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Drei Minuten für jeden
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eBook448 Seiten6 Stunden

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Über dieses E-Book

Ein Independent-Filmer. Ein junger Hochschulabsolvent. Ein Mann und sein Medienimperium. Ein Musiker. Eine Frau, mit blauen Haaren. Ein gescheiterter Theaterautor. Und Lisa.
Alle verbindet Andy Warhols Vision einer Welt, in der jedem eine Viertelstunde Ruhm blüht, von denen am Ende aber nur 3 Minuten übrigbleiben.
Tibor Baumann hat mit Drei Minuten für jeden einen kulturkritischen Roman für die jungen Träumer der 80er und 90er geschrieben, die ihren Platz in der unüberwindbaren Massenkultur des 21. Jahrhunderts finden und sich nicht mit den üblichen Ausreden einer Gesellschaft abspeisen lassen wollen.
SpracheDeutsch
Herausgeberkladdebuchverlag
Erscheinungsdatum3. Apr. 2017
ISBN9783945431276
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    Buchvorschau

    Drei Minuten für jeden - Tibor Baumann

    Impressum

    Erste Auflage: 2017

    Gestaltung und Satz: rombach digitale manufaktur, Freiburg

    Druck: rombach digitale manufaktur, Freiburg

    Lektorat und Korrektorat: Mareike Kirnich, Lisa Helmus

    Covercollage: Viktoria Maly

    eISBN: 978-3-945431-27-6

    Zitate mit freundlicher Genehmigung:

    Rainald Grebe, Stromausfall und Soundcheck (Das Robinson Crusoe Konzert)

    Isabelle Šuba, Männer zeigen Filme & Frauen ihre Brüste

    Einstürzende Neubauten / E N /, Die Befindlichkeit des Landes (Silence is sexy)

    The Great Park, I know what I make isn‘t fine (Winter)

    Erobique & Jacques Palminger | Barbara Stützel, Wann strahlst du

    (Songs for joy 2)

    Aus technischen Gründen können in dieser elektronischen Publikation formative Stilmittel des Autors nicht umgesetzt werden. Wenn Sie den vollen Umfang des Romans genießen möchten, empfehlen wir das gedruckte Buch.

    © Copyright kladde | buchverlag Pfaffenweiler – Freiburg

    Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm und andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert, digitalisiert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

    www.kladdebuchverlag.de

    für Nora & Norbert

    Inhalt

    Impressum

    02. Dezember

    Königin Maab

    10. Februar

    Christine K.

    Arno E.

    Akgül U.

    30.April

    Verloren, nicht Verlierer

    15. Mai

    Sylvia E.

    Katherina D.

    10. Oktober

    Zwischen den Jahren

    Feel safe little Boy

    01. Januar

    Ina K.

    Achim C.

    02. August

    28. Oktober

    A Pale Horse

    Oder: ein faulender Reiter auf einem kranken Gaul.

    21. März

    Edelbert M.

    Schwelbrand I

    Schwelbrand II

    Schwelbrand III

    27. Juni

    Helga N.

    Theresa U.

    04. September

    Tim W.

    Wildern

    11. November

    Jetzt

    Für diese Minuten

    Die Decke der Zivilisation, die ist ja hauchdünn.

    Rainald Grebe

    Stromausfall und Soundcheck,

    Das Robinson Crusou Konzert

    Ich entscheide gerne selbst,

    was für mich ein Weltuntergang ist.

    Männer zeigen Filme & Frauen ihre Brüste

    (Regie: Isabell Šuba, 2014)

    02. Dezember

    Wie ein Nick Cave Song am Morgen – wie ein endgültiger Abschied.

    Wie totales Versagen – oder absoluter Sieg.

    Wie eine Doppelschicht – nach durchzechter Nacht,

    unerbittlich,

    like a knife,

    stocked in my flesh –

    oder: zwei Töpfe voll Rote Bete.

    Königin Maab

    Der dunkle Parkplatz zwischen den Grünflachen, den rauschenden Bäumen und den langen, geduckten Gebäuden strahlte die Hitze des Tages noch ab. Begrenzt wurde die Insel durch den Schein der Laternen, der die anbrandende Dunkelheit in deren Grenzen verwies. Auf diesem Eiland war Mika gefangen. Das Auto war das letzte, gestrandet zwischen den weißen abgefahrenen Linien. Der Kofferraum stand offen. Das Licht der geöffneten Luke fiel auf ihn, rückte ihn in den Mittelpunkt des Eilands. Er trug ein schwarzes Hemd und Stoffhose, eine Kappe in grau meliertem Muster. Seine gedrungene Gestalt war vor Müdigkeit eingesunken, sein Blinzeln langsam. Zwischen den Knien, eine Hand an das feucht-kühle Glas gelegt, hielt er eine Bierflasche. Mika starrte in die Dunkelheit und wusste, dass niemand da war, um zu sehen, wie das Licht ihn in den inszeniert scheinenden Mittelpunkt setzte. Träge, fast nachlässig, schob er sich die Kappe in den Nacken und quittierte sich selbst mit einem schiefen Lächeln an niemanden.

    Er saß da und genoss die Stille.

    Oder die Kühle.

    Wahrscheinlich ein wenig von beidem.

    Vor ihm auf dem gelblich erhellten Teer standen einige Taschen und mehrere braune Kartons, aus denen Aktenordner herausragten, sodass die Laschen nicht mehr schließbar waren. Die Ordner enthielten die Notizen, die Bewerbungen, die einzelnen typisierten Zuordnungen. Die Vorlage für die digitale Kartei. Dazwischen lagen lose die nicht verwendeten Formulare, unbenutztes Notizpapier, Marker und Kulis, Klebeband und Locher, Büroklammern und Tacker. Neben den Kartons standen die Fototasche, das Stativ und die beiden Laptops. Das Werkzeug der letzten beiden Tage, um die richtigen Gesichter zusammenzutragen.

    Er nahm traumwandlerisch, aber plötzlich, als sei er aus einer Starre erwacht, einen tiefen Zug aus der braunen Bierflasche und sah durch die Dunkelheit zu den schmalen Gebäuden. Den Tag hatten er und sein Kollege in dem linken der Bauten verbracht. Im Versuch, die Farben der kleinen lokalen Zweigstelle des Senders unterzubringen, waren einzelne Flächen blau-weiß gestrichen worden. Länglich gezogen, zwei Stockwerke, kleine Fenster, teilweise in Versatzstücken renoviert, erinnerten sie ihn an alte, umfunktionierte Kasernen, an militärische Gelände, wie jene, die ein Freund von ihm immer als eine Kindheitserinnerung beschrieb. Da war sie wieder, die Isolation. Mika sah mit schwimmendem Blick auf. Er hatte auch diesen Freund in den letzten Wochen aus den Augen verloren. Krampfhaft versuchte sich Mika zu erinnern, ob er schon aus Berlin zurückgekommen war, oder seinen Bruder gefunden hatte, was passiert war.

    Er gab es auf. Er wusste es nicht mehr. Und in dieser Akzeptanz gab er sich selbst Absolution.

    Die Nacht hatte etwas Beruhigendes für ihn und bettete diesen ersten Etappensieg ein. Mika hatte sich in den letzten Wochen bewiesen, hatte sich und denjenigen, die ihm eine Chance gegeben hatten, bewiesen, dass er gegen die steigende Arbeitsflut, über jede Schmerzgrenze hinaus arbeiten konnte und wollte. Er hatte mit Fleiß und bedingungslosem Willen den Sieg der ersten Etappe errungen, jedoch nicht ohne Opfer, die über ihn selbst hinausgingen. Er schätzte, dass es so sein musste.

    Er nahm noch einen Schluck. Blinzelte langsam.

    Einen Sieg, den er von dem Opfer, das er dargebracht hatte, loslösen wollte. Noch ein Schluck. Es nicht wahrhaben wollte. Ein letzter Rest aus der Flasche. Eine letzte Chance, es wegzuspülen.

    Er stellte die leere Flasche zur Seite und angelte sich eine neue aus dem Kasten, der hinter ihm in dem Kofferraum stand. Ein paar Chancen hatte er noch.

    Er wusste, dass er auch mit einer zweiten Flasche nicht fähig sein würde, sich das Opfer auf dem Altar seines Egos schönzureden. Er drehte die braune Flasche, die ihn nicht dazu befähigen würde, das Telefonat im inneren Monolog in die Bedeutungslosigkeit zu quatschen. Mika sah die Flasche an. Und entschied sich, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Umständlich setzte er das Feuerzeug als Hebel an. Das Ploppen verebbte über die gelbliche Lichtinsel hinaus in die Dunkelheit und wurde von den Häuserfassaden geschluckt.

    Das Telefonat, dieser kurze Kontakt in die Außenwelt, fern vom Rummel um die Filmproduktion, hatte eingeschlagen wie ein überraschender Fliegerangriff. Er dachte an Lisa und unweigerlich, als ob sie es für ebendiesen Moment geschrieben hätte, an ihre Fingerübung vom zweiten Dezember. An jenes Bild, das zufällig entstanden war. Mika hatte das Messer hektisch auf das Brett geschmissen, wollte gerade zur nächsten Knolle greifen und hielt inne. Um ihn herum tobte das Hauptgeschäft; Flammen stießen aus der Pfanne, der Pass stand voll mit dampfenden Gerichten, Willie stellte einen weiteren Stapel Dreck auf die Spülstraße. Die Hitze und der Küchengeruch standen dick in der Luft. Mika zog das Handy und fotografierte das Zufallsensemble. Dann schrie der Koch, er solle die Salate fertig machen, die Schnitzel würden kalt werden und Mika verwahrte den Moment in seiner Tasche. Für Lisa. Damit sie niemals so wie er in der Küche und hinter dem Zapfhahn enden würde. Die Worte, die Lisa dazu verfasst hatte, strichen sanft durch seinen Kopf. Wie aufkommendes Treibgut, an das sich der Ertrinkende krallt, im Wissen, dass es nur ein Stück Holz, ein schlechter Scherz, eine kaum reelle Chance ist, die ihn im offenen Ozean verhöhnt. Diese wöchentlichen Texte und Gedichte von Lisa schienen eine Nut zu haben, deren Gegenstücke Momente waren, die Mika, als einziger Leser und Zeuge ihrer Worte, so zusammenführte: der Schiffbrüchige und das Treibholz. Mikas rettendes Schiff von dem einsamen Eiland, auf dem er seit Jahren vor sich hindümpelte, zwischen kleinen Projekten und Gastrojobs, war diese Chance, dieses Projekt und die letzten dreißig Stunden Arbeit am Stück für das Casting der Kleindarsteller und Komparsen. Er nahm einen weiteren Schluck und versuchte sich noch einmal einzureden, dass Lisa das verstehen würde. Es funktionierte nicht und so dachte er wieder an ihre schmalen Sätze, an ihr Gedicht als Übung zu seiner Momentaufnahme. Dass er sie auswendig konnte, waren alte Reflexe aus seiner Jugend; als er noch dachte, er würde Schauspieler werden. Vielleicht war es aber auch andersherum gewesen und diese Fähigkeit des schnellen Auswendiglernens hatte ihn zu dieser Annahme gebracht.

    Tief sog er die schwere Nachtluft ein.

    Er blickte über die Kartons hinweg zu dem finster aussehenden Gebäude, wartend auf seinen Kollegen, der ihn wieder zurückholen würde in die Welt, in die Arbeit, in die Aufgabe. Vor allem würde der Tag endlich vorbei sein, wenn er mit den letzten Einträgen unter dem Arm das Gebäude verlassen würde. Dann könnte Mika endlich nach Hause. Endlich ins Bett fallen. Endlich schlafen und vergessen.

    Sein Gewissen biss hart in sein Herz.

    Es tat ihm leid. Er fragte sich die Stirn runzelnd, ob er sich vielleicht in ihr getäuscht hatte. Und ob er sie nicht einfach lieben könnte, auch wenn sie aufhören würde, Jagd auf einen nebulösen Traum zu machen.

    So wie er es tat.

    Er trank noch einen Schluck.

    Sein Blick wurde hart, als ob er sagen würde, um sich selbst freizusprechen: Lisa, da musst du eben durch.

    Als Lisa ihn kennengelernt hatte, war sie fünfzehn Jahre alt und sehr traurig gewesen. Die Familie überwand sich an diesem herrlich klaren Januarmorgen und kam, um Abschied zu nehmen, auf einem kleinen Gottesacker zusammen. Lisas Großvater, der Vater ihrer Mutter und dessen Bruder, war im Alter von neunundsechzig Jahren in seinem verwilderten Garten gestorben.

    Er hatte leicht bekifft gegen zehn Uhr morgens, gegen die Januarkälte in einen alten afghanischen Mantel eingepackt, zufrieden eine Katze streichelnd, in dem Garten vor dem alten bunten Bauernhaus, auf einem israelischen Schemel gesessen. In dem Haus, in dem der Alte mit seiner dritten Frau, drei Freunden und einer Freundin lebte, war erst vor einer knappen Stunde wieder Stille eingekehrt. Das Fest, das sie zu dem Geburtstag seines besten Freundes Holger gegeben hatten, war plätschernd in den ersten Morgenstunden zu Ende gegangen. Er saß dort, streichelte versonnen die dicke, schnurrende Katze und blinzelte in den blau herandämmernden Tag.

    Er genoss die Stille.

    Oder die Kühle.

    Wahrscheinlich ein wenig von beidem.

    Gegen Mittag fand ihn sein Freund und Reisegefährte Holger. Der Alte saß da, leicht zur Seite gesunken, die Mundwinkel etwas herabhängend.

    Er sprach ihn an, doch der Alte reagierte nicht. Er atmete auch nicht mehr. Er war gestorben. Die Katze lag immer noch auf seinem Schoß unter seiner linken Hand und schlief wohlig. Zwischen den Spitzen des Zeigefingers und des Mittelfingers der Rechten klemmte noch der bräunliche Rest des Joints. Holger weinte, wie nur Hippies weinen konnten; eine Generation begann zu sterben.

    Lisa hatte nie regelmäßigen Kontakt zu ihrem Großvater gehabt. Ihre Mutter hatte ihren Vater geliebt, sich aber meist mit ihm gestritten. Weshalb sich dies so verhielt, hatte Lisa damals am Gatter der letzten Ruhestätte noch nicht verstanden. Aber sie ahnte damals schon, dass es einen komplizierten, in der Geschichte dieser Menschen verwachsenen Grund dafür gab, weshalb die Gelegenheiten, bei denen Lisa ihren Hippiegroßvater besuchte, sehr unregelmäßig gewesen waren. Dafür waren sie umso freudiger und aufregender in ihrem Gedächtnis geblieben.

    Lisa und ihre Mutter kamen also an diesem Morgen mit dem etwas gealterten Opel zu dem schmiedeeisernen Tor. Der Wind pfiff kalt, um den Friedhof herum lagen nur Felder. Der schützende Waldrand war von der Landwirtschaft als schwarzer Schattenriss an den Horizont gedrängt worden. Lisa hatte ein schwarzes Kleid anziehen müssen, das fürchterlich kratzte und zu allem Übel ihren aufkommenden Busen, den sie nicht mochte, betonte. Ihre Mutter war auch in Schwarz, aufgetakelt, eine Fellboa wärmte ihren Hals und die große Sonnenbrille verdeckte ihre Augen. Sie schämte sich dafür, dass sie um den Alten weinte. Trotzdem traf sie der Tod ihres Vaters hart. Sie standen in einer kleinen Gruppe der älteren Verwandtschaft, alles normale und respektable Leute, die dem Anlass angemessen in Ruhe und gedämpften Begrüßungen der Vollzähligkeit harrten. Lisa hasste es. So war ihr Großvater nicht gewesen. Und sie hasste die aufgesetzte Miene ihrer Mutter, die ihre Tränen unter Beihilfe der Sonnenbrille kaschieren wollte.

    Nun war es so weit, niemand trudelte mehr ein. Ihre Mutter sah sich hektisch um und versuchte mit Hühnerscheuchbewegungen und gedämpftem »So, dann mal auf« die trauernde Gemeinde in den Friedhof zu kolportieren. Die faltige und geschrumpfte Tante Esther sagte: »Nun warte doch. Dein Bruder fehlt noch«.

    Der Blick von Lisas Mutter ließ die Luft noch weiter unter den Nullpunkt sinken.

    Und genau in jenem Moment, als ob es in einem Script geplant worden wäre, wurden Geräusche und eine Melodie von dem Hügel erahnbar, auf dem direkt hinter dem Friedhof die Landstraße in Schlangenlinien verlief. Die Gemeinde sah, schwarz gekleidet und mit geschmacklosen Krawatten bewehrt, kollektiv auf. Als sich bewegende Punkte wurde eine Autokolonne sichtbar, sanft wehten Motorengeräusch und Musik den Hügel herab. Kurz verschwanden die Autos in einer Senke. Dann erschien der Tross wieder, um eine Kurve biegend, die Musik wurde mit jedem Meter, den die neun Autos zurücklegten, lauter. Die Kolonne war aus alten Autos wild zusammengewürfelt, ein Sammelsurium, das mehr der Idee einer Generation, denn der der Fortbewegung entsprungen war; Autos verschiedenster Bauart, bunt bemalt und krachig stinkend, zwei alte VW Busse, ein kleiner Transporter, zur fahrenden Wohnung umgebaut. Die Spitze bildete ein rostroter Kadett, den der Alte mit seinem Freund Holger gefahren hatte. Sie hatten keine Eile, fuhren in langsamer Manier vor dem Friedhof vor.

    So sah Lisa Mika das erste Mal. Der röhrende Kadett hielt direkt vor dem Friedhof; der getragene, alte Song schwoll an, als er die Türe öffnete und hinter ihm die seltsam gealterte Meute aus Weltenbummlern und Überlebenskünstlern den Wagen entstieg. Er war das männliche Ebenbild seiner Schwester: dieselben blauen Augen, die wohl von der Mutter herrührten, die etwas vorwitzige Nase des Vaters und die geschwungenen Augenbrauen. Aber auch ein Spiegel in eine andere Welt: sie hoch und schlank, er klein und untersetzt, er war unrasiert, zerfeiert; unter dem schwarzen Anzug, das schwarze Hemd halb offen, einen langen, schwarzen Seidenschal umgewickelt, eine grau melierte Arbeiterkappe in den Nacken geschoben, unter der die Haare wirr hervorstanden.

    Mika kam auf die Gruppe zu, die sich öffnete und eine Straße zwischen den Geschwistern bildete.

    »Wer ist das?«, fragte Lisa, die ihren Blick nicht abwenden konnte, sich aber trotzdem zu ihrer Mutter beugte.

    Während hinter ihm die Freunde und Weggefährten des Alten mit Instrumenten bestückt aus den Autos stiegen, kam er vor Lisa und ihrer Mutter etwas schwankend zum Stehen. Einige der anderen Gäste wandten sich kopfschüttelnd ab.

    »Ich bin Mika, ich habe dich das letzte Mal gesehen, da warst du noch winzig. Ich bin der Bruder deiner Mutter.« Er lächelte sie an, warm und freundlich. Dann hob er den Blick zu seiner Schwester: »Hallo Miranda, lange nicht gesehen«.

    Lisa sah ihre Mutter an, die sich umdrehte und geradewegs, die feinere Gesellschaft mit sich nehmend, auf den Totengarten zusteuerte.

    »Du bist doch Lisa, nicht wahr?«, fragte Mika verschwörerisch.

    Lisa nickte.

    »Lisa, kommst du jetzt bitte!« Ihre Mutter klang, als ob sie Angst hätte, dass sich ihre Tochter infizieren könnte, als sie gehend nach ihrer Tochter rief.

    Er zog eine kleine Flasche Schnaps aus der Tasche seines Jacketts, nahm einen tiefen Zug und sagte mit einem schiefen Lächeln: »Na dann, lassen wir den alten Wirrkopf mal gehen«.

    Er nahm Lisa bei der Hand und ging mit der sie erfassenden Welle an bereits musizierenden Freunden in Richtung des Friedhofs. Es fühlte sich gut an, ihre Hand in seine zu legen; so stellte sie es sich vor, dass sich ein Vater anfühlen musste.

    Jeder nahm auf seine Weise Abschied. Lisa weinte, Miranda bebte, Mika trank und die Mutter der Geschwister nahm ihren Mann, den sie in Indien kennengelernt hatte, obwohl sie aus der gleichen kleinen Stadt kamen, neben sich zur letzten Ruhe.

    Der kalte Wind verwischte die Musik über die gleichgültigen Felder.

    Ab diesem Moment sahen sich Mika und Lisa regelmäßig. Entgegen dem Willen Mirandas war es eine Entwicklung, die so stetig war, dass sie unabänderlich wurde. Die verzweifelte Mutter versuchte mit allen Mitteln ihre Tochter davon abzuhalten ihren Onkel zu sehen. Verbote und Drohungen, Sanktionen und Appelle an die Vernunft halfen nichts. Sie änderten nichts daran, dass Lisa ihren Onkel verehrte und sich vor allem in dessen Leben, das sich so von dem ihrer Mutter mit dem Alltag, dem gepflegten Beruf und den gemaßregelten Vorstellungen unterschied, Hals über Kopf verliebte. Je älter Lisa wurde, desto weniger nutzte der Widerstand der Mutter.

    Nur zweimal kam es zu direkten Konflikten, in denen Miranda versuchte, Lisa vor ihrem Bruder Mika zu schützen. Die erste Begegnung war eher dem Zufall und der dadurch entstehenden Entschlossenheit denn einem Plan geschuldet. Miranda war an diesem Abend mit einer Kollegin ins Kino gegangen und gegen elf Uhr auf dem Nachhauseweg. Eine Abkürzung nehmend, um die Bahn noch zu erwischen, ging sie an einer lärmenden Kneipe vorbei. Da stand ihr Bruder, das Geschirrtuch lässig am Gürtel, eine Kippe zwischen den Zähnen. Der frohe Lärm aus der Kneipe schluckte seine Worte, die er mit einem Glas in der Hand betonte. Theo stand vor ihm und grinste, während sich Lukas betrunken an seinem älteren Bruder festhielt. Daneben Anna, das dunkelblonde Haare nach oben gesteckt, lächelnd beobachtete sie Mika, wie dieser innehielt, einen letzten Satz sagte und so seine Freunde in prustendes Gelächter versetzte. Während alle lachten, verebbte Mikas Lachen zu einem sanften Lächeln, das er Anna schenkte. Miranda stand auf der gegenüberliegenden Straßenseite und fühlte sich aus etwas ausgesperrt, das sie nicht benennen konnte.

    Kurzentschlossen überquerte sie die leere Straße und steuerte mit hackenden Schritten auf die Gruppe zu. Mika warf gerade die Kippe fort und drehte sich zu Anna. Es war das erste Mal, dass sie sich beide trauten sich so anzusehen. Die Bewegung im Hintergrund zog Mikas Blick aus Annas Augen.

    »Miranda! Was machst du denn hier?«

    »Ich muss dir was sagen.«

    Theo beobachtete die Szenerie stumm, während Lukas sich betrunken gegen die rote Backsteinwand sinken ließ. Wie einem Instinkt folgend, stellte sich Anna näher neben Mika. Die fremde Frau dämpfte den Moment. Selbst der Lärm aus der vollen Kneipe schien sich zurückzunehmen. Mika machte einen Schritt auf Miranda zu, lächelte und breitete die Arme aus.

    »Ja toll, komm doch mit hinein.«

    Er hatte getrunken, Miranda sah das sofort; er hatte den gleichen euphorischen Zug um die Augen wie früher ihr Vater.

    »Nein.« Das Wort hielt ihren Bruder auf Abstand. »Lass Lisa in Ruhe, du verdrehst sie völlig. Das geht so nicht weiter.«

    »Aber Mira.«

    Die Koseform schnitt in Mirandas Gesicht eine Schneise.

    »Nenn mich nicht so.«

    »Ok, gut, ja – Miranda.«

    „Du erinnerst mich an ihn, wie du da stehst, es ist wirklich erbärmlich."

    Theo wollte etwas sagen, aber Mika hob die Hand.

    „Lass uns bitte einfach in Ruhe", setzte Miranda nach.

    Damit drehte sie sich um und ihre Schritte klackten von Laterneninsel zu Laterneninsel durch die Dunkelheit.

    Trunken und leer starrte Mika ihr nach.

    „Wer war das denn?" Anna sah besorgt in Mikas Gesicht.

    „Meine Schwester Mira."

    Das Wort fühlte sich seltsam an in seinem Mund und Mika wusste sofort, dass er das sowohl aus Trotz als auch aus Nostalgie gesagt hatte. Er wusste nicht weshalb, aber bis zu der Krankheit, bis zum Tod ihrer Mutter hatte er seine große Schwester so genannt. Danach war die Koseform verschwunden, als ob sie mitgestorben wäre.

    Als sie Kinder gewesen waren, hatten sie ein wildes und seltsames Leben mit ihrem Vater geführt. Keine Verbote, keine unnötigen Regeln, kein Anschreien, keine Prügel, keine Angst vor der Zukunft oder dem Kontakt mit Mensch, Tier und Dreck. Eine glückliche und verrückte Kindheit ­zwischen Deutschland und Asien, auf Partys und performativen Kunstveranstaltungen. Eine Kindheit, um die sie jeder beneidete, wenn sie zufällig davon erzählten, was Miranda heute nicht mehr tat, und Mika nur, wenn er betrunken war und sich fragte, warum er ein sich aufarbeitender Irrer geworden war, anstatt einfach seinem Vater nacheifernd durch die Welt- und die eigene Geschichte zu treiben.

    Aber es gibt keinen Korpus ohne mindestens zwei Seiten.

    Denn fiel ihre Betrachtung auf die andere Seite dieses prägenden Zeitraums, musste anerkannt werden, dass es keine wirkliche Unterstützung gab. Sicherlich wurde nichts ausgeschlossen, nichts verboten, was die Wünsche oder Träume der Kinder anging, es war alles erlaubt – er hätte den Alten nur damit schockieren können, wäre er zur Bundeswehr gegangen oder hätte bei einer Bank gelernt, da war er sich sicher – aber so war ihm eben auch alles gleichgültig. Es gab keinen Druck. Aber daher auch keine fördernden Regeln oder Antrieb.

    Das warf seine Schwester ihrem Vater immer vor. Mika dagegen hatte es tief in sich vergraben. Ihr Vater verstand nicht, was das Problem war. So schwelte der Konflikt, immer nur in kleinen Scharmützeln ausgetragen, vor sich hin. Eine Welle, die sich aufbaute und ihren Gipfelpunkt erst mit Lisa erreichte.

    „Sag mal, warum hasst dich meine Mutter so?"

    Lisa sah ihn über den Schein zweier Kerzen hinweg an. Sie war nachts von daheim weggelaufen, zum Zug, und kurzerhand zu Mika gefahren und hatte ihn schlicht mit „Darf ich bei dir schlafen?" begrüßt. Jetzt saßen sie auf seinem kleinen, überwucherten Balkon und tranken Wein. Sie war sechzehn und hatte mittlerweile schon eine beachtliche Sammlung an Gutscheinen in einem alten Jutebeutel gehortet. Jedes kleine Blatt, jeder Gutschein, handbeschrieben, war Lisa mehr wert als alles andere. Zusammengenommen waren sie das Versprechen, dass etwas von Bestand und Verbindlichkeit existieren musste. Ein Hort, den sie immer, egal wo sie hinging, mit sich herumschleppte, baumelnd über die Schulter gehängt.

    „Miranda hasst mich doch nicht. Sie ist wütend auf deinen Großvater. Oder sie war es, jetzt ist der alte Wirrkopf ja nicht mehr. Und sie hat es immer als unfair empfunden, dass ich gemacht habe, was ich wollte."

    „Das hätte sie ja auch tun können."

    Er schwenkte den Wein in dem kleinen Wasserglas ein wenig hin und her und atmete dann tief durch.

    „Hat sie dir mal was von deinem Vater erzählt?"

    „Nein, ist verboten", sagte Lisa achselzuckend.

    Er wollte das respektieren. Mika goss sich Wein nach.

    „Verstehe."

    Aber er fand es unrespektabel. Mika nahm einen Schluck.

    „Na ja, dein Vater war ein echter Spießer, ein Idiot, ein Macho, ein Schwein, ein echtes Arschloch, der sie aufriss mit einem schicken Auto und der Kohle, die er schon verdient hatte. Da war deine Mutter etwas älter, als du es jetzt bist. Unser Vater mochte ihn nicht besonders, aber wie immer sah er in allem, was seine Kinder getan haben, das Richtige. Und dann bist du ins Spiel gekommen. Deine Mama war schwanger und hat irgendwie gespürt, dass es jetzt heikel wird. Die Schule noch nicht fertig und dieser Typ, dein Vater, dazu, der eigentlich gar kein Kind wollte. Sie hoffte, dass unser Vater eingreifen würde. Einmal auf den Tisch hauen würde. Ich glaube, sie wusste nicht wirklich wie; also was er genau hätte tun sollen, was sie von ihm erwartete. Aber etwas musste er tun. Aber unser Vater tat nichts, das war so. Schon immer. Kurz vor deiner Geburt ist dann dein Vater abgehauen. Über Nacht, er war einfach weg. Hat die Stadt gewechselt. Den Job. Und weil er nicht da war, hat sie eben unserem Vater die Schuld gegeben. Nicht ganz unberechtigt, aber heftig und unerbittlich. Oft schrie sie ihn an, dass es noch besser wäre, wenn Mama noch leben würde. Sie dachte das. Vielleicht stimmte es auch. Ein bisschen sicherlich."

    „Warum?"

    „Dein Großvater… Er war ein Trinker, ein Kiffer, ein Blatt im Wind. Er konnte wunderbar sein, aber er verzweifelte schnell an allem. Er konnte viel, aber nicht die Verantwortung für zwei Leben übernehmen. Miranda hat ihn für alles verantwortlich gemacht, was in ihrem Leben falsch gelaufen ist."

    Lisa sah ihren Onkel mit großen Augen an.

    „Was hat das mit dir zu tun?"

    „Ich weiß nicht. Mika trank aus. „Ich glaube, ich bin ein rotes Tuch für sie. Sie hat keinen ihrer Träume verwirklichen können.

    „Aber du hast."

    Er lachte und das Lachen warf sich von den Häusern in die Straßen hinunter.

    „Na, wenn du meinst, dass ein paar Kurzfilme und nebenher in der Gastro jobben die Erfüllung meiner Träume sind – dann kennst du mich aber schlecht."

    „Aber du hast dir den Weg doch ausgesucht."

    Sie sah ihn an. Voller Bewunderung für den erfolglosen Menschen, der trotzdem immer wieder beharrlich und ohne zu zögern alles auf eine Karte setzte, um kleine Projekte voranzubringen. Ohne es zu wollen, sonnte er sich darin, auch wenn der Grund, weshalb er Lisa mochte, nicht in dieser Egopolitur lag.

    „Ja, da hast du recht."

    Lisa schwieg eine Weile und sah über die Dächer der etwas niedrigeren Häuser hinweg auf den Sternenhimmel. Dann sagte sie langsam, als ob sie vorsichtig eine schon lange ins Auge gefasste und nun endlich reife Frucht pflücken würde:

    „Mama ist immer da, sie will immer etwas von mir, sie sagt, ich soll dieses tun und soundso gut sein in der Schule und das lernen, damit ich was Anständiges habe." Sie rang mit den Worten; spürte, dass sie nicht genau erklären können würde, worum es ging. Es nicht schaffen würde, die Zusammenhänge ihrer und der Biografie Mirandas, all die dadurch entstehenden Verknüpfungen auf den Punkt zu bringen, sodass sie wieder auf die jetzt vorhandenen Umstände verwiesen.

    „Als ich Alex mit heimgebracht habe, hat sie ihn ausgefragt, als ob es darum gehen würde zu testen, ob er gut genug für mich ist. Sie ist immer da, wie etwas Leitendes und Beschützendes… Und dabei ist nie wichtig, wie es mir gerade geht, oder was ich tun will – sie ist immer da… Und trotzdem bin ich immer alleine."

    Mika sah sie ernst an und nickte. Es war, als ob seine Schwester eine verdrehte Fassung ihrer eigenen Erziehung neu inszenieren würde. Es schauderte ihn. Er fragte sich, wie seine Inszenierung von außen wohl aussehen mochte.

    „Ich lass dich nicht alleine. Versprochen."

    Der etwas pathetische Moment, durch den Wein, die sternenklare Nacht und den Kerzenschein verstärkt, floss warm zwischen Onkel und Nichte, die wie Bruder und Schwester waren, und steigerte sich zu dem Gefühl, sogar wie Vater und Tochter zu sein.

    Lisa und Mika saßen wie auf einem Raumschiff in einem Mikrokosmos auf dem Balkon und umkreisten ihre Welt.

    Als Lisa am nächsten Morgen auf dem kleinen Sofa ein wenig verdreht erwachte, hatte Mika das Haus bereits verlassen. Er musste zu einem Treffen in dem Biergarten drei Straßen entfernt. Dort versammelten sich die kleinen Filmemacher, die Beleuchter und Kamerairren, die Möchtegernautoren und Traumregisseure der kleinen Stadt, um zu beraten, was mit den Gerüchten anzufangen sei, dass im nächsten oder übernächsten Jahr hier ein Film gedreht werden solle. Die Gerüchteküche flüsterte seit Monaten von einer großen Produktion. Keines der kleinen Start-up-Projekte, keine Hinterhofproduktion, sondern ein Hauch dessen, dem alle hinterherträumten, hinterherrannten. Sie wurden sich in dem Moment da es dieses Gerücht gab bewusst, dass sie nun nach jahrelanger, gegenseitiger Unterstützung und Zusammenarbeit plötzlich und unweigerlich zu Konkurrenten werden würden. Die Entschlossenheit, zu handeln, war da. Während sich Lisa Kaffee mit dem alten, verdreckten Herdkocher in seiner mit Büchern vollgestopften Wohnung aufsetzte, saß er im Biergarten an einer klebrig-orangen Bierbank und hörte sich an, wie alle Pläne schmiedeten. Um dabei zu sein. Um ein Stück vom möglicherweise hier gebackenen Kuchen abzubekommen. Über eine Stunde hinweg wurden unausgegorene Pläne diskutiert und sich immer weiter in Phantasien hineingesteigert, die dazu dienen sollten, Teil dieser Produktion zu werden. Dann trank Mika sein Bier aus und meldete sich wartend. Als Ruhe am Tisch eingetreten war, sagte er:

    „Ich weiß ja nicht genau, auf welchem Planeten ihr so lebt, aber ich denke, dass ihr alle eure Pläne hier in Schnaps einlegen könnt, bis ihr sie morgen vergessen habt. Alle Augen waren düster auf ihn gerichtet. „Ich sage euch jetzt mal, wie das laufen wird. Die werden sich die Stadt hier vorher ansehen; noch bevor klar ist, wer tatsächlich Regie führen wird. Die Produktion wird sich hier umsehen. Sich erkundigen. Und was wird sie hier finden?

    Er sah in die hoffnungslos hoffenden Gesichter seiner Kollegen.

    „Na uns!", platzte Theo heraus. Lena strich sich lächelnd die blauen Haare nach hinten. Milan versuchte, mit den Händen die Kellnerin an den Tisch zu locken, ohne den Monolog zu stören.

    „Falsch." Alle sahen Mika an. Susi wollte einhaken, ihre wirren Pläne, in denen sie den Produzenten beschatten wollte, verteidigen, aber Mika war schneller.

    „Sie werden gar nichts finden, überhaupt nichts. Kein Studio, keinen Equipmentverleih, keine Filmtruckvermietung, keinen Cateringservice, keine Komparsenfirma, keine Locationscouts, keine Prestigeprojekte – nichts. Und dann, vielleicht dann, finden sie uns: einen Haufen von unorganisierten Indies, die nichts als kleine Projekte vorzuweisen haben und halb am Absaufen sind. Und deshalb werden sie alles mitbringen. Vom ersten Regieassistenten bis zum letzten Schraubendreher. Das Einzige, was sie lokal rausgeben werden, sind Runnerjobs – als Praktikum für die ganz verzweifelt Hoffnungsvollen. Und wisst ihr, was passieren wird, wenn sie fertig sind mit den Dreharbeiten?"

    Die Stille seiner Freunde und Kollegen war bedrückend, er war sich nicht sicher, ob sie ihn nicht hier, am Baum unter dem sie saßen, aufknüpfen würden.

    „Genau – gar nichts. Sie packen zusammen und sind wieder weg. In der Heimat werden sie dann erzählen, dass es da eine kleine Möchtegerngroßstadt gibt, die noch total unverbraucht ist; neue Motive, Stadtverwalter, die noch nicht die Augen verdrehen, wenn die das Wort „Filmproduktion hören, Studenten und Indies, die bereit sind, sich einen Arm abzuhacken, um dabei zu sein. Und sie werden die Geschichte vom heiligen Drehortmekka verbreiten und dann werden vielleicht neue Filme hier produziert werden. Und die werden es genauso machen und alles und alle mitbringen. Und wenn jemand jetzt irgendwas gründet, säuft das einfach ab. Weil hier nicht oft genug gedreht werden wird. Weil wir einfach zu nah an der eigentlichen Industrie dran sind. Wir können hier nichts Eigenes aufbauen. Keiner braucht das ganze Getöse zweimal innerhalb von hundert­dreißig Kilometern.

    Die Worte schmerzten ihn selbst. Es waren Gedanken, die er sich nur heimlich dachte. Sie auszusprechen, machte sie realer, als ihm lieb sein konnte.

    Es war still am Tisch; einige sahen verlegen in ihre Gläser, andere schüttelten den Kopf. Der Einzige, der zustimmend nickte, war Schmidt. Die Stimmung stand im Missverhältnis zum strahlenden Tag. Trotz des Kopfschüttelns war allen klar, dass Mika recht hatte. Er war immer ihr Anführer gewesen. Der Typ, der aus dem Nichts etwas erschaffen konnte. Aber gerade jetzt hätte er sie doch dorthin, auf die Höhen des Olymps führen können.

    „Mann Mika, sieh das doch mal positiv!" Susi hatte ihre Chance ergriffen. Alle wandten sich ihr zu. Die Diskussion startete wieder am Anfang.

    Schmidt warf Mika unter seinen tiefen Brauen einen Blick zu. Und Mika hielt sich heraus.

    Unterdessen war der Kaffee brodelnd fertig und von Lisa mit einem Schluck Milch versehen worden. Die Tasse mit beiden Händen umschließend, hatte sie sich an den Küchentisch gesetzt. Sie nahm

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