Scary Harry (Band 2) - Totgesagte leben länger
Von Sonja Kaiblinger und Fréderic Bertrand
4/5
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Über dieses E-Book
Der zweite Band der kultigen Kinderbuchreihe um Otto und Sensenmann Harold - ein spannendes, witziges und Geist-reiches Abenteuer für kleine und große Leser.
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Rezensionen für Scary Harry (Band 2) - Totgesagte leben länger
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Buchvorschau
Scary Harry (Band 2) - Totgesagte leben länger - Sonja Kaiblinger
Ein ungebetener Geist
Otto! Sag mal, hörst du schlecht?«, krähte eine Stimme. »Zeit zum Aufstehen. Raus aus den Federn!« Kurz darauf streifte irgendetwas Ottos Haare und plumpste neben ihm auf das Kopfkissen. Otto öffnete die Augen einen Spalt. Vincent, seine Hausfledermaus, saß vor ihm.
Otto brummte unwillig, drehte sich um und bohrte sein Gesicht tief ins Kissen. Dabei kniff er die Augen ganz fest zu. Er hatte gerade einen spannenden Traum gehabt, an dem er unbedingt festhalten wollte. Sensenmann Harold hatte ihn ins Jenseits mitgenommen. Aber es war nicht die Spur gruselig gewesen. Sie waren einfach durch das Portal in der Pendeluhr spaziert und in einem abgefahrenen, kitschig-bunten Land hinter den Wolken gelandet, das Otto irgendwie an die Welt von Alice im Wunderland erinnert hatte.
Seit Otto durch Zufall Freundschaft mit einem echten Sensenmann geschlossen hatte, träumte er oft von Harold und ihren gemeinsamen Abenteuern. Ins Jenseits hatte Harold Otto zwar in Wirklichkeit noch nicht mitgenommen, aber vor ein paar Wochen hatten sie einem geisterklauenden Vergnügungsparkbesitzer namens Philippe Bleu das Handwerk gelegt. Sogar Vincent hatte sich dabei als ziemlich nützlich erwiesen. Inzwischen war er jedoch wieder zu seiner Lieblingsrolle als Nervensäge vom Dienst zurückgekehrt.
»Nun komm schon!«, rief Vincent jetzt und hüpfte auf Ottos Kissen auf und ab. »Es ist höchste Zeit. Erste Stunde: Biologie. Hopp, hopp, hopp – aus dem Bett im Schweinsgalopp!«
Plötzlich fuhr ein stechender Schmerz durch Ottos Ohrläppchen.
Otto rappelte sich hoch und funkelte sein Haustier wütend an. »Mann, Vincent, geht’s noch? Du hast mich gebissen!«
Vincent grinste und zeigte seine Vampirzähne. »Ich bin besser als jeder Wecker!«
»Du spinnst doch!« Otto deutete zum Fenster. »Es ist tiefste Nacht. Der Vollmond steht noch am Himmel.«
»Quatsch. Es ist sieben Uhr morgens«, beharrte Vincent. Trotzig verschränkte er die Flügel.
»Es ist Nacht!«
»Es ist Morgen!«
»Nacht!«
»Morgen!«
»Klappe!« Otto warf sich zurück aufs Bett. Er würde ganz sicher nicht um zwei oder drei Uhr morgens aufstehen und zur Schule gehen, bloß weil eine freche Fledermaus es verlangte. Vincents Streiche waren auch schon mal besser gewesen.
»Jetzt hör doch, Otto.« Vincent wedelte mit einem Flügel vor Ottos Nase herum. »Die Pendeluhr unten im Salon schlägt gerade.«
Otto lauschte. Eins, zwei, drei … Tatsächlich zählte er ganze sieben Schläge.
Vincent warf ihm einen triumphierenden Blick zu. »Siehst du? Tante Sharons Uhren gehen nie falsch, das solltest du inzwischen wissen. Sie kontrolliert sie jeden Abend.«
»Na fein.« Otto seufzte und setzte sich auf. Wo Vincent recht hatte, hatte er recht. Ottos Tante sammelte Uhren aller Art und war berühmt dafür, dass sie auf die Sekunde genau gingen. Aber warum kündigte die Pendeluhr im Salon schon den Morgen an, obwohl es draußen stockfinster war? Irgendwas stimmte da nicht.
Otto beschloss nachzusehen. Träge kroch er aus dem Bett und tappte die Treppenstufen hinunter in den Salon.
Dort staunte er nicht schlecht. Sämtliche Uhren zeigten auf einmal unterschiedliche Zeiten an! Laut der großen Pendeluhr war es sieben Uhr. Die Zeiger der Kuckucksuhr, die sich neben Otto an der Wand befand, standen hingegen auf Mitternacht. Das Holztürchen öffnete sich und der Kuckuck schrie sich ganze zwölf Mal die Seele aus dem Leib, während gleichzeitig der Alarm einer Digitaluhr im Eck losging. Das Display zeigte halb sechs Uhr früh an. Seltsam!
»Meine Güte. Was ist das denn für ein unsäglicher Lärm?« Sir Tony war neben Otto aufgetaucht. Er trug einen gestreiften Pyjama, eine Schlafmütze mit Bommel und eine Kerze in der Hand. »Hat der Kuckuck Fieber?«
Sir Tony war einer der drei Hausgeister, die in Tante Sharons Villa wohnten. Außer Otto konnte sie niemand sehen. Warum ausgerechnet er diese seltsame Gabe besaß, wusste Otto nicht, aber inzwischen kam er ganz gut damit klar.
Gruselig waren Sir Tony, Bert und Molly nicht. Anstrengend allerdings sehr wohl. Besonders Sir Tony, der sich für den heimlichen Hausherren hielt. Deshalb ging er jeder Unregelmäßigkeit im Haushalt auf den Grund.
»Ich habe doch selbst keine Ahnung.« Otto hob die Schultern und knipste den Lichtschalter an, um die Kuckucksuhr besser inspizieren zu können. Von außen machte das hässliche Ding einen ganz normalen Eindruck. »Tante Sharons Uhren sind nie kaputt. Was ist nur los?«
Kaum hatte Otto die Worte ausgesprochen, fuhr ein Windstoß durch den Raum. Der Kronleuchter klirrte und das Bild von Onkel Archibald neben dem Fernseher geriet plötzlich schief. Ottos Arme überzogen sich mit Gänsehaut.
»Vielleicht sind das Bert und Molly, die uns einen Streich spielen wollen«, überlegte Otto und kratzte sich am Kopf. Seine zwei anderen Hausgeister verhielten sich oft genug wie die reinsten Kindsköpfe, aber vor Tante Sharons Uhren hatten sie normalerweise großen Respekt.
»Ich glaube nicht.« Sir Tony schüttelte den Kopf, während die Porzellanfigürchen auf der Kommode wie von Geisterhand auf den Boden purzelten. »Die beiden benehmen sich üblicherweise nicht wie Poltergeister.«
Aus dem Augenwinkel sah Otto etwas am Kamin vorbeizischen. Im nächsten Moment rotierten die Zeiger von Tante Sharons Kaminsimsuhr gegen den Uhrzeigersinn.
Otto kam ein neuer Gedanke. »Vielleicht … handelt es sich hier ja um einen fremden Geist.« Er blinzelte, konnte aber nichts erkennen.
Sir Tony zog die buschigen Augenbrauen hoch. »Ein fremder Geist? Hier in meinen vier Wänden? Na warte, dem werde ich die Meinung sagen.« Er schwebte auf die Kaminsimsuhr zu und reckte den Hals. »Wer wagt es, ohne Erlaubnis in Sir Tonys Villa einzudringen? Das ist Hausfriedensbruch!«
Eigentlich war es längst nicht mehr Tonys, sondern Tante Sharons Villa, aber Otto fand es besser, seinen Freund nicht zu unterbrechen.
Anstelle einer Antwort gab die große Pendeluhr in der Ecke einen merkwürdigen, schiefen Schlag von sich. Ihre Zeiger rotierten jetzt in entgegengesetzte Richtungen.
»¡Cállate! Halt die Klappe, du fette Sack!«, ertönte schließlich eine kichernde Stimme aus dem Uhrenkasten. Irrte Otto sich oder konnte er einen spanischen Einschlag heraushören?
Im nächsten Moment hüpfte eine schmächtige Gestalt aus dem Uhrenkasten und baute sich selbstbewusst vor Sir Tony auf. »Das ist jetzt meine Spuk-casa! Ich bin Fernando, Stierkämpfer aus Sevilla!« Der Geist sprach mit rollendem r und reckte das Kinn, um eindrucksvoller zu wirken. »Ich habe es mit viele fette Stiere aufgenommen, dagegen bist du nur eine lauwarme Tortilla! ¿Claro?«
Der Geist war ungefähr so groß wie Otto, hatte pechschwarzes gelocktes Haar, einen langen gezwirbelten Schnauzbart und trug ein Kostüm mit goldenen Verzierungen. Mit einer blitzschnellen Handbewegung zog er ein rotes Tuch hervor und wedelte damit vor Sir Tonys Nase herum. »¡Arrriba!«
»Meine Güte.« Sir Tony verdrehte die Augen und sah den Winzling abschätzig an. Offenbar dachte er nicht mal daran, sich mit diesem frechen Knirps zu duellieren. »Welcher einfältige Sensenmann hat dich denn hier vergessen? Bestimmt war dieser Harold wieder mal zu faul –«
»Jetzt aber mal halblang.« Ottos Blick schnellte von dem mysteriösen Torero zum Türrahmen, wo just in diesem Augenblick Harold mit einem Stapel Gurkengläser erschienen war. »Wer sagt denn, dass dieser missratene Speedy Gonzales hier auf mein Konto geht?«, empörte er sich. »Du solltest den Geistern kein Sterbenswörtchen glauben, Otto!« Beinahe rutschte ihm eines der Gurkengläser herunter.
Unwillkürlich musste Otto grinsen. Als er dem Skelett mit der Kutte und den verschiedenfarbigen Turnschuhen zum ersten Mal hier im Salon begegnet war, hatte er sich vor Schreck beinahe in die Hosen gemacht. Doch das war inzwischen Vergangenheit. Dafür war der Sensenmann ein viel zu liebenswerter und witziger Zeitgenosse. Er konnte ja nichts für seinen Job.
Jede Nacht lieferte Harold die Gurkengläser mit den frisch eingesammelten Seelen ins Jenseits. Das Portal befand sich genau hier in Tante Sharons Wohnzimmer, und zwar in der alten Pendeluhr.
»Ich dachte ja nur«, murmelte Sir Tony. »Jeder herumspukende Geist sitzt doch nur deshalb hier auf Erden fest, weil einer von euch Sensenmännern ihn nicht rechtzeitig eingefangen hat.« Er schnaubte. »Und du bist ja wohl für dieses Gebiet hier zuständig.«
Harold stellte die Gurkengläser auf dem Wohnzimmertisch ab. »Das ist zwar korrekt«, er zückte sein Schmetterlingsnetz und schritt auf den fremden Geist zu, »aber bei dem da haben eindeutig meine spanischen Kollegen Mist gebaut.«
Trotzig blickte ihm der Torero entgegen. »Und wennschon. Ich wohne jetzt in diese Villa«, beharrte er und ließ seinen Blick durch den Salon schweifen. »Die Ambiente hier gefällt mir. Die vielen Uhren machen die casa so … heimelig.«
Harold tippte sich mit seinem knochigen Zeigefinger an die Schläfe. Es klang hohl. »Heimelig? Bei dem ständigen Ticken? Der Kerl hat sie nicht mehr alle.« Dann, an den Geist gewandt, fragte er: »Wie lange bist du eigentlich schon tot?«
»Lange genug«, blaffte der Torero.
»Liegt es länger als einen Vollmond zurück?«, erkundigte sich Harold.
Otto sah gespannt zu. Von Harold wusste er, dass sich die Seelen Verstorbener nur bis zum nächsten Vollmond ins Jenseits bringen ließen. Danach waren sie zu einem Geisterdasein auf Erden verdammt.
»Ich glaube, er ist schon länger tot«, warf Sir Tony ein. »Er sieht schon aus wie ein richtiger Geist.«
»Stimmt«, pflichtete ihm Otto bei. Wenn jemand gerade erst das Zeitliche gesegnet hatte, erschien seine Seele als rot glühender Ball über dem Kopf des Toten. Das hatte Otto selbst beobachtet, als sein Nachbar Mr Olsen gestorben war.
Harold überlegte. »Nun, wir können ganz leicht herausfinden, ob wir den Typ noch loswerden können.«
»Ai, ai, ai. Was zur Guacamole –«, fluchte der kleine Geist, aber in diesem Moment hatte Harold schon sein Schmetterlingsnetz über ihn gestülpt. Mit einer geübten Handbewegung stopfte er ihn in ein leeres Glas und schraubte den Deckel darauf. Nun konnte Otto den Kerl nur noch dumpf auf Spanisch fluchen hören.
»Mal sehen, ob das Jenseits den noch aufnimmt«, murmelte Harold, während er sich an der Pendeluhr zu schaffen machte. Nachdem sie dreizehn Mal geschlagen hatte, öffnete er den Uhrenkasten und stellte das Glas aufs Förderband. Es dauerte bloß ein paar Sekunden, bis das Band Harolds Gurkenglas wieder ausspuckte. Aus dem kleinen Schlitz unter dem Ziffernblatt kam ein Bon.
Harold hielt den Zettel so, dass Otto ihn auch lesen konnte.
FEHLER! Abgabefrist überschritten. Seele kann nicht mehr angenommen werden.
Der Geist im Glas grinste frech.
»Mist«, fluchte Harold und nahm etwas widerwillig das Gurkenglas entgegen. Er betrachtete den Inhalt. »Was mache ich denn jetzt mit dem Kerl?«
»Hierbleiben kann er jedenfalls nicht«, sagte Sir Tony entschlossen und verschränkte die Arme.
Da musste Otto ihm allerdings recht geben. Drei Geister, eine sprechende Fledermaus und ein chaotischer Sensenmann reichten ihm. Er brauchte nicht auch noch einen streitlustigen Torero, der es liebte, an der Uhrzeit herumzuschrauben.
»Moment mal.« Otto hatte eine Idee. »In der Kürbisgasse gibt es doch eine alte, verfallene Villa, gleich neben dem Haus von meinem Klassenkameraden Stan.«
Harold lachte. »Stan? Der Typ, der sich vor Angst angepinkelt hat, als er mich gesehen hat? Hat der dich nicht immer geärgert?«
Otto nickte. Stan war eine echte Plage. Aber das windschiefe Haus auf seinem Nachbargrundstück schien geradezu ideal für einen Geist. Und wenn Stan von dem Spuk etwas mitbekam, umso besser.
»Ich könnte ihn da hinbringen und freilassen«, bot Harold an und steckte das Glas in die Seitentasche seiner Kutte. »Gibst du mir die genaue Adresse, Otto?«
Otto überlegte. »Kürbisgasse sechzehn. Nein, Moment, ich glaube,