Trine aus der Tube: Oder die Dinge sind nicht immer, wonach sie aussehen
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Doch an diesem Abend ist auf einmal alles ganz anders.
Das beginnt damit, dass eine Stimme wie verhext ständig „Rechnen, lesen, Müll raus, acht Uhr Licht aus!“ wiederholt. Die Stimme seiner Mutter ist das aber nicht! Die Stimme kommt aus einer Tube – einer Zahnpastatube, die Konrad gerade entdeckt hat und die er nun bestaunt und beguckt. Dann riecht es im Raum plötzlich nach Fruchtgummi. Auf einmal steht da ein Mädchen vor ihm und sagt „Tach. Ich bin Trine“.
Und das Abenteuer beginnt…
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Buchvorschau
Trine aus der Tube - Susanne Meyer-Binder
Susanne Meyer-Binder
TRINE AUS DER TUBE
oder
Die Dinge sind nicht immer, wonach sie aussehen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar
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© Lehmanns Media, Berlin 2013
Helmholtzstraße 2-9 • 10587 Berlin
Coverbild: Jasmin Plawicki
ISBN 978-3-86541-569-1
www.lehmanns.de
Kapitel 1:
Konrad sammelt an einem Sonntag eine Zahnpastatube auf
Bevor Konnie Trine traf, hatte er nichts als Ärger.
Genau genommen, wurde es danach auch nicht viel besser, nur anders, aber das ist eine lange Geschichte. Konnie hieß eigentlich Konrad und war gerade acht geworden. Das waren schon zwei Gründe für den Ärger.
Wer will schon Konnie genannt werden?
Wer will schon Konrad heißen?
Wer will schon acht sein?
Also drei Gründe für Ärger, und der vierte hieß Antonia. Antonia war Konrads ältere Schwester. Sie war sechzehn und glaubte, das und zwei Knöpfe im Bauchnabel seien Gründe genug, ihren Bruder herumzukommandieren.
Konrad hasste sie.
Manchmal.
Na ja, nicht wirklich, aber sie ging ihm auf die Nerven.
So wie Mama und Papa.
Mama und Papa hatten nie Zeit. Sie hatten ein Geschäft, in dem sie beide von morgens bis abends arbeiteten, das heißt, Papa arbeitete sogar nachts. Er war nämlich Bäcker und stand auf, um Brot und Kuchen zu backen, wenn andere Leute noch schliefen. Nun sollte man meinen, wenn Leute so viel arbeiten müssen, dann haben sie zu viel zu tun, um sich noch um so unwichtige Sachen wie Hausaufgaben zu kümmern, oder darum, wie lange man fernsehen darf oder wie die Hose aussieht, in der man gerade Fußball gespielt hat.
Aber von wegen. Sie kümmerten sich nicht nur wie verrückt um solche Sachen, sie merkten auch alles. Der Bäckerladen – Papa hatte es lieber, wenn man „Konditorei" dazu sagte – war nämlich direkt unter der Wohnung, in der sie alle lebten, Papa, Mama, Antonia und Konrad.
Und immer, wenn Konrad versuchte, so unauffällig wie möglich raus oder reinzukommen (raus, wenn er zum Beispiel keine Lust hatte, seine Hausaufgaben zu machen, rein, wenn er sich vielleicht gerade beim Fußball ein bisschen dreckig gemacht hatte), dann stand garantiert einer gerade hinter dem Ladentisch und sagte: „Na, Konnie, erst zeigst du mir aber deine Hausaufgaben, bevor du rausgehst!"
Wenn Antonia hinter dem Tresen aushalf, und das tat sie oft, denn sie kriegte immer ein bisschen Geld dafür, brachte sie es fertig, vor den Kunden zu sagen: „Konnie, du siehst wieder aus wie ein Schwein!"
Und das war schlimmer als Mama und Papa zusammen.
Sonntags kam am Nachmittag oft Helene zu Besuch. Das war Mamas Freundin. Sie roch gut, aber das Beste an ihr war, dass sie ganz tolle Geschichten erzählen konnte. Eigentlich waren das keine richtigen Geschichten, es war mehr so, dass sie einem Sachen sagte, die wahr waren, aber über die sonst kein Mensch mit ihm sprach, oder dass man sie etwas fragte und sie ganz anders antwortete als die Erwachsenen, die Konrad sonst kannte.
Gerade, zum Beispiel, hatte sie ihm etwas Unglaubliches über Kartoffelchips erzählt.
Kein andere Erwachsener wäre je auf die Idee gekommen, ihm über Kartoffelchips etwas anderes zu sagen als: „Iss nicht schon wieder die ganze Tüte leer! oder „Hör auf, hier so herumzukrümeln!
Helene aber nahm ihm die Packung aus der Hand und sagte: „Guck mal, Konrad (Helene sagte immer Konrad, nie Konnie, das war auch ein Grund, weshalb er sie mochte), „was für ein schwieriges Wort!
Und sie zeigte auf die Stelle auf der Chipstüte, wo so viele winzig kleingedruckte Sachen stehen.
„N…, sagte Konrad, „g… l…!
Er schüttelte den Kopf und wollte gehen. Was er eigentlich wirklich tun wollte, wusste er nicht so genau, aber bei Mama und Papa klappte der Trick oft. Wenn er erst mal ein paar Meter weiter weg war, hatten sie meist auch schon vergessen, was sie von ihm wollten.
Helene nicht. Sie fasste ihn am Ärmel seines Sweatshirts und sagte: „Hier geblieben. Das kannst du lesen. Ich weiß das."
Konrad hasste Lesen mehr als alles andere. Doch, etwas hasste er noch mehr: mit Antonia lesen üben zu müssen. Das endete jedes Mal damit, dass alle sich anbrüllten. Zuerst brüllte Antonia ihn an. Dann brüllte er Antonia an. Dann kam Papa und brüllte beide an. Und dann kam Mama und brüllte zuerst Papa und dann alle an.
Aber wenn Helene sagte: „Du kannst das", hatte das eine merkwürdige Wirkung auf ihn. Dann konnte er das wirklich. Er hatte sich manchmal insgeheim schon gefragt, ob Helene so etwas wie eine Hexe war, eine getarnte natürlich. Vielleicht konnte sie zaubern. Einen Beweis dafür hatte er noch nicht, aber Helene war irgendwie anders als die Leute, die er kannte.
Er hatte sich wirklich das unglaublich lange Wort noch einmal angesehen, auf das ihr Finger zeigte. Sie hatte ein bisschen mitgeholfen, und auf einmal hatte er es gelesen, ganz langsam, aber richtig, nur etwas falsch betont: „Natri… umglu... glutámat".
„Siehst du, sagte Helene, „ich sage doch, du kannst das. Natriumglutamat. Genau so heißt das. Und weißt du, was das ist?
Natürlich wusste er es nicht. Er hatte das komische Wort noch nie gehört.
„Das ist in deinen Kartoffelchips drin, damit du nicht aufhören kannst, sie zu essen."
Das war gelogen. Das hatte sie sich ausgedacht.
„Du lügst!" sagte Konrad, weil er zu Helene so was sagen durfte.
Helene grinste und sagte: „Ja, könnte man meinen, tu ich aber nicht."
Und dann erklärte sie ihm, während sie gemeinsam die Treppe von der Wohnung zum Laden hinuntergingen, denn Helene hatte heute noch eine andere Verabredung, dass es komische Sachen im Essen gibt, die eigentlich gar nichts mit essen zu tun haben, und dass die aus allen möglichen Gründen im Essen drin sind. Damit es länger hält, zum Beispiel, oder damit es schöner aussieht oder gut riecht oder ganz besonders gut schmeckt.
„Hier!, sagte Helene und hielt ihm eine Tüte mit Geleehimbeeren unter die Nase, die im Laden verkauft wurden. „Ist aus nichts als Zucker gemacht, ist aber rot, riecht nach Himbeere, schmeckt nach Himbeere – da muss man schon ein bisschen nachhelfen. Nur heißt das, was da drin ist, nicht Natriumglutamat, sondern vielleicht E 120 oder so.
Konrad brummte der Kopf. Er sah abwechselnd auf die Himbeer- und die Chipstüte, und weil die Himbeertüte zu war, aber die Chipstüte schon offen, aß er schnell zur Beruhigung ein paar Chips.
Die Ladentür ging von draußen auf und Antonia kam herein, genau in dem Moment, als er sich eine Handvoll Chips in den Mund schob.
Sie sah ihn an und sagte: „Du isst wie ein Schwein. Gibt’s noch Mittagessen?"
Es war sechs Uhr abends. Zu Mittag hatten sie ohne Antonia um ein Uhr gegessen. Zu Abend aßen Mama und Papa sonntags meist später, oft bei Freunden oder irgendwo in der Stadt. Als Abendessen für sich selbst hatte Konrad Kartoffelchips eigentlich heute ganz passend gefunden, allerdings vor dem Gespräch mit Helene.
Antonias Oberkörper umarmte Helene, während der Unterkörper schon einen Schritt weiter war, denn sonntags musste sie so viele wichtige Leute treffen, dass sie es immer eilig hatte. Zwischendurch kam sie meistens mal vorbei, um was zu essen, aber immer, wenn alle anderen längst fertig waren.
„Muss weiter!, rief sie im Weggehen, will mich nur schnell umziehen und ein paar Sachen holen, ich schlaf heut’ bei Nellie – tschaui!
, und stürmte die Treppe zur Wohnung hinauf. Nellie war Antonias beste Freundin, und Konrad war es entschieden lieber, sie schlief dort, als dass Nellie bei ihnen übernachtete. Das war nämlich immer, als hätte er zwei große Schwestern.
Komisch, dass Antonia sich für Nellie extra umzog.
„Äch, machte Konrad. Helene grinste und legte die Tüte mit den Geleehimbeeren zurück in ein großes Glas mit vielen ähnlichen Tüten. „Tja. So ist das
, sagte sie, und sie sagte das in einem Ton, der Konrad zu verstehen gab: „mach dir nichts draus, das gibt sich wieder!"
Helene war toll.
Mama fing oben schon an, auf Antonia einzureden, als die noch auf der Treppe war, das konnte man bis unten in den Laden hören.
Helene sah auf ihre Uhr und sagte: „Mensch, ich muss los! Merk dir einfach beim Chipsessen – da ist was drin, das macht, dass du die ganze Tüte leer essen willst, bis du Bauchweh kriegst, und das hat gar nichts mit Kartoffeln zu tun!" Dann drückte sie ihn ganz doll, ging zur Tür hinaus und winkte ihm von draußen zu, solange sie am Schaufenster des Ladens entlangging.
Konrad sah ihr nach und stellte erst nach einer ganzen Weile fest, dass sie längst nicht mehr zu sehen war. Die Chipstüte war inzwischen leer. Er hatte ein bisschen Bauchweh.
Während er noch überlegte, was er jetzt tun sollte – Sonntage fand er von allen Wochentagen am doofsten, weil erst recht niemand so richtig Zeit hatte, obwohl doch keiner arbeiten musste –, hörte er seine Eltern die Treppe herunterkommen.
Sie wollten Besuche machen. „Besuche machen" war ein wichtiger Bestandteil der Sonntage und hieß, sie gingen erst kurz eine alte Tante und danach noch lange irgendwelche Freunde besuchen, und manchmal gingen sie hinterher noch einen Wein trinken, wenn sie auf dem Weg irgendwo noch andere Freunde trafen.
Sie kannten durch den Laden viele Leute.
Dann konnte es passieren, dass irgendwann am Abend das Telefon klingelte, wenn er es sich gerade vor dem Fernseher gemütlich gemacht hatte, und Mama sagte: „Konnie, es wird spät, ab ins Bett!"
Blöde Handys, dachte er, denn