Zwischen Landluft und Sehnsucht: Als Frau in Nordfriesland - Schicksale auf dem platten Land
Von Alice Jolliet, Gertrud Wiedenmann, Inge Hinrichs und
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Über dieses E-Book
In einer Zeit, in der unsere Wahrnehmung immer mehr von einer fortschreitenden Globalisierung und einem Überall-Zugleich-Gefühl geprägt wird, scheint die Frage nach einer persönlichen Heimat hoffnungslos altmodisch und uninteressant. Das vorliegende Ergebnis eines Autorinnenwettbewerbs, ausgeschrieben vom Gleichstellungsbüro des Amtes Nordsee-Treene für Frauen in Nordfriesland zeigt jedoch das genaue Gegenteil. Unter dem Ansturm der modernen Vielfalt wird offenbar ein ländlicher Raum immer attraktiver, um sich niederzulassen, eine Familie zu gründen oder seinen Lebensabend zu verbringen. Ganz gleich, ob sie aus dem Dschungel der Städte hierher fanden oder hier geboren wurden, die nordfriesischen Autorinnen entdeckten die Bedeutung eines Ortes, an dem man sich "zu Hause" fühlen konnte, ausgerechnet in einem Landstrich, der von den meisten Deutschen fast wie "hinter dem Mond" angesehen wird. Warum fanden sie gerade hier eine Heimat, die Flüchtlinge aus Städten und fernen Bundesländern, die Vertriebenen und die Zurückkehrenden, die hier Verwurzelten und die Urlauber auf Entdeckungsreise?
In dieser Sammlung von Geschichten finden Sie dazu heitere und nachdenkliche Antworten, die zutiefst berühren.
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Buchvorschau
Zwischen Landluft und Sehnsucht - Alice Jolliet
Zwischen Landluft und Sehnsucht
Als Frau in Nordfriesland – Schicksale auf dem platten Land
Herausgeberin: Claudia Hansen
Claudia Hansen (Hrsg.)
Zwischen Landluft und Sehnsucht
Entstanden als Projekt in Zusammenarbeit mit dem Gleichstellungsbüro des Amtes Nordsee-Treene im Jahr 2009.
2. Auflage (Print) 2016
1. Auflage (E-Book) 2016
© Ahead and Amazing Verlag, Ostenfeld 2009
erschienen in der Edition Leuchtfeuer
Alle Rechte vorbehalten.
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.
Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigung, Übersetzung, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Titelbild: lugat-fotocase.com
Titel-Gestaltung: Sabine Bolland-Gratz, www.gratzdesign.com
Satz und Lektorat: Kristina und Manfred Jelinski
Das Copyright aller Abbildungen im Innenteil liegt bei den jeweiligen Autorinnen.
Druck und Bindung: PRESSEL Digitaler Produktionsdruck, Remshalden
Printed in Germany
ISBN (Print): 978-3-933305-73-2
ISBN (E-Book): 978-3-933305-43-5
Ahead and Amazing Verlag, Jelinski GbR, Magnussenstr. 8, 25872 Ostenfeld
www.aheadandamazing.de
Heimat ist kein Ort, Heimat ist ein Gefühl
Herbert Grönemeyer
Inhaltsverzeichnis
Zwischen Landluft und Sehnsucht
Heimat – das unterschätzte Gefühl der Neuzeit
Oh, Himmel Nordfrieslands
Landung
Aus Liebe auf dem Land
Leben auf dem Land
Meine Entscheidung für das Landleben
Tausche Berggeflüster gegen Meeresrauschen
Minze in Nordfriesland – eine Entscheidung
Kinder, Mann und Rödemis
Der Geruch der Erde
Achtung, wachsamer Nachbar!
Wurzeln
Meine Geschichte
Sylt – eine Rheinländerin atmet auf
Himmel über Nordfriesland
Heimweh oder Fernweh?
Verwurzelt
Ich Bin
Das Leben in Nordfriesland!
Warum ich nach Nordfriesland gezogen bin…
Mein Umzug auf die Hallig
Eine Kostprobe von der Weite
Die lange Reise
Einfach so...
Aufbruch
Heim-weg
Auswandern
Moin moin
Erinnerungen sind Lebensspuren
Sturmi und das Meer
Der Ausflug
Min Leben
Zu diesem Buch
Wie kamen die Geschichten in dieses Buch?
Heimat – das unterschätzte Gefühl der Neuzeit
Ein Vorwort der Kuratoren
Die Suche nach der Heimat - das war das Thema, das alle Autorinnen bewegt hat, die sich an dem Schreibwettbewerb beteiligt haben, aus dem wiederum dieses Buch entstanden ist. Heimat, das ist eine geographische, historische oder auch ganz persönliche Eingrenzung, eine Beziehung zwischen Mensch und Raum, in der es um Identifikation geht; nicht immer, aber meistens geht es auch um einen konkreten Ort.
Was bewegt Menschen, im vorliegenden Fall Frauen, sich irgendwo niederzulassen und zu bleiben, sich dort beheimatet zu fühlen? Sich zum Beispiel für ein Leben in einer ländlichen Region zu entscheiden? Welches Für und Wieder spielt hier eine Rolle? Gibt es bestimmte wiederkehrende Umstände oder Lebensphasen? Wie wichtig ist überhaupt Heimat
im Leben von Frauen?
Wir waren sehr gespannt auf die Antworten, als wir den Wettbewerb starteten.
Heimat ist eine scheinbar gegenläufige Bewegung zu unserer modernen Zeit. Globalisierung, Flexibilisierung, Spontaneität, Professionalität — da passt eigentlich so etwas Altmodisches wie Heimatgefühl und Identifikation, etwas wie zu Hause und verwurzelt fühlen, nicht hinein.
Trotzdem oder gerade deshalb spielt die Entscheidung für eine Heimat, eine Region, an der mein Herz hängt, eine wichtige Rolle. Menschen wollen einen Platz im Leben haben —sich an einem Ort zu Hause fühlen. Und so gibt es Frauen, die Nordfriesland nie verlassen haben, für die es die richtige Entscheidung war, hier zu bleiben. Und es gibt Frauen, die allein oder mit der Familie hier „gestrandet" sind und für die es auch die richtige Entscheidung war, hier zu bleiben
Für alle spielen die Natur und die Menschen eine große Rolle. Wer hier angekommen ist, weiß, worauf er oder sie sich eingelassen hat — eine oft raue Umwelt, stürmisch und karg, aber auch auf unendliche Weite, Schönheit, Verbundenheit und Herzlichkeit der Menschen.
Wer sich für Nordfriesland entschieden hat, möchte dem rauen Klima trotzen und sich nicht bei Sturm einschließen, sondern an den Deich gehen. Wer sich für Nordfriesland entschieden hat, liebt das Vereinsleben und den Klönschnack mit den Nachbarn. Wer sich für Nordfriesland entschieden hat, hat sich gegen die Zeit und Hektik entschieden, denn hier läuft die Zeit anders.
Nordfriesland, das ist der weite Himmel mit unglaublichen Wolken, das sind die Inseln und Halligen, das ist das Weltnaturerbe Wattenmeer und das ist die Weite.
Und vor allen Dingen ist Nordfriesland das, was die Menschen, die hier leben, daraus machen.
Wir freuen uns sehr über die zahlreichen persönlichen Einsendungen und besonders, daraus ein Buch mit kurzen, aber sehr unterschiedlichen Geschichten über die Heimat Nordfriesland präsentieren zu können.
Bedanken möchten wir uns auf diesem Wege für all die Arbeit und Mühe beim Verlag Ahead and Amazing, der durch seinen Einsatz dieses Buch möglich gemacht hat. Unser Dank gilt auch Sabine Bolland-Gratz, die mit ihrem wunderschönen Titelentwurf einen so schönen und passenden Rahmen für das Buch gefunden hat.
Wir wünschen Ihnen viel Spaß beim Lesen und anregende Gespräche über Ihr Leben in Nordfriesland.
Claudia Hansen Adelheit Marcinczyk
Ehemalige Gleichstellungsbeauftragte Kreis Nordfriesland
Amt Nordsee-Treene Generationen handeln
und Herausgeberin
Alice Jolliet
Oh, Himmel Nordfrieslands
Oh, Himmel Nordfrieslands,
verwandelst mit deinem
wilden Atem
die Bäume zu indischen
Tempeltänzerinnen.
Oh, Himmel Nordfrieslands,
hältst mich zum Narren,
wie ein Geliebter.
Mal wähn' ich mich in deinem Schauspiel
in Afrikas Steppen
und dann wieder
fühl' ich mich von dir ins tiefste Sibirien
versetzt.
Ich liebe dich,
oh, Himmel Nordfrieslands,
wie ein wildes, unberechenbares,
freies Kind
oder wie den alten Rebellen,
der nach niemandem fragt.
Wenn deine Stürme
wie wild an mir zerren,
bist du mir gleichzeitig Halt,
denn ich weiß,
bald lachst du mir wieder
blau blitzend, weißwölkchen-
streichelweich zu.
Ich glaube, du hast
mein Herz für immer erobert -
oh, Himmel Nordfrieslands,
ich bin dir ergeben,
komm - spiele mit mir!
Purzelbäume –
schwerfällig,
doch auch elegant
wie eine Horde Delfine –
schlugst du heute,
Nordsee
Kapriolen,
Mein Herz zu erobern –
es ist dir für jetzt
mal wieder gelungen...
Gertrud Wiedenmann
Landung
Flughafen Hamburg, Abflughalle für den Flug Hamburg-Funchal, November, 6 Uhr morgens, dichtes Schneetreiben.
Er war mir sofort aufgefallen wegen des Pullovers, den er trug: Wildseide, vermutete ich, naturfarben, mit einem schönen Stehkragen. Edles, betont lässiges Naturdesign. Er saß alleine und las in einem Buch von einem preisgekrönten Autor, den ich auch kannte. Gute Literatur. Sympathisch sah er aus, angenehm. Der erste Lichtblick an diesem dunkel-kalten Hamburger Morgen, nach einer schlaflosen Nacht mit Brech-Durchfall. Den gebuchten zweiwöchigen „Wanderurlaub Madeira" hätte ich am liebsten storniert, als ich die Mitreisenden betrachtete: 60 aufwärts, übergewichtig, paarweise, Goldkettchen, Designer-Täschchen, Bildzeitung.
Ich selbst trug meinen grauen Lieblingspullover und eine weite Jeans. Die Wanderstiefel trug ich an den Füßen, weil sie sonst zu viel Platz im Gepäck einnahmen.
Ich fühlte noch immer ein wenig die Übelkeit der Nacht, und verfluchte stöhnend meine winterlichen Fern- und Abenteuerreisen: Indien, Indonesien, Trekking in Ladakh und nun diese komische kleine Felseninsel im Meer. Nächstes Mal würde ich endlich Urlaub in einer Ferienwohnung auf dem Bauernhof machen – ruhig, friedlich und einfach, das schwor ich mir.
Vielleicht wanderte der nette Mann ja wenigstens, dachte ich hoffnungsvoll bei mir, und betrachtete skeptisch seine edlen Lederstiefeletten und noch skeptischer die Landebahn im immer dichter werdenden Schneetreiben. Mein Flugangstbarometer stieg bedrohlich an.
Beim Besteigen des Flugzeugs versuchte ich krampfhaft, den wildseidenen Stehkragen nicht aus den Augen zu verlieren, als könne nur er mein Überleben garantieren. Im Flugzeug saß ich eingezwängt neben einem unfreundlichen dicken Ehepaar, bewaffnet mit Goldkettchen, scharfem Parfum und Auto-Bild. Der Brechreiz meldete sich wieder. Die Durchsage aus dem Cockpit mit der Bitte um etwas Geduld, da die Tragflächen erst noch enteist werden müssten, ließ mir diesen Urlaub endgültig als Desaster erscheinen. Wir würden abstürzen. Zwischen Panik und Fatalismus hin- und her gerissen, erblickte ich plötzlich den Stehkragen wieder, drei Sitzreihen vor mir, neben sich zwei freie Plätze. Wenn schon abstürzen, dann mit Wildseide statt Goldkettchen, dachte ich bei mir und, während das Flugzeug bereits Richtung Startbahn rollte, huschte ich nach vorne und fragte, ob ich hier sitzen könne. Ich konnte. Erleichtert sank ich in meinen Sitz.
Wir kamen ins Gespräch. Viereinhalb Stunden bis Funchal. Er kam aus Nordfriesland. Davon hatte ich noch nie vorher gehört, und erfuhr nun viel über Friesen, Minderheitenkultur und Deichbau. Es klang alles ein wenig wie aus einem keltischen Sagenbuch. Er konnte gut erzählen. Von einer fremden Welt am nördlichsten Ende Deutschlands, nahezu unbekannt, wild und ein wenig verwunschen.
Andererseits erinnerte ich mich auch an relativ ungeliebte Kurzreisen zu dänischen Ferienhäusern, Fahrten durch eine mir endlos und langweilig erscheinende Landschaft ohne erkennbare Anzeichen von Zivilisation. Nordfriesland, wie ich jetzt erfuhr.
Die Nordsee war mir bisher immer ein wenig rau und bedrohlich erschienen. Der seidene Pullover ließ sie allerdings in warmen Farben aufleuchten, als er von seinen selbst gemalten Meeresbildern erzählte. Ich war Kunsttherapeutin. Er war Landwirt, frisch geschieden, Lebenskrise und so weiter. Seine Tante hatte ihn nach Madeira eingeladen. Er sollte mal rauskommen.
Wir redeten und redeten, aßen und schliefen. Heimlich betrachtete ich immer wieder den edlen Pullover, der einen offenbar wohlgeformten Körper verbarg. Landwirt!?
Meine Flugangst war verschwunden. Wie zum Teufel kam es, dass Landwirte heutzutage wildseidene Pullover trugen, gute Romane lasen, malten, und geschieden in fremde Länder flogen???
Die Bauern aus meiner bayerisch-fränkischen Familie trugen eher Breitcordhosen und Flanellhemden und mussten jede Familienfeier vorzeitig zum Melken verlassen. Sie waren stets in Begleitung ihrer freundlichen, Kuchen backenden Ehefrauen.
Von Urlauben oder Fernreisen war nie die Rede.
Beim Landemanöver auf Madeira sah es so aus, als würden wir direkt ins Meer stürzen, aber das war mir vollkommen egal. Später erfuhr ich, dass dies die kürzeste und schwierigste Landebahn der Welt ist. Nur erfahrene Piloten dürfen hier landen.
Als ich Madeira betrat, fühlte ich, dass etwas Neues begonnen hatte. Als wäre ein alter Teil von mir tatsächlich abgestürzt und frisch gebadet wiedergeboren.
Zwei Wochen später lernte ich Nordfriesland kennen. Mitten im Winter. Als erstes reparierten wir das vom Sturm zerstörte Dach des Schweinestalls vom Heuboden aus. Es roch nach altem Heu, Staub und ein wenig nach Schweinen. Ich fühlte, dass ich nach Hause gekommen war. Eine Nachbarin nannte uns das „Wunder von Madeira und beim Kaufmann gegenüber wurde ich „die Nüe von H.
Ein halbes Jahr später, im Sommer, fütterte ich Schweine, lud Kornwagen ab und schmierte kiloweise Wurstbrote für Erntehelfer. Ich lernte Platt und Friesisch verstehen und fuhr bald drei- bis viermal wöchentlich nach Husum zu meiner neuen Arbeitsstelle. Vor allem lernte ich den Begriff „Multitasking" mit Inhalt zu füllen.
Eine Hamburger Freundin rief an und fragte, ob es mir nicht zu ruhig auf dem platten Land sei. Während ich mit ihr durch das schnurlose Telefon sprach, sammelte ich im riesigen Garten Birnen auf und zog Unkraut. Ich konnte sie kaum verstehen, weil ein großer Trecker nach dem anderen mit prall gefülltem Hänger vorbeidonnerte. Hinter mir ratterte und brummte die Getreidetrocknung, und die großen Pappeln rauschten im kräftigen Wind. Ich hatte ohnehin kaum Zeit, zu telefonieren. Ruhe?
Manchmal vermisse ich die Ruhe der Stadt. In Hamburg-Eimsbüttel hatte ich in einer ruhigen Seitenstraße gewohnt, Balkon auf den Hinterhof mit Vogelgezwitscher. Auch fehlen mir ein wenig die langen Elbspaziergänge mit innigem Freundinnengeschwätz, gemütliche Kneipenabende oder ein Jazzkonzert in der Fabrik. Meine Kunst muss mit dem Winter vorlieb nehmen. Die Kontakte zu Freundinnen in der Stadt werden weniger mit der Zeit – zu verschieden sind die Lebenswelten.
Aber wenn ich Entspannung brauche, fahre ich nach Hamburg und durchwühle mit meiner Freundin Gisela Kunstgalerien und kleine Läden mit Schmuck oder verrückten Second Hand- Klamotten, um anschließend in einem lauten Café das multikulturelle Treiben auf der Straße zu beobachten. Niemand