Adventure and Meeting: Eine Einführung in Live-Rollenspiel aus theaterwissenschaftlicher Perspektive
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Über dieses E-Book
Der erste Teil bietet eine anschauliche Einführung und eine allgemeine theoretische Einordnung dieser besonderen Rollenspielform, wobei sich die Autorin auf das Fantasy-Genre konzentriert. Der zweite Teil untersucht LARP als theatrales Ereignis und führt vor, dass die theaterwissenschaftliche Perspektive besonders geeignet ist, die spezifischen Merkmale von Live-Rollenspiel zu erfassen. Außerdem zeigt sich, dass ein Phänomen wie LARP innovative Antworten auf verschiedene Problemstellungen des Theaters zu geben vermag und die Diskurse um Aufführung, Performativität oder Gender mit spannenden neuen Aspekten bereichern kann.
Ein fundiertes Grundlagenwerk, das die Mechanismen von LARP als kulturelle Praxis ausführlich erklärt.
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Buchvorschau
Adventure and Meeting - Gerke Schlickmann
gemeint.
1EINFÜHRUNG IN FANTASY-LARP
Eine Stadt aus weißen Zelten, mit Tavernen, Marktständen und allerlei Händlern, die Kochgeschirr oder Kleidung, Lederwaren, Rüstung oder verschiedene Waffen anbieten. Die Stadt wird von einer hohen Palisade umschlossen und ist nur durch wenige Tore zugänglich. Eins davon wird von einem wahren Riesen bewacht, gut 3 Meter hoch und schlaksig, gekleidet in die rot-weiße Uniform der Stadtwache. Das Tor führt auf eine Wiese, die sich gerade mit einer bunten Menge füllt. Die Stimmung ist angespannt, und auffällig viele der Anwesenden sind bewaffnet. Hier umklammern kleine, bärtige Männer in Helm und Kettenhemd ihre Streitäxte, dort nimmt ein ganzer Tross Ritter Aufstellung, von Kopf bis Fuß gepanzert, mit Schwert und Schild und wehenden Bannern. Am anderen Ende der Wiese versammelt sich eine Gruppe eleganter Geschöpfe mit langem, glänzendem Haar und spitzen Ohren. Auch sie führen Banner mit sich, auf die kunstvoll verschlungene Ornamente gestickt sind, und viele von ihnen haben Langbögen in der Hand. Immer mehr Gestalten strömen herbei, es müssen Hunderte, ja Tausende sein. Allüberall leuchten Wimpel und Fahnen, Schilde und Waffenröcke, sie zeigen die verschiedensten Wappen. Zwischen Menschen in mittelalterlichen Gewändern tummeln sich hässliche grüne Wesen, denen riesige Zähne wie Hauer aus dem Mund wachsen. Sie sind in Leder und Felle gehüllt, manche mit Knochen oder Schrumpfköpfen geschmückt. In der Ferne ragt ein Koloss aus der Menge hervor, doppelt so hoch und breit wie die neben ihm Stehenden, er sieht aus, als bestünde er aus rußgeschwärztem Stein und rotglühender Lava, und er bewegt sich langsam und schwerfällig durch die Massen, die ihm eiligst Platz machen. Rund um ein Banner, das einen roten Tropfen auf weißem Grund zeigt, versammeln sich Männer und Frauen, binden sich Schürzen um, legen Instrumente zurecht und errichten ein Lazarett. Die Spannung auf dem Anger steigt, vereinzelt wird der Klang von Trommeln und Sprechchören herübergeweht. Am gegenüberliegenden Waldrand ist plötzlich Bewegung auszumachen, und schon erscheinen die ersten Soldaten, in schwarz-blaue Wappenröcke gewandet. Angeführt von Standartenträgern marschieren nun Hunderte von ihnen auf die Stadt zu. Ihr Schlachtgesang – „Er ist das Auge. Wir sind der Sturm!" – hallt unheilverkündend über das Feld, während sie an seinem Rande Aufstellung beziehen. Und dann beginnt die Schlacht …³
Abb. 1: Warten auf die Schlacht, Conquest of Mythodea 2010
Was ist das hier? Wo findet diese Szene statt, in einem Roman, einem Comic, einem Fantasyfilm? – Nein, wir sind auf einem Landgut in Niedersachsen, das sich jedes Jahr im Sommer für ein paar Tage in die Welt Mythodea verwandelt und von Menschen in phantastischen Kostümen bevölkert wird. Doch sie sind keine Schauspieler, es sind Schülerinnen, Studierende, Auszubildende, Lehrer, Juristinnen, Mediziner, Sozialarbeiterinnen, Erzieher, Ingenieurinnen, Elektroniker, Wissenschaftlerinnen, Bürokaufleute, Maskenbildnerinnen, Hausfrauen und Hausmänner, Arbeitslose, Angestellte, Selbstständige – kurz: Männer und Frauen mit ganz verschiedenen Berufen, Ausbildungen, Lebensläufen. Sie alle verbindet eine anspruchsvolle Freizeitbeschäftigung: Live-Rollenspiel.
Allein in Deutschland gehen Zehntausende diesem Hobby nach (aktuellen Schätzungen zufolge etwa 80.000 bis 100.000 Spieler*innen),⁴ und es finden pro Jahr mehrere hundert Veranstaltungen statt.⁵ Über diese gibt es immer wieder Berichte in Fernsehen und Zeitschriften, meist kurze Beiträge über Großveranstaltungen wie Drachenfest (DF), Conquest of Mythodea (CoM) oder Epic Empires (EE), die natürlich eine erheblich größere Aufmerksamkeit auf sich ziehen als ein gewöhnlicher Con. Dazu kommt eine steigende Zahl mehr oder weniger professionell gemachter Dokumentationen wie Die Herren der Spiele, Diciomentis oder die bereits erwähnten Wochenendkrieger. Mit The Wild Hunt wurde LARP bereits 2009 zum zentralen Thema eines Spielfilms, und in der seit längerem angekündigten Komödie Knights of Badassdom schlüpfen mit Summer Glau, Peter Dinklage und Ryan Kwanten sogar einige Superstars aus Fantasy- und Science-Fiction-Produktionen in die Rollen nerdiger LARPer*innen. Dennoch ist Live-Rollenspiel außerhalb der Rollenspielszene noch wenig bekannt. Angesichts des aktuell deutlich verstärkten Medieninteresses könnte sich das allerdings in naher Zukunft ändern. In letzter Zeit häufen sich die Anfragen verschiedener Medienvertreter in LARP-Gruppen und einschlägigen Internetforen, so dass LARP ein regelrechtes Modethema zu werden scheint, was in der LARP-Community durchaus für Diskussionen sorgt. Die Szene beobachtet diese Entwicklung nicht unbedingt mit Begeisterung, sondern schwankt zwischen der Hoffnung, dass LARP einmal seriös beschrieben und erklärt werden könne, und der Angst, Live-Rollenspiel als Weltfluchtveranstaltung für Träumer oder gewaltverherrlichende Spinnerinnen dargestellt zu sehen.
Aber was kann man sich nun tatsächlich darunter vorstellen?
1.1 ERSTE DEFINITION
Live-Rollenspiele
Steigerung eines Rollenspiels
Jugendliche und Erwachsene treffen sich an Wochenenden in alten Burgen oder auf einsamen Zeltplätzen, kleiden sich so, wie es sonst nur in Fantasy-Filmen zu sehen ist, rennen durch nächtliche Wälder, zelebrieren geheimnisvolle Feste und liefern sich große Schlachten mit gepolsterten Waffen. Das alles klingt nach spontanen Ereignissen – falsch! Bei Live-Rollenspielen gibt es festgelegte Regeln, zum Beispiel für die Charaktererschaffung oder Magie. Und so erleben Fans in aufwendigen und phantasiereichen Verkleidungen, die sie Gewandungen nennen (die Bezeichnung „Kostüm" hört man sehr ungern), mit anderen, oft wildfremden Menschen in den Rollen von Magiern, Kriegern, Priestern, aber auch Detektiven, Geheimagenten und sogar Vampiren und Werwölfen phantastische Abenteuer in Welten, die man bisher nur aus Film oder Literatur kennt.
Die offizielle Abkürzung von Live-Rollenspiel ist „LARP, was für „Live Action Role Playing
steht.⁶
Mit dieser Beschreibung aus dem neuen Lexikon der Fantasy sind schon einige charakteristische Aspekte von Live-Rollenspiel angesprochen, die im Folgenden ausgeführt und ergänzt werden sollen.
In erster Linie geht es darum, gemeinsam Abenteuer zu erleben, in fremde Welten und andere Zeiten einzutauchen und dort das, was man sonst nur liest, träumt oder im Kino sieht, auch einmal selbst, am eigenen Leib zu erfahren und mittendrin zu sein: „[E]s ist einfach dieser Spieltrieb aus der Kindheit, der nie ganz verloren gegangen ist, oder den man als Kind nicht vollends befriedigen konnte", so beschreibt eine Teilnehmerin meiner Umfrage ihre Beweggründe dafür, Live-Rollenspiel zu betreiben. Wie es die englische Bezeichnung Live Action Role Play schon andeutet, besteht das Spiel darin, die erfundenen Figuren wirklich zu verkörpern, also all ihre Handlungen innerhalb einer fiktiven Situation real auszuführen und sie nicht nur – wie im Tischrollenspiel – verbal zu schildern. Die Beschreibung „Steigerung eines Rollenspiels rührt daher, dass Tischrollenspiele im zitierten Fantasy-Lexikon wie auch in der Rollenspiel-Szene als „klassische
Rollenspielform gelten und Live-Rollenspiel daher als real ausagierte, d. h. hinsichtlich des Involviertseins gesteigerte Variante gesehen wird.⁷ Ebenso kann man – wie die zitierte Umfrageteilnehmerin – eine direkte Verbindung ziehen zu Kinderspielen wie „Cowboy und Indianer oder „Räuber und Gendarm
und Live-Rollenspiel als deren Erwachsenenversion ansehen.
Das Problem der Begrifflichkeiten und die Verortung im Kontext anderer Rollenspiele und ähnlicher Phänomene soll im zweiten Kapitel vorgenommen werden, hier sollen nun zunächst wesentliche Begriffe und Grundzüge des Spiels vorgestellt werden.
1.2 GRUNDBEGRIFFE
Neben dem Begriff Live-Rollenspiel hat sich auch im deutschsprachigen Raum die Bezeichnung LARP durchgesetzt, wovon sich der Begriff LARPer für Live-Rollenspieler sowie das Verb larpen ableiten. LARP ist das aussprachefreundliche Kürzel für Live Action Role Play(ing), so lautet zumindest die gängige Übersetzung, die hier übernommen wird. Daneben finden sich andere Herleitungen wie Live Adventure Role Play(ing) oder Live Adventure Action Role Play(ing).
Mit LARP wird zum einen der ganze Live-Rollenspiel-Bereich bezeichnet, zum anderen aber auch die einzelnen Veranstaltungen, auf denen LARP gespielt wird. Diese Unterscheidung werde ich in der Schreibung verdeutlichen: LARP sei im Folgenden der übergeordnete Begriff und synonym für Live-Rollenspiel, (ein) Larp sei die konkrete Veranstaltung, auch Convention (von engl. Versammlung) oder kurz Con genannt.⁸
1.2.1 IN-TIME VS. OUT-TIME
Die erste und wichtigste Unterscheidung im LARP ist die zwischen der Spielwelt und der realen Welt. Das ist umso wichtiger, als ja die Spielwelt mit den Mitteln der realen Welt in Szene gesetzt und bespielt wird. Hier haben sich klare Sprachregeln etabliert, um zu bezeichnen, welche Ebene gerade gemeint ist: Alles, was die Spielwelt betrifft, wird üblicherweise mit der englischen Bezeichnung in-time (kurz IT) – seltener auch in-game oder in-play – benannt; für alles außerhalb gilt analog der Begriff out-time (kurz OT) bzw. out-game, out-play oder auch off-play. Dieser grundlegenden Unterscheidung entspricht die zwischen Spieler und Charakter: Der Spieler ist die reale Person X, die in der Spielwelt die Figur Y verkörpert. Y ist dann der Charakter von X. Wenn beispielsweise die Bürokauffrau Petra eine Ritterin namens Brianna spielt, dann ist Petra die Spielerin und Brianna ihr Charakter (kurz Char oder Chara). Bezogen auf Handlungen und Äußerungen werden manchmal auch die Begriffe in-character bzw. out-of-character verwendet, um auszudrücken, ob z. B. eine Frage von einer Spielerin auf der OT-Ebene gestellt wird oder ob sie von einem Charakter an einen anderen Charakter gerichtet und Teil der Spielwelt ist.
1.2.2 ROLLE, CHARAKTER
Statt der – im Englischen durchaus gebräuchlichen – Bezeichnung Rolle (role) bevorzuge ich aus mehreren Gründen den Begriff Charakter.⁹ Zum einen, weil das die im deutschsprachigen Rollenspielbereich übliche Bezeichnung ist; in einschlägigen Regelwerken (z. B. DragonSys, Silbermond oder Phönix) wird die zu spielende Figur stets als Charakter bezeichnet, im Weiteren noch unterschieden in Spieler-Charakter (SC) und Nicht-Spieler-Charakter (NSC), wie später noch erläutert werden wird. Das Wort Charakter hat außerdem den Vorteil, nicht so vieldeutig zu sein wie Rolle. Zwar wird natürlich auch der Begriff Charakter umgangssprachlich und im übertragenen Sinne verwendet, Wendungen wie „einen Charakter spielen sind doch aber eher ungewöhnlich und spezifisch für diesen Kontext (anders als „eine Rolle spielen
). Der Begriff der Rolle bleibt dadurch frei, um weiterhin wie üblich gebraucht zu werden (sowohl umgangssprachlich als auch im Sinne rollentheoretischer Überlegungen). Es kann also ohne Begriffsverwirrung ausgedrückt werden, dass auch der Charakter innerhalb des Spiels verschiedene Rollen spielt – z. B. eine unterwürfige gegenüber seinem Herren oder die des Draufgängers bei seinen Saufkumpanen abends in der Taverne – ebenso wie natürlich der Spieler selbst, inner- und außerhalb der Spielwelt. Diese Unterscheidung treffen nicht alle Autoren; gerade in der englischsprachigen Literatur bezeichnet character oft den theoretischen Entwurf und die Hintergrundgeschichte der Figur, was ich im Folgenden Charakterkonzept nennen werde.
1.3 INHALTE UND GENRES
Der LARP-Bereich lässt sich in verschiedene Genres aufteilen, die den Hintergrund, die Motive und Inhalte eines Spiels vorgeben. Davon hängt beispielsweise ab, welche Arten von Charakteren gespielt werden können und welche spezifischen Elemente die Spielwelt beinhaltet (gibt es Magie, existieren übernatürliche Kreaturen usw.). Als wichtigste Hintergründe waren bislang 1. der Fantasy-Bereich, 2. das sogenannte Vampire-LARP (engl., von Vampire Live) und 3. der Science-Fiction-Bereich zu nennen, wobei Fantasy nach wie vor das mit Abstand verbreitetste Genre ist. Aktuell scheinen sich die Schwerpunkte aber zu verschieben; Endzeit-Szenarien werden immer beliebter, insbesondere mit Zombies. Angesichts des derzeitigen Zombie-Booms in Film und Fernsehen (und mit Computerspielen wie The Last of Us mittlerweile auch auf dem Spielemarkt) verwundert das wenig, sondern zeigt, wie sich allgemeine Trends auch im LARP niederschlagen. Andererseits scheint sich der Vampir-Hype, der ebenfalls seit einiger Zeit in Literatur, Film und Fernsehen ausgebrochen ist, nicht nennenswert auf die LARP-Szene ausgewirkt zu haben; die aktuellen Zahlen in Jörg Bolles Statistik zeigen im Gegenteil sogar einen erheblichen Rückgang von Veranstaltungen dieses Genres. Ich habe auch den Eindruck, dass sich Vampire Live-Spieler und -Veranstalter von den derzeit so beliebten Twilight-Vampiren und deren Fans eher distanzieren möchten.
Daneben gibt es diverse LARP-Gruppen, die sich mit einer bestimmten historischen Epoche, einer Region oder Kultur beschäftigen oder – wie die ersten drei – eher an literarischen Genres orientiert sind.¹⁰
1.3.1 ÜBERBLICK
Einen umfangreichen Überblick bietet z. B. die einschlägige Datenbank LarpWiki, die folgende Genres aufführt:¹¹
Cthulhu: Live-Rollenspiel in der Welt von Lovecraft
Fantasy: Live-Rollenspiel von Tolkien bis Pratchett
Steampunk: Fantasy in der Viktorianischen Ära
Historische Epochen:
antike Charaktere
ReenLARPment: LARP ohne Fantasy (meist am Mittelalter/der Renaissance orientiert)
Mantel und Degen: Das 18. Jahrhundert
Romantik: Das frühe 19. Jahrhundert
Gaslight: Das späte 19. Jahrhundert
Western: Der Wilde Westen live – von Hollywood bis historisch
Zwanziger Jahre: 1920 und drumherum
Siebziger Jahre: 1970 und drumherum
Gegenwart: Live-Rollenspiele im Hier & Jetzt (teilweise mit phantastischen Elementen)
Killer
Geister
Harry Potter
Vampire