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Schwaben-Träume: Kommissar Braigs 18. Fall
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eBook282 Seiten3 Stunden

Schwaben-Träume: Kommissar Braigs 18. Fall

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Über dieses E-Book

Der 18. Band der Erfolgsserie!

Wanningers Schwaben-Landkarte ist blutrot eingefärbt. Diesmal bietet er seinen Fans Hochspannung im malerischen Schwarzwald.

Mitten im Kurpark von Bad Wildbad beobachten Zeugen, wie eine Frau von einem Unbekannten überwältigt und von einem Felsen in den Tod gestürzt wird.

Sehr rasch gelingt es den ermittelnden Behörden, den Täter als den kurz zuvor aus der Haft entflohenen Strafgefangenen Stefan Bayer zu identifizieren.
Schnell wird klar, dass der Mann einen Rachefeldzug plant, dem alle zum Opfer fallen sollen, die seinerzeit an seiner Verurteilung mitgewirkt haben.

Den Kommissaren Katrin Neundorf und Steffen Braig vom Landeskriminalamt Stuttgart bleibt wenig Zeit, sich dem unberechenbaren Mörder in den Weg zu stellen. Viel zu wenig Zeit …
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. Mai 2016
ISBN9783954413102
Schwaben-Träume: Kommissar Braigs 18. Fall

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    Buchvorschau

    Schwaben-Träume - Klaus Wanninger

    zufällig.

    1. Kapitel

    Mir gebet nix!«

    Aufrecht, die Arme vor dem Oberkörper verschränkt, stand die Frau vor der Haustür. Die Augen zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen, alle Muskeln angespannt. Der ganze Körper in Abwehrhaltung. Ein unüberwindbares Bollwerk, fest und starr. Fast genauso massiv wie das große, alte Bauerngehöft.

    Marika Breiter wusste im gleichen Moment, dass sie nie zueinander finden würden. Nicht jetzt und auch nicht in ferner Zukunft. Sie wich trotzdem nicht einen Millimeter zurück, musterte stattdessen die Inschrift auf dem gerundeten Türgebälk, das die grauen, zu einem Dutt gebundenen Haare der Alten wie ein Heiligenschein umrahmte: GOTT SCHÜTZE DIESES HAUS. Die Sonne stand an diesem frühen Herbstabend schon schräg am Himmel, riss die Worte mit ihrem gleißenden Licht wie eine Leuchtreklame aus dem Schatten der Umgebung.

    Marika Breiter musterte die versteinerte Miene ihres Gegenübers. Sie wagte nicht darüber zu spekulieren, was abschreckender wirkte: die abweisende Mimik der Frau oder das wuchtige Mauerwerk des alten Gebäudes. Schon von Weitem hatte sie die wenig einladende Erscheinung des Hauses wahrgenommen: wuchtige, kaum geschmückte Wände, viel zu kleine Fenster, ein weit über die Mauern hinweggezogenes Dach, der rings um das Gebäude mehr als drei Meter weit gegossene Asphalt. Und nirgendwo Blumen, nur eine halbe Handvoll Pflanzen, keine Bank zum Ausruhen, kein Tier, nicht einmal eine streunende Katze in der Nähe. Alles ging von dem eher einem Bunker als einer wohnlichen Heimstatt ähnelnden Monstrum aus, nur keine freundliche Atmosphäre, keine Lebensfreude, nicht ein Hauch von Liebe und Glück.

    Es schien, als spürte selbst das kleine, gerade ein Jahr alt gewordene Kind auf ihrem Arm diese Ausstrahlung, denn kaum war die Alte in sein Blickfeld getreten, begann es zu zucken und mit seinen dünnen Armen und Beinen durch die Luft zu rudern, um in der Umarmung der Mutter Schutz zu suchen. Marika Breiter streichelte ihrer Tochter sanft über die strohblonden Locken. »Du musst keine Angst haben, Maria. Das ist deine Oma«, sagte sie laut, mit kräftiger Stimme. »Von ihr hast du deinen Vornamen.«

    Im gleichen Moment begann in der Ferne eine Kirchenglocke hell zu läuten.

    Noch Jahre später erinnerte sie sich an diesen Augenblick: Wie die Gesichtszüge der Alten vollends entgleisten, ihre knochigen Finger zur Begleitung der Glocke die Stirn, die Brust und ihre Oberarme berührten und sie sich in ein Gemurmel religiöser Formeln verlor. Was sie mehr erschreckt hatte: Der zu spät wahrgenommene Klang der Gebetsglocke oder das Auftauchen ihrer Enkelin samt Schwiegertochter, Marika Breiter hatte es nie erfahren.

    Heilige Maria Mutter Gottes hilf uns …

    Es sollte nur wenige Wochen dauern, bis sie die Worte auswendig konnte. Und jedes Mal gleichzeitig mit dem ersten Buchstaben schon die Gänsehaut über ihren ganzen Rücken kriechen spürte.

    2. Kapitel

    Primäre Intention der Evaluation ist die Optimierung des didaktischen Alltagsgeschehens. Gelingt es, das Spezifische im Unspezifischen zu eruieren …

    Jessica Knaus konnte es nicht mehr hören. Die hohlen Phrasen quollen ihr bereits aus den Ohren. Den kompletten Mittag hatten sie mit dem sinnlosen Gebläxe verbracht. Nur weil irgendein Vollpfosten im Regierungspräsidium oder dem Kultusministerium sich davon einen Karrieresprung erhoffte.

    Mit der Realität des Schulalltags hatte das alles nichts zu tun. Pure Schaumschlägerei – wie so vieles, was aus Amerika über den großen Teich geschwappt war. Zuerst hatte es die großen Konzerne, dann die Behörden und die gesamte Verwaltung erfasst. Substantielle Verbesserungen oder Fortschritte waren durch die neuen Methoden nicht erzielt worden, im Gegenteil. Allein die Beschäftigung damit hatte Unmengen an Mühe und Schaffenskraft absorbiert. Im Prinzip ging es nur darum, längst bekannten Inhalten neue bombastische Bezeichnungen überzustülpen, simple Vorgänge mit wohlklingenden Wortklaubereien aufzuhübschen. Der Inhalt interessierte nicht, nur die Verpackung.Let’s move, the show must go on.

    Trotzdem war das gesamte Lehrerkollegium am Donnerstagmittag unmittelbar nach dem Ende des Unterrichts in die Landesakademie nach Bad Wildbad gepilgert. 95 Erwachsene, fast ausnahmslos erfahrene, Praxis-gestählte Pädagoginnen und Pädagogen hatten jetzt – Mitte Mai – nichts Besseres zu tun, als ihre Hirne zweieinhalb Tage lang bis in den späten Samstagabend hinein mit dem Evaluationsgeseiere zu malträtieren. Zum Glück war der neue Kollege mitgekommen. Neben der traumhaft schönen Umgebung der einzige Grund, warum sich der Trip in die kleine Stadt im Nordschwarzwald lohnte.

    »Ich habe keine Lust, bis in die Nacht hinein zu evaluieren«, hatte er sich ihr am späten Nachmittag zugewandt. »Hat das Leben sonst nichts zu bieten?«

    Sie hatte sich vorgenommen, ihm Alternativen aufzuzeigen.

    Unverhohlen miteinander flirtend schlenderten sie jetzt durch den Kurpark. Sie hatten sich von den Kollegen gelöst, folgten der rauschenden Enz. Die Dämmerung war bereits hereingebrochen, nur das Licht einzelner Laternen erhellte die Wege links und rechts des reißenden Wassers am Grund der Schlucht. Der Fluss hatte sich hier tief eingegraben, auf beiden Seiten ging es steil in die Höhe. Sie passierten ein gewaltiges, frei am Hang stehendes Wasserrad, das von einem schmalen Bach angetrieben wurde, näherten sich der Engstelle des Tals. Auf der linken Seite hohe, fast senkrecht aufragende Felsen, rechts ein nur wenig sanfter ansteigender, mit Gras und Buschwerk bewachsener Hang. Das intensive, süßliche Aroma üppig blühender Azaleen- und Rhododendronbüsche hing schwer in der Luft.

    Jessica Knaus spürte, wie sich ihre Hände wieder und wieder berührten, griff beherzt zu. Es gab keine Verpflichtung, morgen früh im eigenen Bett aufzuwachen.

    Ihr Begleiter blieb stehen, wandte sich ihr zu. »Du hast keine Angst – hier so einsam im Dunkeln?«, schäkerte er.

    »Einsam?«, erwiderte sie mit spöttischem Unterton.

    Der Schrei ertönte genau in dem Moment, als sich ihre Lippen ineinander vergruben. Nervenaufreibend schrill, das kräftige Rauschen der Enz übertönend. Um Luft ringend stoben sie auseinander.

    Jessica Knaus warf den Kopf zurück, starrte in die Höhe. Sie benötigte mehrere Sekunden, ihre Augen an den Dämmer zu gewöhnen, sah die steile Felswand schemenhaft jenseits des Flusses aufragen.

    »Mein Gott, was war das?«, hörte sie die aufgeregte Stimme ihres Begleiters. »Das klingt gerade so, als ob …«

    Sie fand keine Zeit zu einer Antwort, hatte das Schreien erneut in den Ohren. Ein Mensch, ein Tier, irgendein Lebewesen in höchster Not. Ihre Augen huschten suchend über die Felsen, blieben an den Umrissen zweier Personen auf einer Art Balkon oberhalb der steilen Wand hängen. Vom Schein einer mehrere Meter entfernten Laterne nur notdürftig erhellt, glaubte sie, einen Mann und eine Frau zu erkennen. »Da«, hauchte sie, den Finger ins Dunkel über sich gerichtet.

    Sie versuchte, sich auf das Geschehen in der Höhe zu konzentrieren, bemerkte, dass die beiden miteinander rangen. Die Frau hing, von dem Mann heftig bedrängt, halb über dem Balkongeländer und plötzlich …

    »Verdammt!«, schrie ihr Begleiter. »Was ist da los?« Er schnappte nach Luft, sprang aufgeregt ans Ufer des Flusses, um das Treiben oben besser zu erkennen, brüllte aus Leibeskräften. »Der bringt die um!«

    Im gleichen Moment sah Jessica Knaus den Körper der Frau in die Tiefe fallen.

    3. Kapitel

    Ausgerechnet a Ausländere musch du auf unseren

    Hof hole! Pfui Deifel!«

    Es hatte keine zwei Wochen gedauert, da war der Gewittersturm zum ersten Mal ausgebrochen. Jedenfalls soweit es Marika mitbekommen hatte.

    Wie das Donnergrollen nach einem unmittelbar in der Umgebung eingeschlagenen Blitz hatte die Alte ihrem Sohn den Satz entgegengeschleudert, kurz bevor der verhasste Eindringling die Küche betreten hatte. Marikas Erscheinen hatte ihrem Partner eine Antwort erspart; ohne jeden Gruß war die Alte im gleichen Moment aus dem Zimmer verschwunden. Nie gemeinsam in einem Raum war offensichtlich ihr Vorsatz; er bezog sich sowohl auf das Kind als auf dessen Mutter, und sie hatte sich bisher minutiös daran gehalten.

    So hatte sie sich das gemeinsame Leben nicht vorgestellt. Um sich in einen Guerillakrieg mit der alten Hexe zu stürzen, war sie nicht in das fremde Land gekommen. Monatelang hatte sie sich trotz Georgs Bemühungen Zeit gelassen, sogar nach der Geburt ihres gemeinsamen Kindes noch gezögert, seinem beharrlichen Werben nachzugeben. Aber dann war ihre Situation als berufstätige und alleinerziehende Mutter immer unerträglicher geworden und das Bild von der gemeinsam gelebten Zukunft immer verlockender, und so hatte sie, fast auf den Tag genau drei Jahre, nachdem sie sich kennengelernt hatten, ihr Schicksal in die Hand genommen und den entscheidenden Schritt zum Standesamt in ihrer Heimat gewagt.

    »Du musst meiner Mutter Zeit geben.« Georgs Worte lagen ihr über Wochen hinweg im Ohr. »Du bist eine Fremde für sie. Das ist sie nicht gewohnt. Warte ab, sie wird bald auftauen.«

    Die Alte taute nicht auf, Marika wunderte sich nicht eine Sekunde darüber. Die Miene Maria Breiters blieb eisig und ohne jede Emotion, wann immer sie sich ihren Isolationsversuchen zum Trotz begegneten. Selbst das fast die ganze Zeit über vor Lebenslust sprühende und durch und durch von einem sonnigen Gemüt geprägte Kind vermochte die strengen Gesichtszüge nur selten und auch dann nur für wenige Sekunden aus ihrer Erstarrung zu lösen.

    So unerträglich die Situation auf Dauer auch war, ein Tatbestand stimmte Marika versöhnlich: Den miesepetrigen Charakter der Alten hatte ihre Tochter nicht geerbt. Die Genugtuung darüber konnte sie nicht oft genug zum Ausdruck bringen. Maria hat so gar nichts von ihrer Großmutter, was für ein Glück!

    Wie es der Sohn bisher mit seiner Mutter unter einem Dach ausgehalten hatte, war ihr nicht nachvollziehbar; seine Schwester und sein Vater jedenfalls waren vor Jahren schon auf und davon. Die Schwester, indem sie noch vor dem Schulabschluss ins ferne Berlin geflohen war und ihre Tage seither fast ohne jeden Kontakt zu ihrer ehemaligen Heimat verbrachte. Der Vater, indem er sich einen dicken Strick besorgt und seinem Leben an einem wuchtigen Balken im Kuhstall ein Ende gesetzt hatte.

    Dass der Lebensüberdrüssige deshalb nicht auf dem Friedhof des kleinen Ortes bestattet worden war, merkte Marika erst, als sie zwischen den Gräberreihen nahe der Kirche umherstreifte, die Inschrift des Josef Breiter im Sinn, aber nirgends vor Augen. Der Pfarrer hatte sich geweigert, einem Selbstmörder Gottes Segen zukommen und ihn in geweihter Erde beisetzen zu lassen, so war er in einem namenlosen Grab in Ravensburg abgelegt worden. Oberschwaben war seit jeher ein streng religiöses Pflaster – und so sollte es bleiben.

    »Ich scheiße auf eure fromme Heuchelei!«, hatte Marika laut und deutlich kundgetan, als Georg ihr mit den besonderen Bräuchen seiner Heimat gekommen war.

    Maria Breiter freilich war diese Tradition heilig. Vor allem anderen musste die Beziehung zum Allmächtigen und seinen irdischen Bevollmächtigten in ordentliche Bahnen gelenkt und täglich gepflegt werden. Kaum hatte sie die frühmorgendliche Arbeit im Kuhstall bewältigt, eilte sie deshalb nach Hause, wusch und kämmte sich und kleidete sich dann frisch ein. Und noch bevor die Glocke zur Frühmesse rief, war sie schon auf dem Weg in die Kirche, Tag für Tag.

    Den verstorbenen Vater zu erwähnen, war auf dem Kauderles-Hof ein absolutes Tabu. Georg hatte ihr zwar mehrmals von dessen bescheidenem Lebensstil und seiner fleißigen Arbeitshaltung erzählt, aber nirgendwo auf dem großen Hof fand sich irgendeine Erinnerung an den Mann. Kein Bild, kein Hochzeits- oder Kommunionsspruch, nicht einmal ein gemeinsames Familienfoto, auf dem er wenigstens am Rand zu erkennen war. Es schien, als hätte er überhaupt nicht existiert.

    Der einzige Hinweis, dass es je einen Josef Breiter gegeben hatte, war der neue Familienname, den die Bewohner des Kauderles-Hofes jetzt trugen. Ohne Begeisterung, was die Alte anbetraf.

    »Unser Besitz isch seit elf Generationen der Kauderles-Hof und dabei bleibt’s!«, verkündete sie oft genug.

    Erkundigte sich Marika nach dem Vater, verkrampfte Georgs Miene sofort. Fast wie im Reflex hielt er den Zeigefinger vor den verschlossenen Mund. »Mutter will nicht, dass hier über ihn gesprochen wird.« Seine Worte waren kaum zu verstehen.

    »Warum denn, verdammt noch mal? Hat er irgendetwas Schlimmes verbrochen?«

    Die gequälten Gesichtszüge ihres Partners ließen sie jedes Mal verstummen, obwohl ihre Neugier eher noch gewachsen war. Immerhin handelte es sich bei der Person, die in diesem Haus nicht erwähnt, über die nicht gesprochen werden durfte, um den Vater der Familie, den ehemaligen Herrn des Bauernhofs. Und der stellte in dieser ländlich geprägten Region doch so etwas wie eine Respektsperson dar, wie sie ursprünglich gedacht hatte. Aber offensichtlich galten in diesem seltsamen Dorf andere, ihr nicht nachvollziehbare Regeln.

    4. Kapitel

    Eine Kulisse wie in einem monumentalen Landschaftsfilm. Der wilde, in die enge Schlucht gezwängte Fluss, die steil darüber aufsteigende Felswand, jetzt in ihrem Sockelbereich von mehreren Strahlern in grelles Licht getaucht. Atemberaubend, die überragende Größe der Natur und die Verlorenheit des Menschen betonend. Wenn nur der traurige Anlass nicht wäre, der ihn heute Abend hierher geführt hat, schoss es Steffen Braig durch den Kopf. Er kannte Bad Wildbad von vielen Besuchen, war jedes Mal aufs Neue beeindruckt von der urwüchsigen Landschaft, die hier geboten wurde.

    Ein Kurpark, geprägt von einem kaum zu bändigenden Gebirgsfluss und den ihn flankierenden Berghängen, die sich mal sanft, mal steil in die Höhe schoben, unzählige Büsche, blumenbestandene Naturwiesen, Felsvorsprünge, schmale Wasserläufe und hohe, uralte Bäume präsentierend. Auf künstliches Beiwerk wie millimetergenau zurechtgestutzte Hecken oder monoton gleichförmige Rasenflächen hatte man weitgehend verzichtet, stattdessen der urwüchsig-wilden Naturkulisse absoluten Vorrang eingeräumt. Hinzu kam die geniale Idee, die aus dem Zentrum Karlsruhes beziehungsweise dem Stuttgarter Großraum kommende Stadtbahn den ganzen Tag über im gleichen Takt durch die Ortsmitte Bad Wildbads hindurch direkt in den Kurpark fahren zu lassen. Wer hier ausstieg, fand sich unbehelligt von Autohektik und Autolärm mitten in einer traumhaft schönen Umgebung wieder.

    Eine bewundernswert kluge Entscheidung, die den Kurpark Bad Wildbads als einzigartiges Juwel aus dem unübersehbaren Heer gleichförmiger Kuranlagen im gesamten Land herausragen ließ, urteilte Braig. Ihn aus beruflichen Gründen aufsuchen zu müssen, und das auch noch zu so später Stunde, war jedoch eine ungewohnte Erfahrung.

    Er näherte sich der hell ausgeleuchteten Szenerie, sah sich mit einer Ansammlung Schaulustiger konfrontiert, die aufgeregt miteinander parlierten. Das kräftige Rauschen des nur wenige Meter entfernten Flusses übertönte selbst die lautesten Rufe. Erst als er unmittelbar im Rücken der Leute angelangt war, konnte er ein paar Sätze verstehen.

    »I han ghört, die soll noch glebt han, wie se do glege isch.«

    »Ja wie denn, du Bachel? Die war uf der Stell tot!«

    Braig schob sich durch die Menge nach vorne, erreichte das rot-weiße Absperrband, das von einem grimmig blickenden, uniformierten Kollegen bewacht wurde. Der Mann hatte alle Hände voll zu tun, die Leute im Zaum zu halten.

    Der Kommissar schlüpfte unter dem Band durch, zeigte dem Beamten seinen Ausweis.

    »Was will denn der rücksichtslose Kerl?«, tönte es hinter ihm.

    Er ließ sich nicht beirren, trat vollends ins Licht. Der Platz vor der fast senkrecht ansteigenden Felswand war derart grell ausgeleuchtet, dass seine Augen schmerzten. Er kniff sie zusammen, sah den mit einer Plane bedeckten Körper auf dem Asphalt liegen. Die Umrisse des Kopfes und der Beine zeichneten sich deutlich ab.

    Braig bückte sich nieder, atmete kräftig durch. Er wusste, was ihn jetzt erwartete, hielt drei, vier Sekunden inne. So oft er sich in seinen mehr als 25 Jahren Berufserfahrung auch schon mit dem Anblick und der Untersuchung toter, meist gewaltsam ums Leben gekommener Menschen konfrontiert gesehen hatte, zur Routine war ihm dieser Prozess nicht geworden. Smarte, mit coolem Grinsen von einer Leiche zur nächsten spazierende Kommissare gab es nur in billig gemachten Fernsehkrimis – mit der Realität, wie er sie kannte, hatte das nichts zu tun. Einen gerade verstorbenen Menschen zu begutachten, gehörte zu den unerfreulichsten Momenten seines Berufes – auch langjährige Praxis hatte daran nichts geändert. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es Kollegen gab, die das anders empfanden. Nein, solche Filme vermittelten ein völlig falsches Bild seines Berufes.

    Mit spitzen Fingern hob er die Plane ein Stück weit hoch, musterte die Überreste, die vom Gesicht der Frau geblieben waren. Ein wirres Gemisch aus zerschmetterten Knochen und völlig deplatzierten Fett- und Muskelpartien. Sie musste mit dem Kopf direkt auf den Asphalt geprallt sein, von ihrem ursprünglichen Aussehen oder ihrem Alter war nichts mehr zu erahnen.

    »Eine Monika Holl«, hörte er eine Stimme. »Jedenfalls den Papieren nach, die wir dort oben gefunden haben.«

    Er schaute auf, sah Dr. Kai Dolde vor sich stehen. Der Spurensicherer wartete, bis er die Tote wieder zugedeckt hatte, reichte ihm dann einen in eine durchsichtige Folie gefassten Personalausweis.

    Monika Holl, Lehenstraße, Asperg.

    Das Foto zeigte eine freundlich lächelnde, dezent geschminkte Frau Ende fünfzig.

    »Ob es sich wirklich um die Tote handelt, lässt sich leider nicht mehr erkennen.«

    »Nein«, bestätigte Braig. » Das ist nicht mehr möglich. Den Ausweis trug sie bei sich?«

    »Nein. Wir fanden ihn dort oben auf dem Ausguck. Eine Damenhandtasche samt Inhalt.« Der Spurensicherer deutete in die Höhe. »Zeugen haben einen Mann und eine Frau beobachtet. Die sollen sich gestritten und miteinander gekämpft haben. Und dann mussten sie zuschauen, wie er sie über die Brüstung in die Tiefe stieß. Rössle ist oben und sichert die letzten Spuren.«

    »Wo sind diese Zeugen?«

    »Dort hinten. Zwei Kollegen kümmern sich um sie.

    Die sind völlig durch den Wind.«

    Braig folgte dem Fingerzeig Doldes, lief der Enz entlang an einer Brücke vorbei bis zu einer weiteren Ansammlung Neugieriger. Der grelle Lichtschein reichte nicht bis hierher; er benötigte mehrere Sekunden, die uniformierten Kollegen zu erkennen, die sich etwas abseits am Rand des Weges mit einer jungen Frau und ihrem Begleiter unterhielten.

    »Betrunkene«, hörte er die Worte eines der Beamten, »mit dene hent mir den meisten Ärger.«

    Er trat auf die Gruppe zu, stellte sich vor.

    »Sie sind endlich der Kommissar?«, fragte der junge Mann. Der vorwurfsvolle Ton in seiner Stimme war nicht zu überhören.

    Braig bemerkte die bleichen Mienen der beiden Leute, sah ihre angespannte Körperhaltung. Die junge Frau stand, ihre Arme fest um sich geschlungen, etwas ab seits; sie trat aufgeregt von einem Fuß auf den anderen. Ihr Begleiter wippte mit verkrampfter Miene nervös hin und her. Beide schienen zu frieren, was angesichts der abendlich frischen Temperaturen kein Wunder war. Sie hatten wohl ziemlich lange auf Braigs Erscheinen gewartet.

    »Es tut mir leid, wenn ich erst jetzt auftauche, aber das ist nicht mein erster Fall heute Abend«, versuchte er sein Problem zu umschreiben.

    »Nicht Ihr erster Fall?« Der junge Mann schien überrascht. Braigs freundliche, fast devote Eröffnung des Gesprächs ließ ihn jeden Anflug von Aggressivität verlieren. »Es gibt noch weitere …?« Er verstummte, musterte

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