LARP und die (anderen) Künste: Aufsatzsammlung zum MittelPunkt 2016
Von Órla Fiona Wittke, Herwig Kopp, Daniel Steinbach und
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Über dieses E-Book
Zusammengestellt und aufbereitet anlässlich der Live-Rollenspiel-Konferenz MittelPunkt 2016.
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Buchvorschau
LARP und die (anderen) Künste - Órla Fiona Wittke
Schlickmann
Órla Fiona Wittke
GRENZEN ÜBERTRETEN
GEDANKEN ÜBER PARTIZIPATION, COMPUTERSPIELTHEATER UND LIVE-ROLLENSPIEL
Attention, you‘re about to enter the game!
Das Licht geht aus, der Vorhang öffnet sich. Still und unauffällig sitzt das Publikum auf den samtig roten Theatersesseln. Ein Lachen, ein Schluchzen, manchmal hustet jemand. Das Geschehen auf der Bühne ist fokussiert, oft hell erleuchtet, dadurch scheinbar abgegrenzt vom Publikumsraum. Doch ein Austausch ist in Form von Reaktionen im Publikum und der Wahrnehmung dieser durch die Schauspieler_innen pausenlos präsent, die Existenz einer vierten Wand ist deshalb eine Illusion. Nun endlich der Applaus, das Licht geht wieder an, die Schauspieler_innen verbeugen sich, lassen sich noch eine Weile beim Ab- und wieder Aufgang auf die Bühne feiern und schließlich verschwinden sie. Die Wege trennen sich. Das Publikum reibt sich die Augen, manche flüstern, andere sagen noch nichts, um den Zauber der eben erlebten Aufführung noch etwas länger aufrechtzuerhalten, den Moment auszukosten, langsam wieder ins Hier und Jetzt zurückzufinden.
Voilà – das allseits bekannte Theater. Ziemlich klassisch, das Publikum augenscheinlich passiv, lediglich aufnehmend. So war es schon im 18. und 19. Jahrhundert üblich, so wirkt es bis heute nach. Jedenfalls in der traditionellen Bühnensituation mit einer physischen Abgrenzung von Bühne und Zuschauerraum.
Zur Zeit der Klassik und Aufklärung stand die erzieherische Funktion des bürgerlichen Theaters im Vordergrund. Eine klare Dramaturgie, möglicherweise „die Moral von der Geschicht‘" fein säuberlich zwischen den Zeilen des auf der Bühne gesprochenen Textes verpackt. Das Theater als Bildungsstätte, die Zuschauer_innen von gutem Stand, aufnahmewillig und an der Selbstpräsentation im öffentlichen Raum interessiert.
Ein paar hundert Jahre später leben wir im sogenannten ‚post-digitalen Zeitalter‘. Der öffentliche Raum: digitalisiert. Facebook, Twitter, Instagram – die Möglichkeit zur Selbstpräsentation ist so omnipräsent wie nie. Wir ‚liken‘, ‚sharen‘ und ‚haten‘, was das Zeug hält, es gibt kaum Grenzen innerhalb des World Wide Web. Aber was ist eigentlich noch ‚wirklich da‘? Und was nur imaginiert oder philosophiert? Was wird von uns zur Wirklichkeit gemacht und ist doch eigentlich unfassbar? Wer ist heute noch wirklich in der Lage, eine Grenze zwischen Realität und Fiktion zu ziehen? Und gerade diese Fiktion ist doch so wichtig für uns. Um dem Alltag zu entfliehen, der – getrieben vom Konsum – immer hektischer und stressiger wird. Der trotz oder gerade wegen der sozialen Netzwerke und ihres großen Einflusses auf uns immer unpersönlicher wird, die Privatsphäre von Smartphone und Smart-TV ausradiert, die Identität an diverse Plattformen verkauft.
Stop.
Gebt mir mein ‚Ich‘ zurück. Ich möchte es wieder selbst in die Hand nehmen und formen, wie ich will. Nicht, wie Ihr wollt und es mir mit Werbung und mithilfe ominöser ‚Cookies‘, die scheinbar auf mich und meine Interessen abgestimmt sind, vorschreiben wollt. Wer seid Ihr überhaupt? Für wen sprecht beziehungsweise arbeitet Ihr? Gibt es Euer allgemeines Publikum überhaupt? – Ich aber will meine Geschichte wieder selbst bestimmen und Einfluss darauf haben. Mitbestimmen, wie das Märchen ausgeht, und tatsächlich etwas sagen dürfen. Ich will mir selbst meine Rolle in der Welt aussuchen und spielen, wie ich will. Und ich will eine Heldin sein und mit meinem Vampir-Zombie-Superschurken-Team diese Welt retten. Gebt mir die Chance, mich auszuprobieren, und das Gefühl, wichtig zu sein. Gebt mir alle Freiheiten, die tatsächlich nur von den Grenzen der Realität eingeschränkt werden und dann doch so leicht mit unserer Phantasie zu durchbrechen sind. Und gebt mir einen sicheren Raum, wo ich das alles erleben und ausprobieren kann. Gebt mir das Theater.
Weiter.
Schon vor Jahrzehnten formten sich mit Happenings und Performances partizipative Alternativen zum klassischen Theater. Der Drang nach politischen Diskussionen und der Möglichkeit der Mitbestimmung hält sich über die Jahre bis heute, ist noch weiter geformt, verändert, modifiziert worden und vielleicht sogar gerade jetzt wichtiger denn je für einen sozialpolitischen Diskurs innerhalb der Gesellschaft. Neben den atemberaubenden Performance-Installationen à la SIGNA und Thomas Bo Nilsson¹ gibt es noch eine Vielzahl anderer immersiver Theaterprojekte, in denen sich die Teilnehmer_innen unterschiedlich frei innerhalb der vielseitig inszenierten Räume bewegen können.
MACHINA EX – THEATER ALS POINT‘N‘CLICK-ADVENTURE
2010: Eine Gruppe von (mittlerweile ehemaligen) Student_innen der Universitup Hildesheim findet sich zusammen und konzipiert als machina eX das sogenannte Computerspieltheater. Seitdem können sie auf viele erfolgreiche Projekte zurückblicken; das neueste ist bald im Theater Hebbel am Ufer in Berlin zu erleben. Die Teilnehmer_innen finden sich hier in von Projekt zu Projekt unterschiedlichen Räumen und Raumstrukturen wieder. Machina eX selbst beschreiben ihr Konzept so:
„Wir gestalten ein immersives Erlebnis irgendwo zwischen Computerspiel, Theater und interaktiver Installation. Durch ein komplexes System von Sensoren, Elektronik und Computerprogrammen schaffen wir inter-reaktive Räume, in denen die Geschichten spielbar werden. Gemeinsam tauchen die Spielergruppen in die Welt des Spiels ein und finden sich inmitten der Handlung wieder, die ohne deren Initiative nicht voranschreitet: Sie folgen den Performer_innen – den ‚Computerspielfiguren‘ – durch die lebensecht gestalteten [sic] Räume, untersuchen Schubladen und Schränke, lösen die Rätsel und treffen Entscheidungen, die Ereignisse auslösen und den Fortgang der Geschichte wesentlich beeinflussen."²
Als Beispiel ein Einblick in das Projekt Right of Passage³, an dem ich im Juni 2015 im Hebbel am Ufer, Berlin, teilgenommen habe.
Beim Eintritt erhält jede_r einen kleinen Zettel mit einer Nummer darauf, dann werden wir in kleinen Gruppen in einen Raum geführt – ein Wartezimmer. Karten und Infomaterial zu fiktiven Ländern an den Wänden, eine kostümierte Performerin an einem Schreibtisch, ernster Blick. Um sie herum – überall Requisiten. Der Raum ist ausgestaltet, wir befinden uns bei Eintritt bereits auf der ‚Bühne‘, in der Welt von machina eX, am Set von Right of Passage. Wir werden gebeten, auf den Stühlen Platz zu nehmen und uns zu gedulden. Noch wissen wir nichts von dem Schicksal, das uns als Spielteilnehmer_innen zugewiesen wird. Nacheinander werden wir beziehungsweise unsere Nummern aufgerufen. Der erste Schritt auf dem Weg, unsere Spieler_innen-Identität anzunehmen. Also: Nummer aufgerufen, vor der jungen Dame am Schreibtisch Platz genommen, sie macht ein Foto mit einer Webcam, dann wieder auf den Wartestühlen warten. Schließlich bekommt jede_r einen Pass und damit eine Geschichte, wir werden verschiedenen fiktiven Ländern zugeordnet, die sich in einem Konflikt befinden und teilweise seltsame Traditionen pflegen. Wir bekommen einen Grund, warum wir hier die Grenze überqueren wollen. Vielleicht sind wir in einer Untergrundorganisation tätig, vielleicht Mitglieder einer Gegenbewegung, sind der Regierung jedenfalls negativ aufgefallen, stehen auf der bösen Liste. Fakt ist: Wir wollen und müssen den Grenzübergang passieren, um dem Elend zu entfliehen.
Ich bin aufgeregt und mich beschleicht gleichzeitig ein beklemmendes Gefühl. Grenzübergang, Kontrolle, Unsicherheit und mögliche Gefahr in ‚meinem eigenen‘ Land – das kenne ich nicht. Nur aus Berichten, von Bildern, ich merke, wie privilegiert ich bin. Bereits jetzt regt schon allein die Ausgangssituation diese politisch motivierten Gedanken an, dabei hat das Spiel noch gar nicht richtig begonnen. Man findet sich selbst in einer unbekannten Lage wieder, mit einer Geschichte und Nationalität, zu der man noch keinen Zugang hat, mit der man sich vielleicht nicht identifizieren möchte. An dieser Stelle habe ich keine Wahl: Es geht los.
Die zweite Tür öffnet sich zum Kontrollstützpunkt. Kiosk, Fabrik, Krankenstation, unbewohnte Büroräume, Kneipe mit dubiosem Hinterzimmer, in dem Glücksspiele gespielt werden. Und ganz hinten – sehr zentral und etwas bedrohlich – die Grenzkontrollstelle. Ein kleiner Schalter mit einem Kontrolleur, der nichts und niemanden passieren lässt. Er händigt uns Dokumente aus, die ausgefüllt werden