter Lebensstil können im Extremfall zu Burn-out und Depression führen, die sich unter anderen Symptomen durch eingeschränkte oder völlig verschüttete Genussfähigkeit auszeichnen. Dinge, die einem früher Spaß gemacht haben, geraten im Vergleich zu den vielen Aufgaben und Terminen ins Hintertreffen oder werden nur noch lustlos, mechanisch oder angespannt ausgeführt. Anstatt die Stimmung des morgendlichen Spaziergangs zu genießen, wachsen im Kopf anstehende Aufgaben wie das Unkraut im Vorgarten. Das gemäßigte Joggingprogramm artet zum Marathontraining aus, als wollten wir unserer inneren Müdigkeit einfach davonlaufen. Um den täglichen Herausforderungen noch fitter begegnen zu können, gehen wir zusätzlich drei Mal pro Woche ins Poweryoga. Natürlich mit einem Lunchpaket in der Sporttasche, das gefüllt ist mit Sandwiches aus selbst gebackenem Brot und frisch geschnittenen Gemüsesticks. Kein Wunder, dass sich da nicht die erwünschte – und dringend benötigte – Entspannung einstellt!
Die Psychologin Tanja Hoff hat sich zusammen mit ihrem Forschungskollegen Reinhold Bergler in ihrem Buch »Genuss und Gesundheit« die Genussfähigkeit der Deutschen systematisch unter die Lupe genommen¹. Ihre Befragung von insgesamt 1000 Personen in verschiedenen Regionen zeigt, dass echte Genießer auch das beste Gesundheitsverhalten zeigen. Je genussfähiger Menschen sind, desto ausgeprägter sind tendenziell ihr Selbstwertgefühl, ihr Maß an Selbstverantwortlichkeit und ihre Körpersensibilität.
Tanja Hoff plädiert dafür, Genuss zu etwas Alltäglichem zu machen und ihn nicht auf besondere Momente oder Situationen zu verschieben. Wir brauchen Genuss nicht nur, wenn wir mal wieder weniger um die Ohren haben oder in den Ferien. Um auch im Alltag von dem »Müssen Modus« in den »Genussgang« schalten zu können, ist etwas Übung nötig. Denn wenn Sie bis heute daran geglaubt haben, dass man sich seinen Genuss erst verdienen muss, wird es Ihnen schwer fallen, dieses Muster von heute auf morgen zu ändern. Dieses Buch möchte Ihr wohlwollender Ratgeber in Sachen Genussfähigkeit werden. Herzlichen Glückwunsch, dass Sie es sich gekauft haben oder liebe Menschen kennen, die es Ihnen geschenkt haben! Ich möchte Ihnen in diesem Buch das Genießen gerne als Zustand bewussten Wohlfühlens vorstellen, das nachweislich zu einem gesunden und glücklichen Leben dazu gehört. Ich würde mich freuen, wenn Sie beim Lesen Anregungen und Mut bekommen, sich von unberechtigten Ängsten und falschen Glaubenssätzen zu befreien. Ein anderes Verständnis von Genießen ist ein guter Anfang, reicht aber nicht aus, um Ihr Leben genussvoller zu machen. Deswegen werden Ihnen einfache Übungen und Gedankenspiele die Kunst des Genießens auch praktisch etwas näher bringen. Die Übungen bauen aufeinander auf, deswegen haben Sie am meisten davon, wenn Sie die Entdeckungsreisen in den Kästen begleitend zum Lesen Schritt für Schritt machen. Sie brauchen sich aber nicht sklavisch daran zu halten, wenn Ihnen eine bestimmte Übung partout nicht liegen sollte. Machen Sie sich von dem, was Sie bei den Übungen über sich entdecken, eine innere Notiz oder legen Sie sich ein ganz persönliches »Genusstagebuch« zu, in dem Sie Ihre Erfahrungen und Ideen rund ums Genießen festhalten – mit Notizen, Gedanken und vielleicht hier und da einer Zeichnung oder kleinen Collage als Stimmungsbild.
Sind Sie neugierig, welcher »Genusstyp« Sie sind? Es wäre schön, wenn Sie zu Anfang eine kleine Bestandsaufnahme machen würden, damit Sie sich und Ihre Einstellung zum Genießen besser kennenlernen. Werfen Sie doch einmal einen Blick auf die Fragen im Kasten.
Die Genussexperten Tanja Hoff und Reinhold Bergler haben die Antworten ihrer Befragten von der Nordsee bis zum Bodenseeeiner genauen Analyse unterzogen. Sie ermittelten drei unterschiedliche Genusstypen: die Genießer, die Genussarmen und die Genusszweifler. Dabei ist weniger wichtig,was Menschen genießen, sondern wie sie Genuss gegenüber eingestellt sind, erleben und bewerten.
Genießer weisen eine positive Genussbilanz auf. Sie erleben Genuss durchweg positiv ohne Ängste der Maßlosigkeit, Reue oder gar Sucht. Sie schätzen Genuss als Verbesserung des eigenen Wohlbefindens. Genießer sind mit sich im Reinen, sind selbstbewusst und haben ein gutes Gespür für ihren Körper und seine Bedürfnisse. Interessanterweise leben sie nicht nur genussvoll, sondern auch gesund. Im Gegensatz zu gängigen Vorstellungen führt eine positive Genusshaltung also nicht zu Verweichlichung oder Unmäßigkeit, sondern einem gesunden Körpergefühl und Lebensstil.
Wie genieße ich?
Setzen Sie sich in bequem und entspannt hin. Nichts soll drücken oder zwicken. Denken Sie an einen Moment, an dem Sie etwas intensiv genossen haben. Das kann eine Situation aus der jüngsten Vergangenheit oder schon eine Weile her sein. Spüren Sie sich in diese Erinnerung hinein und beantworten Sie ehrlich und wohlwollen folgende Fragen:
Wie habe ich mich dabei gefühlt?
Von welchen körperlichen Empfindungen wurden diese Gefühle begleitet?
Was habe ich nach dem Genussmoment gefühlt?
Was habe ich über mich und den Genuss gedacht?
Seien Sie ehrlich und wohlwollend mit sich. Bewerten Sie sich nicht, sondern versuchen Sie, diese Übung als kleines Beobachtungsexperiment durchzuführen, das Ihnen etwas über Sie offenbart.
Wenn Sie sich an keinen aktuellen Genussmoment deutlich erinnern können, stellen Sie sich diese Fragen beim nächsten Genießen ☺
Die Genussarmen stehen dem Genießen kritisch gegenüber: Ihre Einstellung zum Genuss wird von Ängsten und Sorgen geprägt. Sie fürchten, eine positive Genussorientierung führe zu Gewichtszunahme, Passivität und gesundheitlichen Schäden. Genuss ist ihrer Haltung nach nicht die Möglichkeit, sich selbst zu verwöhnen, sondern ein Mangel an Disziplin und Kontrolle. Sie orientieren sich insgesamt weniger an ihren (körperlichen) Bedürfnissen.
Die Genusszweifler stehen dem Genießen mit gemischten Gefühlen gegenüber. Sie nehmen die Vor- und Nachteile nur eingeschränkt wahr und haben eher eine ausweichende, unsichere Haltung. Kostenfaktoren des Genießens werden ins Feld geführt, und häufig versagen wir uns einen Genuss oder entwickeln ein schlechtes Gewissen.
Können Sie sich in einem dieser Beschreibungen wiederfinden? In welche Richtung weisen Ihre Antworten auf die Fragen im Kasten?
Genussfähigkeit ist in den verschiedenen Regionen unterschiedlich stark ausgeprägt. Am genussfähigsten sind demnach die Rheinländer und Bewohner von Baden-Württemberg, Bayern, Hessen und Rheinland-Pfalz. Düsterer auf der Genusslandkarte wird es bei den calvinistisch geprägten Norddeutschen. Die meisten Genusszweifler sind den in ostdeutschen Bundesländern zu finden. Es wundert nicht, dass Rheinländer verstärkt unter den Genießern zu finden sind, sind sie doch für ihre lebensfrohe und gesellige Lebensart bekannt. Dem rheinischen Frohsinn und Optimismus kann man sich kaum entziehen, wird man doch schon am Kölner Flughafen mit Lebensweisheiten wie »Et hätt noch emmer joot jejange« begrüßt, der sicher nicht auf das hohe Niveau bei der Flugsicherheit anspielt.
Genießen steht nicht in allen Regionen unserer Republik hoch im Kurs. Während Italiener »das süße Nichtstun« als gesunden Ausgleich zur Arbeit kultivieren, rückt es in unserem Sprachgebrauch verdächtig nah an Faulheit und schlechten Charakter: genussvolle Muße wird als »Müßiggang, als aller Laster Anfang« oder gar »des Teufels Ruhebank« gerügt. Selten wird aber vor einem Mangel an Genussunfähigkeit gewarnt, obwohl er nachgewiesenermaßen ein Symptom von Burn-out und Depressionen ist. Wenn Sie sehr lange darüber nachdenken müssen, wann Sie das letzte Mal etwas intensiv genossen haben, ist dies ein erstes Alarmsignal. Sind Sie über dem Nachdenken eingeschlafen, sollten Sie ernsthaft prüfen, ob Sie von Burn-out betroffen sind². Wer nicht genießt, wird ungenießbar, ist die Prognose vom Arzt und Glücksexperte Eckhart von Hirschhausen³. Und auch die Psychologin Tanja Hoff kommt in einem Interview zu dem Schluss, dass echter Genuss unabdingbar ist für das seelische und körperliche Wohlbefinden: »Wer Genuss ausschließlich mit schädigenden Genussmitteln in Verbindung bringt, greift viel zu kurz und wird dem Genießen nicht gerecht. Gestalten Sie Ihren Zeitplan so, dass an jedem Tag ein kleiner Genuss möglich ist«.⁴
Was macht eigentlich das Wesen und die Kraft des Genießens aus? Werden Sie doch einmal – bevor Sie weiterlesen – selbst zur Genussforschenden. Machen Sie sich auf zur Entdeckungsreise und gehen Sie mit Hilfe der Fragen im Kasten in Gedanken alle Ihre Sinneskanäle durch. Lassen Sie dabei Bilder und Gefühle in sich aufsteigen, die mit angenehmen Erfahrungen zu tun haben. Es spielt dabei keine Rolle, wie viele Erlebnisse sich vor Ihrem inneren Auge abbilden. Es können Genusserlebnisse der jüngeren Vergangenheit sein oder Ereignisse, die schon eine Weile her sind. Versuchen Sie nicht krampfhaft nach besonders exotischen Erlebnissen. Gerade kleine Genussquellen des Alltags sind von großer Bedeutung!
Wenn wir genießen, sind alle unsere Sinne aktiviert und dies – im Gegensatz zu Momenten der Angst – verbunden mit angenehmen Gefühlen. Wir erleben den aktuellen Moment intensiv, frei von Sorgen der Vergangenheit und Plänen für die Zukunft. So banal es auch klingen mag, aber beim Genießen erleben wir das Hier und Jetzt klar und entspannt, was Glücksgefühle bewirkt und Lebensfreude und Zufriedenheit steigert. Die Positive Psychologie untersucht, welche Rahmenbedingungen Glück und Lebenszufriedenheit fördern, als Gegenpol zur Disziplin psychischer Störungen. Die Forschenden haben herausgefunden, dass sinnlicher Genuss eine wichtige Säule für Glück und allgemeine Lebenszufriedenheit ist. Glückliche Menschen wiederum sind gesünder und leben sogar länger als Menschen, die weniger glücklich und optimistisch durchs Leben gehen⁵.
Eine genussvolle Reise
Gehen Sie in Gedanken oder auch wirklich durch Ihre Wohnung und finden Sie die Quellen, die Ihnen sehr angenehm sind, mit denen Sie sich gerne umgeben und die Sie entspannen. Stellen Sie sich vor, Sie hätten eine Wünschelrute dafür oder eine besonders feine Nase für diese Genussquellen. Machen Sie innerlich eine kleine Notiz:
Wo sitze oder liege ich am liebsten? Was genieße ich daran genau?
Welche Klänge, Geräusche, Töne, Rhythmen sind mir angenehm? Wann und wo begegnen mir diese?
Bei welcher Musik kann ich besonders gut entspannen?
Welche Berührungen erlebe ich als wohltuend? Wie fühlen sie sich an? In welchen Körperbereichen genieße ich diese Berührungsqualität am meisten?
Welche Materialien und Formen fasse ich besonders gerne an?
Auf welchem Boden laufe ich am liebsten?
Auf welches Bild schaue ich am liebsten? Welchen Ausblick, welches Panorama suche ich mir zum Verweilen?
Welche Stimmung genieße ich besonders?
Welche Aromen und Gerüche mag ich besonders
Genießen kann man nicht nur kulinarische Genüsse, auch wenn sich dies in der deutschen Sprache so eingebürgert hat. Ursprünglich hatte das Wort »genießen« eine wesentlich weiter gehende Bedeutung. Das mittelhochdeutsche »geniesz« bezeichnete die »gemeinsame nutznieszung«. Diese Bedeutung hat sich bis heute erhalten in Begriffen wie »Nutznießung« oder »in den Genuss einer Sache kommen«. Wir genießen anregende und wohltuende Düfte, beruhigende Farben, ein sanftes Streicheln der Haut, entspannende Wohlklänge. Sinnliches Wohlgefühl kann alle unsere Sinnesorgane wecken. Welcher Ihrer Sinne ist besonders empfänglich für Genuss? Welche Sinne sind weniger spürbar auf Genuss eingestellt? Welche Impulse haben Sie bei der kurzen Gedankenreise zu den Genussquellen in Ihrem Umfeld gespürt?
Genießen ist nicht nur sehr individuell, sondern auch vielfältig. Was uns heute gefällt, lockt uns morgen vielleicht nicht hinter dem Ofen vor. Was unser Liebstes ist, lässt andere sich schütteln. Und außer sinnlichen Genüssen bereiten uns noch viele andere Dinge Freude und Genuss. Wir genießen das Miteinander mit Freunden und Gleichgesinnten. Von sich zu erzählen, seine Eindrücke zu teilen und zu erfahren, wie es den Menschen geht, die uns nahe stehen, sind wichtige »Anwendungsfelder« von Genuss. Aber auch