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Dieses altmodische Gefühl
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eBook336 Seiten4 Stunden

Dieses altmodische Gefühl

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Dieses altmodische Gefühl


Eine ganz und gar ungewöhnliche Liebesgeschichte, deren halsbrecherischer Charme Sie begeistern wird!

Ein Mann und eine Frau. Sie: Pernilla Brigido, einst gefeierte Theaterschauspielerin, nun mit knapp siebzig eine bezaubernd elegante, lebenslustige Dame der Wiener Gesellschaft. Er: Ildefons Krehmayr, genannt Illo, zwanzig Jahre jünger, gutsituierter Baumeister und geschiedener Vater einer pubertierenden Tochter, bislang gemäßigt in seinen Leidenschaften und Ambitionen. Ein Zufall führt sie zusammen, und es beginnt eine hinreißend unmögliche Liebesgeschichte, durch die Pernilla und Illo sich mit der Grazie geübter Tänzer bewegen, bis einer einen falschen Schritt tut und eine Grenze übertreten wird. Doch als der Vorhang sich wieder hebt, sind die beiden Liebenden gegen jede Vernunft schon zu einer sommerlichen Überlandfahrt aufgebrochen…
SpracheDeutsch
HerausgeberResidenz Verlag
Erscheinungsdatum30. Aug. 2016
ISBN9783701745357
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    Buchvorschau

    Dieses altmodische Gefühl - Bruno Pellandini

    Bruno Pellandini

    Dieses

    altmodische

    Gefühl

    Roman

    Residenz Verlag

    Die Arbeit des Autors an diesem Buch wurde durch die Schweizer

    Kulturstiftung Pro Helvetia und UBS Kulturstiftung gefördert.

    Ein herzlicher Dank des Autors ergeht an Corinne und Arturo

    Cuéllar-Nathan, Bernhard Fetz, Michael Horsky, Otto Jankovich, Lindi

    Kálnoky, Johanna Orsini-Rosenberg, Yvonne und Giacomo Pellandini-

    Girard, Gisela Stiegler.

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

    Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

    über http://dnb.dnb.de abrufbar.

    www.residenzverlag.at

    © 2016 Residenz Verlag GmbH

    Salzburg – Wien

    Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.

    Keine unerlaubte Vervielfältigung!

    Umschlaggestaltung: Christina Brandauer

    ISBN ePub:

    978-3-7017-4535-7

    ISBN Printausgabe:

    978 3 7017 1669 2

    Für Corinne und Arturo

    Die Eroberung des Überflusses bietet einen größeren Reiz als die Erfüllung des Notwendigen; der Mensch ist ein Geschöpf des Begehrens, nicht des Bedürfnisses.

    Gaston Bachelard

    Wir treten stets als Neulinge in die verschiedenen Lebensalter ein, und oft fehlt es uns an Erfahrung, trotz der Jahre.

    La Rochefoucauld

    I.

    Im Wendekreis der Zuckerbäcker

    1

    Das Blendwerk des Sommers war erloschen. Die Luft roch nach feuchtem Laub, und am Himmel hing eine Sonne, die zu straucheln schien. Es sah nicht aus, als hätte sie noch die Kraft, die Nebelschleier zu vertreiben, die wie verschreckte Nachtgespenster in den Weinbergen hockten. Ich mochte den Herbst. Der Herbst ist eine gütige Jahreszeit, er schenkt uns die Ernte, für sich selbst will er nichts.

    Der Taxifahrer klagte über den Verkehr. Es sollte wohl eine Entschuldigung sein, weil er mich so lange hatte warten lassen. Den Hügel hinab ging es flott dahin, auf der Donaulände zeigte sich aber, dass er nicht gelogen hatte, mit einem Mal waren alle Spuren dicht, und wir steckten im Stau. Ich hatte keine Eile, ich wollte im Stolpitzky frühstücken, dann kurz ins Büro, bevor ich das Auto aus der Werkstatt holte, mehr hatte ich nicht vor. Nun sagte ich mir, ich wäre vielleicht besser zu Hause geblieben. An einem Tag wie diesem sollte man Obst aus taunassen Wiesen klauben, Brennholz stapeln oder sonst eine dieser altmodischen Tätigkeiten verrichten, die man sich als beglückend vorstellt. Da es weiterhin nur im Schritttempo vorwärtsging, stieg ich bei der Friedensbrücke aus. Ich benutzte die U-Bahn selten, weil sie kaum je dorthin fuhr, wo ich hinmusste und mir das Umsteigen zu umständlich war. Von hier zum Schwedenplatz waren es aber nur zwei Stationen mit derselben Linie. Als der Zug einfuhr, wirkten die Waggons hoffnungslos überfüllt. Auf wunderbare Weise fand ich trotzdem einen freien Sitzplatz. Im Hinsetzen spürte ich den Blick einer Frau, sie saß einige Plätze entfernt, eine aparte Dame unbestimmten Alters, vielleicht sechzig, vielleicht siebzig, eine Bekannte, dachte ich und nickte ihr zu, während ich gleichzeitig überlegte, wer sie sei. Aber sie blickte mich gar nicht an, sie hatte nur eben in meine Richtung gesehen und lächelte gedankenverloren vor sich hin. Ihr Ausdruck faszinierte mich. Sie schien an etwas zu denken, das ihr teuer war, vielleicht an jemanden, den sie liebte oder einmal geliebt hatte. Das Glück, das sie dabei empfand, lag strahlend auf ihrem Gesicht, was ihr eine große Schönheit verlieh. Ich bemühte mich, die Frau nicht geradewegs anzustarren, doch ihr Gesichtsausdruck nahm mich so gefangen, dass es mir schwerfiel, den Blick von ihr zu lösen. Dabei hatte sie sonst nichts Auffallendes an sich, zumindest nichts, was im gewöhnlichen Sinn nach Aufmerksamkeit geheischt hätte. Ihre Kleidung war schlicht, das Haar natürlich, und ihre Haltung war von einer solchen Zurückgenommenheit, dass es beinahe aussah, als wollte sie sich unsichtbar machen; was die Eleganz ihrer Erscheinung aber nur umso stärker zur Geltung brachte.

    Inzwischen war der Zug in die Station eingefahren, ich bemerkte es beinahe zu spät und schaffte es gerade noch durch die Türen. Ich ließ mich von der Rolltreppe nach oben tragen, und ins Freie tretend, sah ich, dass ich eine Station zu früh ausgestiegen war. Von hier war es nun näher ins Büro als ins Kaffeehaus. Dann würde ich eben später frühstücken.

    Die Bürotür war verschlossen, ich dachte zuerst an ein Versehen, aber es war tatsächlich niemand da. Freitags arbeiteten die Zeichner nicht, Frau Poschenreiter hätte jedoch hier sein müssen. Besorgt wählte ich ihre Nummer. Ohne Zweifel war ihr etwas zugestoßen, in all den Jahren hatte sie nicht einen einzigen Tag gefehlt. Sie liege mit einem Schnupfen im Bett und werde am Montag, spätestens am Dienstag wiederkommen, sagte sie. Ich fand es ungeheuerlich, dass sie mich wegen einer solchen Kleinigkeit hängen ließ, noch dazu, ohne mir Bescheid zu geben.

    Ihre Abwesenheit löste augenblicklich ein Gefühl des Stillstands in mir aus. Ich fand es gespenstisch, in dem verwaisten Büro zu sitzen, das nun wie eine Kulisse anmutete, in der wir den Schein einer Firma aufrechtgehalten hatten, die es in Wahrheit gar nicht gab.

    Dass Gonzo dann meinen Anruf unbeantwortet ließ, war zwar nicht ungewöhnlich, trug aber nicht gerade zu meiner Beruhigung bei. Ich sagte mir, dass er mich bestimmt gleich zurückrufen würde. Solange wollte ich hier warten. Bevor ich das Büro verließ, musste ich Gewissheit haben, dass dieser Schnupfen nicht auch die Arbeiten auf den Baustellen zum Erliegen gebracht hatte. Um wenigstens den Anschein von Geschäftigkeit zu erwecken, schaltete ich die Kaffeemaschine an, eine aberwitzig kostspielige Espressomaschine, die ich kürzlich aus einer Laune heraus gekauft hatte. Nachdem sich die Mitarbeiter bereits mit ihr vertraut gemacht hatten, wollte ich sie nun selbst auch ausprobieren. Ich füllte Wasser in den Tank und stellte eine Tasse an die dafür vorgesehene Stelle. Wenn das Wasser heiß genug wäre, würde das rote Licht ausgehen. Inzwischen gefiel es mir, die Maschine zu betrachten. Sie machte Eindruck, fand ich. Auf dem polierten Edelstahlgehäuse war ein kleines Schild angebracht, auf dem in eleganter Schrift das Wort automatic eingraviert war. Das sah sehr hübsch aus. Endlich ging das Licht aus, ich drückte den Knopf. In der Tasse sammelte sich eine kleine Menge trübes Wasser. Offenbar war noch nicht ausreichend Druck vorhanden gewesen. Ich wartete eine Minute und versuchte es nochmals. Das Ergebnis war dasselbe. Ich wollte gerade einen dritten Anlauf nehmen, da rief Gonzo endlich an.

    Schlechte Nachrichten, Chef. Probleme in der Praterstraße.

    Diese Baustelle beschäftigte uns schon einige Zeit. Es war ein größerer Auftrag, in einem geräumigen Lokal, das bisher als Lagerraum genutzt worden war, sollte ein Gasthaus eingerichtet werden, dazu mussten die Räumlichkeiten im Grunde neu aufgebaut werden. Ich wusste, dass heute der Estrich gegossen werden sollte. Dies müsse nun leider verschoben werden, sagte Gonzo, der Installateur habe das Material für die Bodenheizung falsch berechnet. Er klang sehr zerknirscht, kein Wunder, waren wir mit der Arbeit ohnedies schon in Verzug. Als ich ihn aufmuntern wollte, gestand er mir, dass ihm die Schlamperei des Installateurs schon gestern bekannt gewesen sei, nur habe er es verabsäumt, die bestellte Lieferung von gut zwei Dutzend Kubikmeter Flüssigbeton zu stornieren. Das war in der Tat eine kostspielige Sache, Freitagmittag eine Lieferung zu retournieren war natürlich unmöglich. Um seinen Fehler wiedergutzumachen, schlug er vor, das Material für den Dachbodenausbau in der Salesianergasse zu verwenden, einer Baustelle, bei der gleichfalls der Estrich gegossen werden sollte. Er wollte meine Erlaubnis haben, seine Leute dorthin zu verlegen, um die notwendigen Vorbereitungen zu treffen.

    »Kommen S’, Chef, die Männer stehen bereit. Sie ersparen sich eine Menge Geld, und Zeit gewinnen wir auch!«

    Ich hatte kein gutes Gefühl dabei, in der Eile konnte leicht etwas schiefgehen. Andererseits imponierte mir Gonzos Beherztheit, nach einigem Zögern gab ich nach. Kaum hatte ich aufgelegt, kehrten die Zweifel wieder. Der Plan war kühn, und ich wusste, Gonzo neigte dazu, übers Ziel hinauszuschießen. Es schlummerte jener furiose Übereifer in ihm, der auch den bravsten Familienvater auf Strandurlaub befällt, wenn er, der tagelangen Untätigkeit überdrüssig, von plötzlichem Ehrgeiz gepackt wird und dem spielenden Kind den Spaten aus der Hand reißt, um rings um die hübsche Sandburg einen hüfttiefen Graben auszuschanzen. Ich beschloss, das Auto aus der Werkstatt zu holen und dann unverzüglich in die Salesianergasse zu fahren, um mir die Sache selbst anzusehen.

    Bei meiner Ankunft fand ich die Gasse gesperrt, den Verkehr umgeleitet. Ich parkte den Wagen in der nächsten Straße und kehrte zu Fuß zurück. In der schmalen Gasse wirkten die beiden Betonmischfahrzeuge riesenhaft groß. Sie standen da wie nervös scharrende Schlachtrösser, während auf ihren Rücken geräuschvoll die Trommeln kreisten. In das Dröhnen der Motoren mischte sich das vielstimmige Klirren vibrierender Fensterscheiben. Es war, als erzitterten die umliegenden Häuser in angstvoller Erwartung.

    Auf dem Dachboden ging indessen alles in der gewohnten Ruhe vonstatten. Reibungslos griffen die tausendfach eingeübten Bewegungsabläufe ineinander. Die Männer arbeiteten schweigend, während Gonzo umherging und ihnen Anweisungen gab. Nun zweifelte ich nicht mehr, dass ihm das Husarenstück gelingen würde, und ich musste lachen, als er dann mit der Miene eines Feldherrn, der seiner Artillerie den Befehl gibt, eine erste Salve auf die feindlichen Truppen zu feuern, den Fahrer eines LKWs über Funk anwies, seine Ladung durchzupumpen. Schon gurgelte es in der Tiefe des Schlundes, Sekunden später erbrach das Schlauchende den flüssigen Beton auf den Dachboden. Die Arbeiter verteilten ihn flott mit den Schiebern. Es folgte der zweite Schub, alles lief wie am Schnürchen. Als vielleicht noch ein halber Zentimeter fehlte, um das gewünschte Niveau zu erreichen, wunderte ich mich plötzlich, wie es denn sein konnte, dass die hier benötigte Menge aufs Genaueste jener von der Praterstraße entsprechen sollte. Als ich Gonzo darauf hinwies, riss er entsetzt die Augen auf. »Stopp!«, brüllte er ins Funkgerät. »Sofort aufhören!« Als hätte das Kommando ihnen gegolten, ließen die Arbeiter auf der Stelle die Schieber fallen, sie sprangen auf die Dachbalken und klammerten sich an die Streben. Alle verharrten nun regungslos und starrten mit bangem Blick auf den Boden. Nichts geschah. Gonzo pfiff durch die Zähne. Wir sahen uns erleichtert an. »Gerade noch mal Glück gehabt«, grinste er. Da krachte und donnerte es plötzlich, der Boden erzitterte und federte dann einige Male kräftig auf und nieder.

    Uns war sofort klar, was passiert war. Der flüssige Beton musste durch eine nicht ausreichend abgedichtete Stelle in die Zwischendecke gesickert sein, während die Pumpe weiterarbeitete und immer mehr Material durch den Schlauch presste. Damit hatte der Druck auf den Plafond der darunterliegenden Wohnung stetig zugenommen, bis die Gipsdecke durch das Gewicht zum Einsturz gekommen war. Ein Albtraum, vielleicht war sogar jemand verschüttet worden. Es war keine Zeit zu verlieren. Gonzo rief die Feuerwehr, ich eilte ins dritte Stockwerk hinunter.

    Von den beiden Wohnungen, die sich auf der Etage befanden, konnte nur die linke betroffen sein. Ich wunderte mich noch über den Namen auf dem Türschild, der früher einmal geläufig gewesen war, eine bekannte Schauspielerin hatte so geheißen, dann drückte ich die Klingel und hämmerte gleichzeitig mit der Faust gegen die Türe. Horchte. Nichts. Offensichtlich war niemand in der Wohnung, was für ein Glück. Andererseits, sagte ich mir, wenn jemand verschüttet war, wie könnte er mir dann die Türe öffnen? Während ich noch überlegte, ob ich das Eintreffen der Feuerwehr abwarten oder besser versuchen sollte, die Türe selbst aufzubrechen, vernahm ich plötzlich ein Geräusch. Kein Zweifel, jemand hantierte am Schloss.

    Ich hatte allenfalls damit gerechnet, die Tochter oder den Sohn der vormaligen Berühmtheit anzutreffen, und verstand erst gar nicht, was die Unbekannte aus der U-Bahn in der Wohnung der Schauspielerin suchte.

    Ich hatte das plötzliche Bedürfnis, mit dem Finger in der Nase zu bohren und kramte mein Taschentuch hervor, um mich zu schnäuzen. Pernilla Brigido hatte noch nicht jenes Alter erreicht, das umsichtige Kulturredakteure dazu verleitet, einen Nachruf in Auftrag zu geben, doch war es seit Jahren so still um sie geworden, dass ich bis eben nicht zu sagen gewusst hätte, ob sie überhaupt noch am Leben war. Nun, sie war. Aber was tat sie denn! Setzte sich am Ende des Flurs auf einen Hocker, schlug unbekümmert die Beine übereinander und führte das Gespräch mit ihrer Freundin fort. Sie hielt sich im Durchgang einer Flügeltüre auf, deren tiefe Laibung deutete auf eine Kaminmauer hin, trotzdem gefiel es mir nicht, sie dort sitzen zu sehen, und ich suchte unwillkürlich die Kehlung des Plafonds nach Rissen ab. Es war nichts Verdächtiges festzustellen.

    Der lang gestreckte Korridor wirkte auf den ersten Blick wie das klassische Entree einer bürgerlichen Wiener Wohnung. Eine marmorne, auf schwarz lackierten Beinen ruhende Konsole, über der ein mit Appliken verzierter Wandspiegel hing, dominierte die rechte Seite des Vorzimmers. Hier wirkte alles sehr aufgeräumt und ordentlich, während die andere Seite in einem heillosen Durcheinander versank. Aus einem Kasten, dessen Türen sich offenbar nicht mehr zudrücken ließen, quollen die Kleidungsstücke förmlich heraus. Daneben standen zwei kurzbeinige Fauteuils, über und über mit Mänteln, Shawls und Hüten bedeckt, sodass ich zunächst glaubte, es säßen hier zwei Menschen ins Gespräch vertieft. Frei geblieben war einzig der Zugang zu zwei Tapetentüren, hinter der einen vermutete ich eine Abstellkammer, während die andere zur Toilette führen mochte. Der Durchgang, in dem die Brigido sich aufhielt, schloss den Korridor zur Wohnung hin ab. Sie saß auf einem würfelförmigen Hocker, einem Designerstück aus den späten Sechziger- oder frühen Siebzigerjahren. Auf einem schlanken Tischchen, das von einer Schwanenhalslampe beleuchtet war, stand eines jener Geräte, mit denen man sowohl telefonieren wie auch Faxe verschicken konnte.

    Endlich beendete die Brigido ihr Gespräch. Sie erhob sich, doch statt zu mir zu kommen, wie ich es erwartet hatte, wandte sie sich ab und ging nach hinten.

    »Warten Sie!«, rief ich ihr zu.

    Sie blieb stehen. »Kommen Sie nur«, sagte sie ruhig. »Suchen wir das Malheur.« Drehte sich wieder um und ging lachend weiter.

    Ich hätte gerne mitgelacht und wünschte mir, dass meine Befürchtungen sich zerschlagen würden, obwohl ich vom Gegenteil überzeugt war. Die Brigido ging mit raschen Schritten voran. Sie war kleiner, als ich sie mir vorgestellt hatte, und wirkte fast ein wenig mädchenhaft, was an ihrer ungewöhnlich schmalen Taille liegen mochte, die durch einen Gürtel noch betont wurde. Während sie sich geschickt zwischen den Möbeln hindurchschlängelte, musste ich sehr darauf achten, in der vollgeräumten Wohnung nirgends anzustoßen. Wir querten einen Salon und dann einen kleineren, augenscheinlich bloß zum Fernsehen genutzten Raum und gelangten so in den hofseitigen Teil der Wohnung. Die Brigido öffnete die Türe zu einem Kabinett, nichts, jene zum Schlafzimmer, nichts. Als sie die dritte Türe öffnete, wich sie erschrocken zurück. Es war das Arbeitszimmer ihres Mannes. Oder was davon übrig geblieben war. Der Anblick war von einer gespenstischen Komik. Ich hatte das operettenhafte Zitat eines Studierzimmers des ausgehenden 19. Jahrhunderts vor mir. Wohin man blickte, gedrechselte Regale, Vitrinen, Beistelltischchen, Zettelkästen, Teppiche und Troddeln. Vom Boden bis zur Decke waren die Wände mit Büchern, Mappen und Ordnern vollgestopft, und an den wenigen Stellen, wo keine Regale waren, hingen Urkunden und Fotografien. In der Mitte des Raumes bot ein mächtiger Schreibtisch aus Nussholz einen äußerst jämmerlichen Anblick. Ein breitarmiger Lüster war von der Decke gekracht und hockte wie eine Krake mit merkwürdig verdrehten Tentakeln auf der Tischplatte. Nun war der altdeutsche Möbelstil niemals Ausdruck großer Lebensfreude gewesen, trauriger als hier aber hatte er sich niemals präsentiert. Da lag die ganze Humorlosigkeit unter nassen Betonschlieren begraben, bedeckt von Gips und dem Lattenwerk des eingestürzten Plafonds, dazwischen lugten augenzwinkernd die Stängel des Verputzschilfs hervor. Das Ausmaß der Verwüstung war unbeschreiblich, und ich war bestürzt über die rohe Gewalt, mit der dieser aus der Zeit gefallene Raum im Handumdrehen vernichtet worden war. Ich empfand Mitleid mit ihm.

    Die Brigido, reglos auf das Desaster starrend, zuckte zusammen, als sich in den Trümmern plötzlich etwas rührte. Eine Katze. Sie kroch hervor und schüttelte ihr vom Gips weiß gepunktetes Fell wie ein Hund, der aus dem Wasser kommt. Es staubte beträchtlich. Die Katze schien unversehrt, wirkte allerdings etwas benommen, als sie an uns vorbeitatzte, um sich im Flur auf den Läufer zu legen, wo sie ihr Fell zu lecken begann.

    Sein Fell, es war ein Kater.

    »Capriccio. Jetzt hat er sechs seiner Leben verwirkt«, sagte die Brigido.

    Es tut mir sehr leid, sagte ich. Der Satz kam mir etwas seltsam über die Lippen, es klang ein wenig, als wollte ich ihr mein Beileid zum Tod ihres Mannes aussprechen, ein Eindruck, der sich durch die Art, wie sie darauf reagierte, mit einer stummen Bewegung der Lippen, noch verstärkte. Wir sahen einander betreten an.

    Aus dem Vorzimmer war lautes Getrappel zu vernehmen. Die Feuerwehr.

    »Tag, die Herrschaften!«, rief uns der Kommandant entgegen und zog tatsächlich seinen Helm zum Gruß. Dann tat er einen Schritt zur Seite, um seine Mannen vorzulassen, als folgte nun der feierliche Einzug einer Ehrenkompanie. Tatsächlich hatte der Auftritt der uniformierten Feuerwehrleute in den eleganten Räumlichkeiten etwas Irreales, beinah Närrisches, und erinnerte ein wenig an die Mitternachtseinlage auf einem Faschingsball.

    Ich erklärte dem Kommandanten in aller Kürze, was vorgefallen war. Der alte Haudegen zeigte sich wenig beeindruckt und schickte nur seinen Adjutanten los, einen Blick in den Dachstuhl zu werfen. Er teilte meine Einschätzung, dass für den Moment keine weitere Gefahr bestand.

    »Das ist Ihnen ja nicht das erste Mal passiert, nehme ich an.« Er zwinkerte mir zu.

    Ich hatte große Lust, ihm diese Unverschämtheit zu erwidem, riss mich aber zusammen und parierte mit einem Scherz, worauf die versammelte Mannschaft wieder abmarschierte.

    »Ich darf doch annehmen, dass Sie das rasch wieder in Ordnung bringen?«, fragte die Brigido.

    »Aber ja«, entgegnete ich, »das geht ruckzuck.«

    Ihr musste doch klar sein, dass es hier nicht darum ging, die verschüttete Erde eines umgekippten Blumentopfes wegzukehren. Jedenfalls musste der feuchte Beton sofort, noch bevor er eintrocknete, von allen Gegenständen abgerieben werden. Gonzo kam mit den Arbeitern, sie brachten Schieber, Schaufeln, Eimer, Besen und Bürsten. Einen weiteren hatte er losgeschickt, Putzfetzen zu besorgen. Dann ließ er die Zimmertüre abdichten, damit der Schmutz sich nicht in der ganzen Wohnung verteilte. Endlich begannen die Arbeiter, den Dreck zusammenzukehren und die mit Flüssigbeton bespritzten Möbel mit Lappen, alten Zeitungen und Bürsten abzureiben. Mein Eindruck war, dass sie sich dabei mit Absicht sehr linkisch anstellten, als wollten sie uns zu verstehen geben, dass es ein Ding der Unmöglichkeit sei, auch noch jedes Buch und jede Troddel zu säubern, während sie andererseits so taten, als hätten sie genau dies im Sinn, indem sie den Möbeln mit einer lächerlichen Hingabe zu Leibe rückten.

    Die Brigido kam, um zu sehen, wie die Sache sich anließ. Kein Zweifel, sie war die Frau aus der U-Bahn, auch wenn ich jetzt nichts von jener Zurückgenommenheit erkannte, die ich an ihr wahrgenommen hatte. Ein Mensch, der allen Tand und alle Eitelkeit abgelegt und sich auf sein eigentliches Wesen zurückgezogen hatte, so war sie mir vorgekommen. Jetzt irritierte mich ihre starke physische Gegenwart. Ihr Körper strahlte Kraft aus, er schien von so viel Persönlichkeit ausgefüllt, dass er überzulaufen drohte. Als wäre dieser Leib eine zu kleine Hülle für den Menschen, der in ihm steckte.

    Ich sagte ihr, wie ich die Sache einschätzte, dass die Erneuerung der Decke und das Ausmalen der Wände nur ein paar Tage dauern würden, davor müsse aber das Zimmer ausgeräumt und gereinigt werden, was einige Zeit beanspruchen werde. Sie entgegnete nichts. Ich war mir nicht sicher, ob sie überhaupt zugehört hatte. Dann ging plötzlich eine Bewegung durch sie. Es war merkwürdig, sie hatte weder einen Schritt getan noch die Hand gehoben oder den Kopf bewegt, nur die Spannung ihres Körpers hatte sich ein klein wenig verändert, aber nicht nur ich, auch die Arbeiter nahmen dies wahr, sie ließen die Arme sinken und blickten die Brigido erwartungsvoll an.

    »Hören Sie auf damit«, sagte sie und wandte sich dann zu mir: »Können Sie mir eine Mulde besorgen? Die Bücher, die Möbel, das alles kommt weg.«

    Diese Idee schien mir verrückt. Wusste sie, was sie da sagte? Diese Frage stellten sich die Arbeiter natürlich nicht. Ihnen war klar, dass es Stunden dauern würde, hier Ordnung zu schaffen. Es war Freitagabend, sie wollten nach Hause, und sie machten sich umgehend daran, ihre Werkzeuge zusammenzusuchen. Ich wollte sie ungern gehen lassen, ehe die Brigido ihre Entscheidung nicht noch einmal überdacht hatte, und sagte ihr, sie würde es später vielleicht bereuen.

    »Aber nein«, entgegnete sie. »Es ist eine gute Gelegenheit.«

    Sie klang bestimmt und wirkte auch sehr gefasst, mir schien, beinahe gleichmütig.

    Als die Arbeiter und mit ihnen auch Gonzo die Wohnung verlassen hatten, als Letzter ging Gonzo, der arme, geknickte Gonzo, den ich gerne aufgerichtet und getröstet hätte, fragte ich sie abermals, ob sie denn wirklich meine, es wäre klug, alles wegzugeben.

    Die Brigido sah mich an. »Sie denken wohl, die Alte ist übergeschnappt?«, fragte sie.

    Ich entgegnete, die Frage sei mir tatsächlich durch den Kopf gegangen.

    Sie lachte. »Wenn Sie wüssten, wie lange ich es schon vor mir herschiebe, dieses Zimmer auszuräumen.« Daraufhin versperrte sie die Türe und drückte noch die Klinke hinunter, um sicherzugehen, dass sie auch wirklich verschlossen war.

    Ob sie für die Zeit der Renovierungsarbeiten woanders unterkommen könne?

    Sie winkte ab. »Ich werde hier bleiben«, sagte sie. »Wenn es mir zu viel wird, kann ich noch immer zu einer Freundin gehen.«

    Damit war sie meinem Angebot, ihr die Mölkerbastei zur Verfügung zu stellen, zuvorgekommen. Ich vermietete die kleine Wohnung gelegentlich an Geschäftsreisende, im Augenblick stand sie leer. Ich bot sie ihr nun trotzdem an. »Man kann ja nie wissen«, sagte ich. Sie schien sich darüber zu freuen.

    »Sagen Sie, wie war noch mal Ihr Name?«

    »Krehmayr«, sagte ich, indem ich ihr meine Karte reichte. Ich konnte sehen, wie ihr Blick an meinem Vornamen hängen blieb: Ildefons. Sie schmunzelte. Das taten die meisten, wenn sie ihn zum ersten Mal hörten. Ildefonso, hieß es dann immer, köstlich!, weil er an das Nougat-Konfekt denken ließ.

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