LARP: Nur ein Spiel?: Aufsatzsammlung zum MittelPunkt 2013
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Zusammengestellt und aufbereitet anlässlich der Live-Rollenspiel-Konferenz MittelPunkt 2013.
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Buchvorschau
LARP - Dr. Heinrich Dickerhoff
Dickerhoff
LIVE-ROLLENSPIEL IN DER ERWACHSENENBILDUNG
HINTERGRÜNDE – KONZEPTION – CHANCEN UND RISIKEN
Ich war bereits über 50, als ich zum ersten Mal bei einem Live-Rollenspiel dabei war – und war gleich fasziniert. Das ist mir einige Male in meinem Leben so gegangen: als ich die erste richtige Märchenerzählerin gehört habe, als ich zum ersten Mal einen Langbogen in der Hand hielt, als ich zum ersten Mal ein Schwert führte. Lauter Erfahrungen, die man nicht braucht, so wenig wie Wein oder Musik. Und doch machen diese Erfahrungen ganz viel von meiner Lebensqualität aus.
All diese Erfahrungen haben auch meine Weltsicht beeinflusst, bestärkt und korrigiert. Und diese Sicht auf das Leben ist für mich geprägt vom Christentum in seiner katholischen, das heißt für mich vor allem sehr sinnlich erfahrbaren Tradition. Dabei bin ich als Theologe, Historiker und psychologisch sensibilisierter Begleiter nicht unkritisch gegenüber den alten und heutigen Grenzen der institutionalisierten Kirche, wie der einzelnen Christenmenschen, den – für mich vor allem befreienden und ermutigenden – Impuls Jesu glaubwürdig zu leben; auch ich bleibe immer dahinter zurück. Aber, und darum geht es in diesem kleinen Beitrag, das Live-Rollenspiel habe ich auch als Chance zur Bildung erlebt, zur Herausbildung der eigenen Lebens-Berufung, und um diese Herausforderung geht es nach meinem Verständnis ganz wesentlich auch im Christsein.
Seit 1978 arbeite ich in der Erwachsenenbildung, in einem großen Bildungshaus in Trägerschaft der katholischen Kirche, mittlerweile als pädagogischer Leiter. Von Anfang an setzte ich in Seminaren auch spielerische Elemente ein: Planspiele, um das Gruppenverhalten zu verdeutlichen, Rollenspiele als Training für Patienten- oder Konfliktgespräche. In religiösen Kursen arbeitete ich auch mit der Form des Bibliodrama, bei dem man sich in einen biblischen Text hineinspielt, und entwickelte in Familienseminaren Vergegenwärtigungen biblischer Erfahrungen, die sich am mittelalterlichen Mysterienspiel orientierten. Zu Beginn der 90er Jahre lernte ich erst eine Märchenerzählerin kennen und dann auch selbst das Erzählen von traditionellen Märchen und Sagen, die in traumhafter Bildersprache Lebenserfahrungen verdichten. Seither geht es in den meisten meiner Kurse um die uns ein-gebildeten inneren Bilder, die die Märchen ins Licht des Bewusstseins holen: Kopfkino und Ermutigung, auf die Kraft der eigenen Phantasie zu achten! Und ich lernte das Langbogen-Schießen kennen und schätzen, als eine großartige Möglichkeit, der eigenen Haltung und Ausrichtung nachzuspüren und das Loslassen auch körperlich zu lernen. Im Jahr 2000 nahm mein damals 12jähriger Ältester ein Tischrollenspiel mit in den Urlaub, und ein paar Jahre lang war das für mich und meine vier Kinder eine wunderbare Möglichkeit, gemeinsam auf Abenteuersuche zu gehen. Später musste ich als Chauffeur meine jüngeren Söhne an den Niederrhein fahren, zu einem Live-Rollenspiel, und aus dem milde lächelnden Fahrer-Vater wurde innerhalb von Stunden ein begeisterter Mitspieler.
Wie beim Märchen und Bogenschießen konnte ich gar nicht anders, als eine mir lieb gewordene Lebenschance in meine Arbeit einzubinden. So gibt es nun – von Kollegen eher skeptisch beobachtet – seit drei Jahren jeweils im Juli ein Rollenspiel-Wochenende in der Katholischen Akademie Stapelfeld, und zudem Rollenspiel-Elemente in etlichen Seminaren mit Familien, mit Teams und Unternehmen.
Ich möchte nun kurz skizzieren, wie ich das Live-Rollenspiel sehe und warum ich ihm – neben dem für mich unverzichtbaren Spaß-Faktor – auch eine durchaus sinn-volle Bedeutung abgewinnen kann.
Live-Rollenspiel hat, so empfinde ich es, eine gewisse Nähe zum ursprünglichen Karneval, der ebenfalls auch ein äußerlich durch Kleidung sichtbar gemachter Ausbruch aus normalen Rollen und Mustern war. Doch während der Karneval in repressiven Zeiten Ausgelassenheit feierte, geht es im Live-Rollenspiel vor allem um das, was meiner Überzeugung nach vielen Menschen in den postmodernen Wohlstandsgesellschaften fehlt: Abenteuer und Geheimnis.
WARUM LIVE-ROLLENSPIEL IN DER BILDUNGSARBEIT ?
Wenn ich das Live-Rollenspiel auch als Lern-Chance sehe, so bleibt es für mich doch zuerst ein Spiel, und wie jedes Spiel verliert es durch Pädagogisierung seinen Reiz und Zauber. Wer das Live-Rollenspiel konsequent pädagogisieren wollte, würde es meiner Ansicht nach zerstören – so wie alle Kunst und Religion durch Moralisieren und Pädagogisieren beschädigt wird. Aber gerade wenn die pädagogische Absicht nicht im Vordergrund steht, ist das Live-Rollenspiel auch ein Lern-Raum. Es geht freilich um ein Lernen aus Erfahrungen, das nicht in geplanten Lernschritten angegangen wird, sondern – manchmal und nicht für alle Mitspielenden – bei einer nachträglichen Reflexion bewusst werden kann.
Live-Rollenspiel ist und bleibt für mich zuerst ein Vergnügen für alle Beteiligten, ein zweckfreies und zwangloses Spiel mit der Lust, sich in andere Rollen zu begeben, noch einmal Kindheitsträume auszuleben, sich an Lagerfeuerromantik zu erinnern und sich in ausgefallene Gewandungen zu verkleiden. Aber von Kindheit an lernen wir ja nicht nur bewusst, sondern auch spielend.
Was sind nun für mich die wichtigsten Lern- und Erfahrungs-Chancen in einem gut konzeptionierten Rollenspiel?
Zu den Grundfähigkeiten, Kernkompetenzen und Schlüsselqualifikationen, die jede und jeder lernen muss, freilich meist unbewusst und ungeplant, gehört, mit wechselnden und sehr unterschiedlichen Rollen zu leben, mit privaten wie mit professionellen.
Eine solche Rolle zu spielen oder wahrzunehmen, bedeutet keineswegs, sich zu verstellen, gar zu verbiegen, nicht echt und authentisch zu leben. Eine Rolle ist in diesem Sinn ein durch verschiedene Beziehungen, Verantwortlichkeiten und Situationen vorgegebenes Aufgabenprofil, und den mir in dieser Rolle gestellten Aufgaben möchte ich möglichst gerecht werden. Ich war Sohn und bin Vater, Ehepartner und Freund, Kollege und Vorgesetzter, Wissenschaftler und Märchenerzähler etc. Ich will diese mir vom Leben für eine bestimmte Zeit aufgegebenen Rollen ernst nehmen, aber ich darf nicht in ihnen aufgehen – ich bin mehr und anderes als meine Rollen. Der Polizist oder Lehrer, der immer und überall Polizist oder Lehrer ist, selbst am Mittagstisch, der Vorgesetzte, der immer nur in seiner Machtposition auftritt, sie alle sind für ihre Mitmenschen äußerst anstrengend. So wichtig und befriedigend die Rolle als Vater oder Mutter ist, es ist wichtig, sie lassen zu können, wenn die Kinder erwachsen werden und aus dem Haus gehen. Gerade wenn mein Beruf für mich mehr ist, als Job und Verdienstmöglichkeit, wenn ein Ehrenamt mich ausfüllt und glücklich macht, ist es notwendig, nicht mein Selbst, meine Seele ganz daran zu binden, ein Stück Distanz zu wahren – selbst und gerade zu den Rollen, die für mich besonders wichtig, befriedigend und dankbar sind.
Nun entsteht Rollendistanz nicht einfach durch die Einsicht in deren Notwendigkeit, sie muss geübt werden. Sicher nicht die einzige, eher sogar eine ausgefallene, aber dennoch gute Übung in Rollendistanz ist nach meiner Einschätzung und Erfahrung das Live-Rollenspiel.
Zunächst einmal muss ich in eine neue und ganz andere Rolle schlüpfen; schon dabei spüre ich, wie leicht oder schwer mir ein Rollenwechsel fällt – sowohl ins Spiel hinein wie aus dem Spiel zurück in meine Alltagswelt. Diesen Rollenwechsel haben wir auch nach vielen Urlauben oder nach intensiven Seminaren aber er ist dann nicht so klar und ausdrücklich benannt wie im Live-Rollenspiel.
Beim Live-Rollenspiel erlebe ich aber nicht nur zu Beginn oder am Ende des Spiels die wechselnden Rollen, auch im Verlauf des Spiels ist – zumindest für den guten Spieler – immer eine gewisse Distanz zu der gewählten Rolle erforderlich. Natürlich soll ich die gewählte Rolle stimmig und konsequent spielen, ich verderbe mir und anderen die Spielfreude, wenn ich nicht ernsthaft spiele, meine Rolle durchhalte, immer wieder aussteige in die berüchtigten Out-time-Blasen. Und doch muss ich immer soviel innere Distanz bewahren, dass ich in dem, der in-time, also im Spiel, mein erbitterter Gegner ist, doch out-time, also in der Alltagswirklichkeit, einen Mitspieler sehe, einen, der mit mir das gleiche Hobby teilt. Im Spiel darf mein Spielcharakter tödlich beleidigt sein, aber äußerst unangenehm wird es, wenn jemand das Spielgeschehen persönlich nimmt, wenn er wirklich wütend oder gekränkt reagiert – was leider viel zu oft vorkommt.
Konflikte auf Rollen und Konfliktfelder zu begrenzen, Sach- und Beziehungsebenen auseinander zu halten, kann ich zwar bei jedem Spiel üben, bei Mensch ärgere dich nicht, Monopoly oder Fußball, aber schon durch die Spiellänge bietet das Live-Rollenspiel besondere Erfahrungsmöglichkeiten und Lernchancen.
Schließlich möchte ich noch einen Gedanken zur Rollendistanz anfügen, der vielleicht nur für Menschen mit einer religiösen Ausrichtung und Sensibilität nachvollziehbar ist. In den meisten sogenannten Hochreligionen wie Judentum, Christentum und Islam, Hinduismus und Buddhismus gehört zu den spirituellen Grundfähigkeiten die Unterscheidung von Leib und Seele. Nun sind das missverständliche Begriffe, oft belastet durch eine sehr