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Die Saligen: Kraft und Geheimnis des Weiblichen
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Die Saligen: Kraft und Geheimnis des Weiblichen
eBook240 Seiten2 Stunden

Die Saligen: Kraft und Geheimnis des Weiblichen

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Über dieses E-Book

Im gesamten Alpenraum lassen sich Sagen von Saligen finden, geheimnisvollen
Frauen, die in engem Kontakt zur Natur stehen. Um
diese – nicht zuletzt auf psychosozialer Ebene – höchst ausdrucksstarken
und anziehenden Figuren vor dem Vergessen zu bewahren,
sammelte und interpretierte die Sagenforscherin Moidi Paregger
zusammen mit ihrem Mann, dem Psychoanalytiker Claudio Risé,
Geschichten der scheuen, wilden, aber wohlwollenden Naturgöttinnen.
Dabei versuchen sie, dem verlorenen weiblichen Anteil in
Frauen und Männern auf die Spur zu kommen, um auf diese Weise
wieder ein ganzheitliches Selbstverständnis und -erleben des Menschen
zu ermöglichen.
SpracheDeutsch
HerausgeberEdition Raetia
Erscheinungsdatum28. Apr. 2016
ISBN9788872835685
Die Saligen: Kraft und Geheimnis des Weiblichen

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    Buchvorschau

    Die Saligen - Moidi Paregger

    Moidi Paregger

    Claudio Risé

    Die Saligen

    Kraft und Geheimnis des Weiblichen

    Übersetzung aus dem Italienischen

    Wolftraud de Concini

    Edition Rætia

    Zum Buch

    Im gesamten Alpenraum lassen sich Sagen von Saligen finden, geheimnisvollen Frauen, die in engem Kontakt zur Natur stehen. Um diese – nicht zuletzt auf psychosozialer Ebene – höchst ausdrucksstarken und anziehenden Figuren vor dem Vergessen zu bewahren, sammelte und interpretierte die Sagenforscherin Moidi Paregger zusammen mit ihrem Mann, dem Psychoanalytiker Claudio Risé, Geschichten der scheuen, wilden, aber wohlwollenden Naturgöttinnen. Dabei versuchen sie, dem verlorenen weiblichen Anteil in Frauen und Männern auf die Spur zu kommen, um auf diese Weise wieder ein ganzheitliches Selbstverständnis und -erleben des Menschen zu ermöglichen.

    Zu den Autoren

    Moidi Paregger, geboren 1954 in Meran, Klassisches Lyzeum, Studium der Medizin in Bologna. Nach mehreren Arbeitsjahren als Ärztin Eröffnung einer Privatpraxis in Allgemeiner Medizin nach homöopathischer und anthroposophischer Heilweise in Bozen.

    Claudio Risè, geboren 1939 in Mailand, Studium der Politikwissenschaften am Institut Universitaire de Hautes Etudes Internationales in Genf. Dozenturen in Mailand, Varese und Triest. Seit 1976 verstärkte Beschäftigung mit der Psychoanalyse und Arbeit als Psychotherapeut. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschlechterpsychologie, zudem Autor für die Tageszeitung „Corriere della Sera".

    © Edition Raetia, Bozen 2009

    Titel der italienischen Ausgabe: Donne selvatiche, Sperling & Kupfer, 2006 Umschlagbild: Ida Prinoth

    Grafisches Konzept: Dall’O & Freunde, Bozen

    Gesamtherstellung: Fotolito Varesco, Auer

    ISBN print: 978-88-7283-351-3

    eISBN ebook: 978-88-7283-568-5

    Unser Gesamtprogramm finden Sie unter www.raetia.com

    Fragen und Anregungen richten Sie bitte an info@raetia.com

    Inhalt

    Vorwort

    Die Saligen

    Heute: eine verwirrte Wilde

    Wie die wilden Frauen aussehen

    Die Saligen und die Musik

    Die „Jungfrauen"

    Ihr Heim

    Die geheimen Begegnungen mit den wilden Frauen

    Die Saligen und die Tiere

    Moderne Wilde und die Welt der Tiere: Brigitte Bardot und Josephine Baker

    Elizabeth Costello und „Das Leben der Tiere"

    Ihre Gaben

    Das vitale Geschenk: der kostbare Samen

    Das Geschenk des Webens und des Garnknäuels

    Das Geschenk des Garnknäuels und die moderne Frau

    Das kostenlose Geschenk

    Die zeitgenössische Frau und das Geschenk Josephine Baker, eine wilde Frau

    Glückbringende Gaben, Hochzeits- und Trauergeschenke. Die Blumen

    Wer den Wilden Milch gibt, bekommt Gold

    Die kostbaren Geschenke: Gold und Ringe

    Das Buschweibchen

    Die wilden Frauen und die Welt der Menschen

    Ihre Herkunft

    Die wilden Frauen und das Schlaraffenland

    Adams Töchter

    Rebellische Engel, Geister der Bäume

    Die wilde Frau und die Ehe

    Die Probe der Umwerbung

    Das Geheimnis des Namens

    Das Geheimnis der Saligen: ihre Herkunft

    Der wilde Edric und seine verschwundene Braut

    Die Macht und die verlorene Schönheit

    Die Geschichte des Ritters Launfal und der schönen Tryamour

    In der Gegenwart leben und die Zukunft kennen

    Die wilden Frauen und die Ehefrauen ihrer Geliebten

    Die Wilde als Heilerin der Ehe

    Das Verbot der Kontrolle und des Besitzes

    Die Freundschaft mit den freisinnigen Ehefrauen

    Ratschläge und Hilfeleistungen der wilden Frauen

    Die Aussaat

    Die Probe der Gewinnsucht

    Bohnen im Schnee säen

    Die Zeiten des Erdreichs

    Der Almhirt mit dem schönen Busen

    Die Kornernte und die Heumahd

    Die Tiere, die Milch und die Butter

    Der Ruf aus dem Wald

    Die Hochherzigkeit der Saligen

    Die wilde Frau geht segnend fort

    Die Salige geht verdrossen fort

    Die Saligen und ihre Verbundenheit mit den Bäumen des Urwaldes

    Wilde Frauen und wilde Männer

    Der Mythos der wilden Jagd

    Die zerstörerische Seite der wilden Frauen

    Die Kraft der wilden Frau

    Das Weiblich-Geistige der Natur

    Wie man der wilden Frau begegnet

    Die weibliche Kraft und die Naturelemente

    Die „numinose" Energie der Saligen

    Wilde Frauen und heiliger Schauer

    Die Salige als Urheberin von Wohlstand

    Die wilden Frauen und das Licht der Natur

    Die abgeschnittenen goldenen Haare

    Die wilde Seherin

    Die Frauen, die das Schicksal weben: Nornen und Walküren

    Die wilde Frau als Anima

    Die Ehrfurcht vor dem Geheimnis und seine Enthüllung

    Der Konflikt zwischen Geheimnis und rationalem Denken

    Der Konflikt Tradition-Moderne

    Das Geheimnis der Mann-Frau-Beziehung. Der Konflikt zwischen Liebe und Besitz

    Der Sinn der Begegnung mit der wilden Frau

    Die christianisierte Wilde

    Christentum und wilde Kräfte

    Die christianisierte Sage

    Die Germanisierung der wilden Frau

    Hulda, die Königin der Saligen

    Wilde Frauen und Stereotype

    Naturgeister und Lebensenergie nach Rudolf Steiner

    Die Wilde in uns befreien

    Anmerkungen

    Liebe Leser,

    machen Sie es wie die Kinder: Schauen Sie sich in diesem Buch vor allem die Bilder an. Bilder? Aber wie, werden Sie sagen, da gibt es ja nicht ein einziges Bild! Das stimmt: Abbildungen sind keine da, aber Bilder viele, ja sehr viele. Es sind Bilder der wilden Frauen, die manchmal sehr schön sind, manchmal unheimlich. Und sie weisen uns einen Weg, eine Lebensart – ein Leben in Harmonie mit der Natur, mit unserer Natur als Menschen, Frauen und Männer. Sie leben in der Natur, die sehr viel größer ist als wir und die uns Energie, Richtung und Freude schenkt, wenn wir sie zu sehen und anzuhören verstehen.

    Machen Sie sich nicht auf die Suche nach Konzepten und Interpretationen. Sie sind in diesem Buch enthalten und sind Ihnen hoffentlich nützlich. Aber zuvor müssen sie die wilden Frauen zu Wort kommen lassen, müssen sie in stiller Aufmerksamkeit betrachten. Wie Don Juan zu Castaneda sagt, wie es aber auch (wiewohl auf andere Weise) der Psychologe Carl Gustav Jung ausdrückt: „Am liebsten sehe ich; denn ein Mann der Erkenntnis kann nur sehend erkennen."

    Dieses Buch zeigt Ihnen Bilder, Bilder von Frauen, um Ihr Herz und Ihre Sinne zu berühren. Nicht wer verstanden hat, sondern – wie es im apokryphen Thomasevangelium heißt – „wer gerührt war, wird über alles herrschen". Und damit ist das eigene Leben gemeint.

    Die Saligen

    Heute: eine verwirrte Wilde

    Verena: Morgen wird sie 35. Eine beneidenswerte Karriere in einer männlichen Domäne: Sie ist für die Logistik auf einem der größten Flughäfen Europas verantwortlich. Sie ist intelligent, schlagfertig und berühmt, wird von Radio- und Fernsehsendern verfolgt. Ein intensives gesellschaftliches Leben, auch weil sie wenig schläft. Viel Sex, fast keine Liebe. Sehr viel Anspannung und Stress: Alles muss bestens funktionieren, auch das Unvorhergesehene muss berücksichtigt und unter Kontrolle gehalten werden.

    Verena ist müde am Vorabend ihres 35. Geburtstages, dieser Schwelle zur zweiten Lebenshälfte – wie die Psychologen sagen. Über dem Flughafen liegt dichter Nebel, die Sicht ist gerade noch ausreichend, dass er nicht geschlossen werden muss. Es ist verboten, sich zu Fuß auf die Startbahn zu begeben, ohne ein Verkehrsmittel. Sie weiß von diesem Verbot, übergeht es aber. Ihr liegt daran, dass die Fracht nach London, heikle Güter, die ihr der Bürgermeister persönlich anvertraut hat, reibungslos abgeht. So zumindest erklärt sie es der Sekretärin, die den Kopf schüttelt. Aber vielleicht will sie nur in diesen schwarzen Nebel eintauchen. Sie beeilt sich, geht rasch los. Der Führer des Drehkrans sieht sie erst, als Blut- und Fleischspritzer die Windschutzscheibe besudeln.

    So stirbt Verena. Am Tag vor ihrem 35. Geburtstag.

    Verena, diese Frau, die sich nur selten ablenken ließ, um den Abflug der Maschinen zu kontrollieren, hatte schon seit längerer Zeit den Kontakt zur Erde verloren. Der Flughafen war von großen Wäldern umgeben, aber sie ging nie hinein. Sie hatte immer zu tun. Verena, die Herrin der dröhnenden Motoren, hörte schon seit Jahren nicht mehr die Klänge der Natur. Die eleganten Tailleurs, die sie bei Tag trug, und die schicken Roben, in die sie sich abends zum Ausgehen kleidete, waren zu ihrer Motorengondel geworden, zu ihrer Uniform. Und was steckte darin? Eine erfolgreiche Frau, eine sehr unglückliche Frau. Eine Frau, die mehr Angst vor dem kommenden Tag hatte als vor dem schwarzen Nebel, in den sie hineineilte, um sich verschlingen zu lassen: ein für alle Mal.

    Dieses Buch ist den vielen unglücklichen Frauen gewidmet, den Frauen, die nicht so glücklich sind, wie sie es verdienten, die sich auf denselben Hightech-Pisten des großen Erfolgs bewegen, sicheres Auftreten, hoher Verdienst und tiefste Einsamkeit, an der Verena gelitten hatte. Und auch den Männern, die diese Frauen lieben, denen es aber nicht gelingt, sie zu ergreifen, auf ihren Karren zu heben und heimzuführen.

    Dieses Buch ist einem großen Teil von uns allen gewidmet.

    Wie die wilden Frauen aussehen

    In vielen Gegenden der Alpen werden Geschichten von wilden Frauen erzählt: vom Engadin bis Slowenien, von den dichten Wäldern um den Flughafen, auf dem Verena ihr Regiment führte, bis zu unseren norditalienischen Städten. Und überall werden sie als faszinierend schöne Wesen beschrieben.¹

    Diese ihre Schönheit müssen wir erneut entdecken; denn sie verweist uns auf andere Dinge, die größtenteils verloren gegangen sind, ohne die aber eine Frau nicht leben kann. Und ohne die ein Mann schlecht lebt.

    Im Fassatal wird noch diese Geschichte erzählt:*

    „Auf Campitello lebte ein Bauer, der zur Mahd auf die hohe Val Duron ging. Einmal, während er so im Schatten saß und sich ausruhte, sah er eine Gruppe von äußerst schönen Mädchen, die vom Pass herunterkamen und gerade auf seiner Wiese anhielten, um Kräuter und Blumen zu pflücken. Das Herrliche war, dass diese Mädchen wie aus Glas gemacht schienen, so durchsichtig waren sie. Die Sonnenstrahlen drangen durch sie durch, ohne aufgehalten zu werden, sodass die Mädchen keinen Schatten hatten."²

    Manchmal sind die Saligen weiß gekleidet – wie in dieser Sage:

    „Im Bacher Wald in Untereggen bei Wälschnoven sieht man hie und da ein winzig kleines, überaus herziges Mädchen, in schneeweißes Gewand gekleidet.³ Es geht, ganz gleich ob bei Tag oder Nacht, ohne daß man es vorher bemerkt hätte, vor den Augen der Leute quer über den Weg waldeinwärts, hält sich gerne an den Waldbächlein und huscht, ohne daß sein Fuß irgendwo angienge, über die Wässerlein dahin."⁴

    Und mehr noch: „Laut einer Grenzlandsage hatte ein Waldbauer zu Höhenhart ein schönes blondes Mädchen zu sich in den Dienst genommen. Dieses Mädchen lebte nur von frischer Milch und hatte Hände so zart, daß man sie zu keiner anderen Arbeit als zum Flachsspinnen verwenden konnte."

    „Das Wildweiblein am Bidmig und am wilden Rasten bei Steeg im Lechthal und die drei Fräulein zu Ehrenberg spinnen und weben Leinwand, werfen sie in die Höhe und hängen sie auf den Sonnenstrahl, um sie zu bleichen. Man sieht oft ihre Spinnrocken niederscheinen ins Thal, und oft trägt’s Windeln herab, denn sie hängen ihre Wäsche in der Luft auf."

    „Auf dem Coglio, einem Hügelland bei Görz, das die Deutschen im Mittelalter ‚in den Ecken‘ nannten, erhebt sich nachts oft ein starker Wind, der die Versammlung der Nachtgeister ankündigt. In der Finsternis steigen die Vilen⁷ in das Tal hinab. Ihre durchsichtigen Gewänder glitzern wie mit Diamanten und Juwelen bestreut. Auf einem Wiesengrunde reichen sie sich die Hände und schreiten einen Reigen. Bei Sonnenaufgang verlieren sie ihren Schmuck; die Edelsteine lösen sich nach und nach von den wallenden Schleiern und werden zu Reif auf dem Wiesengrund."⁸

    Schon in diesen Erzählungen zeichnen sich einige Merkmale der wilden Frauen ab.

    Helle, Leichtigkeit, Beziehung zu lichten Farben: Das Leinen wird auf die Sonnenstrahlen gehängt, um es zu bleichen, damit es weißer wird.

    Transparenz, Licht, Mond, Tanz. Und der Kreis, die weibliche Totalität.

    Nicht Konkurrenz zwischen Frauen, um den Beruf oder das Image, sondern der Reigen, den sie auf einer Wiese tanzen, in einer mondhellen Nacht. Formen der Schönheit, des Glanzes, der Kraft, des Frohsinns und der Harmonie, wie sie die schöne Wilde, von der in diesen Geschichten die Rede ist, den Frauen – und den Männern – bieten kann, die heute das Gefühl haben, sich von diesen Energien entfernt zu haben.

    Die Saligen und die Musik

    In den Sagen wird oft erzählt, dass die Saligen gern singen und tanzen. „Auf Mühlegg und beim Taufnerbrünnel tanzten die Saligen am liebsten. Sie waren prächtig gekleidet und sangen wunderschön zum Tanze. Da hätten die Burschen, die dies sahen, wohl auch gerne mitgetanzt, aber nur ganz braven wurde dies Glück zu Theil."⁹ Oft ist der Gesang die Kraft, die eine tiefe Verbindung zwischen den Saligen und den Menschen herstellt. Und es sind der Gesang und die Musik, die sie in die Natur und in die Gemeinschaft der anderen wilden Frauen zurückrufen.

    So wird in der Sage vom wilden Mädchen aus Trafoi (von der es mehrere Fassungen gibt) erzählt, dass die Saligen in den Vollmondnächten auf den Felsen saßen und sangen. Ein junger Bauer verliebte sich in eine von ihnen, und sie willigte ein, seine Frau zu werden. Als sie dann aber in einer Vollmondnacht den schönen Gesang ihrer Schwestern von den Berghöhen herabklingen hörte, überkam sie tiefe Traurigkeit, und sie ging wieder zu ihren Schwestern zurück, um mit ihnen zu singen.

    In allen traditionellen Kulturen – und eben auch in dieser, aus der diese Sagen stammen – stellt der Gesang oft den Beginn des Opferritus dar. In einem gewissen Sinn vollziehen die Saligen schon bei ihrem Heraustreten aus dem Wald ein Opfer, einen sakralen Ritus, indem sie den Menschen ihr Wissen und ihre Energie überbringen. Und dieser Ritus beginnt mit dem Gesang. Marius Schneider bemerkt dazu: „Das Opfer ist die Grundlage jeder Schöpfung […] das nobelste, grundlegendste Opfer geht in klingender Form vom Mund aus und bietet sich als Beute dem Ohr dar […] nichts kommt zum Klingen, wenn ihm nicht ein Opfer vorausgeht."¹⁰

    Das Eingreifen der wilden Frauen in die Welt kann demnach – wenn man Schneiders Thesen interpretiert – als Ausdruck von drei aufeinanderfolgenden Kräften verstanden werden: „Die erste ist die Kraft der Stimme (der Gesang, die Worte); die zweite Kraft ist die Verwandlung und Materialisierung dieser gesungenen Kraft in Nahrungsenergie; die dritte ist die Zeugungsfähigkeit." Singen, essen und zeugen (das geistige, das vegetative und das sexuelle Leben) sind demnach drei Aspekte derselben elementaren Schöpfungskraft.¹¹ In den in diesem Buch enthaltenen Sagen von den Saligen werden wir sehen, dass diese Frauen zuerst singen, sich dann um die körperliche und geistige Nahrung der Männer kümmern und sich schließlich fortpflanzen, um dann zu der elementaren Schöpfungskraft, von der sie abstammen, zurückzukehren. Doch alles beginnt mit dem Gesang. Schon D.H. Lawrence hatte gesagt: „Ears can hear deeper than eyes can see" (Das Ohr kann tiefer hören, als das Auge sehen kann).¹²

    Um einer wilden Frau – außer uns und in uns – zu begegnen, müssen wir gut die Ohren auftun und zuhören können.

    Der Gesang, der Tanz und die Musik unter Frauen gehörten nicht zufälligerweise zu den charakteristischsten Ausdrucksformen des beginnenden Feminismus, als die Suche nach den im eigentlichen Sinn weiblichen Kräften, nach den Riten, in denen sie sich ausdrückten, und nach ihren Symbolen vor allem in den kulturell fortschrittlichsten Strömungen mehr ins Gewicht fiel als die Konkurrenz mit den Männern um die Macht. Auch dieser Tatbestand ist von der Konsumgesellschaft weggefegt worden, die alles zur Ware herabwürdigt. An die Stelle der Frau, die nicht nur die Reigen,

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