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Tanz im Film: Das Politische in der Bewegung
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eBook280 Seiten3 Stunden

Tanz im Film: Das Politische in der Bewegung

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Über dieses E-Book

Seit es Film gibt, gibt es Tanzfilme. Zwischen dem tanzenden Licht und der Bewegung menschlicher Körper besteht eine ambivalente Verwandtschaft. Zwei gegensätzliche Erkenntnisweisen begegnen einander: der geometrisierende Blick und die Unmittelbarkeit körperlicher Erfahrung.

Ob in Quentin Tarantinos "Pulp Fiction", Jean-Luc Godards "Bande à part" oder Lars von Triers "Dancer in the Dark", in "Flashdance", der "Step Up"-Reihe oder den amerikanischen Klassikern, überall lassen sich Einstiegspunkte zu Fragen finden, die das Feld der Tanzwissenschaft sprengen und zum Kern der Gesellschaft vordringen.

Mit Beiträgen von Ladina Bucher, Desiree Beil, Anne Maria Faisst, Claudia Freiberger, Bernhard Frena, Simon Gansinger, Marlene Gallner, Nitya Koch, Sarah Kanawin, Andreas Köhneman, Loïc Kurzweil, Jasmin Rückert, Simon Sailer, Tobias Stadler, Alina Tretinjak, Florian Wagner, Lisanne Wiegand und Judith Wiemers.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum15. Mai 2017
ISBN9783957322685
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    Buchvorschau

    Tanz im Film - Ladina Bucher

    Copyright

    Vorwort

    Tanz ist nicht nur fester Bestandteil vieler erfolgreicher Filme, der Tanzfilm bildet sogar ein eigenes beliebtes Genre. Die Beiträge dieses Sammelbandes befassen sich sowohl mit dem populären Tanzfilm als auch mit den verschiedenen anderen Formen von choreografierter Bewegung im Film. Die Autor_innen verstehen Tanz nicht bloß als Kunstform mit einer spezifischen historischen Entwicklung, sondern als Manifestation sozialer Phänomene. Es handelt sich also weniger um Beiträge zur Tanzwissenschaft als um solche zur Theorie der Gesellschaft.

    Wir vom Verein zur Förderung Kritischer Theater-, Film- und Medien­wissenschaft (KritTFM) beschäftigen uns als Teil unserer Arbeit mit Populärkultur, die wir nicht glorifizieren, sondern in ihrer Gesellschaftlichkeit ernst nehmen wollen. Zuletzt gaben wir den Sammel­band »How I Got Lost Six Feet Under Your Mother. Ein Serien­buch« heraus, der sich mit der gesellschaftlichen Bedeutung von Fernseh­serien auseinandersetzt.

    Tanz, wie Kunst im Allgemeinen, muss nicht unbedingt direkt mit Politik und Gesellschaft verbunden sein und ist es umso seltener im populären Tanzfilm. Es geht uns auch nicht in erster Linie um die, in der Regel abgeschmackten, Botschaften, welche das Schema der Produktionen kennzeichnen. Die Handlung mag sagen: du kannst es schaffen, aber der Tanz enthält noch andere Versprechen, verhandelt Ebenen der Wirklichkeit, der Körperlichkeit und des Utopischen. Das gelingt ihm aufgrund seiner Begriffsferne – indem er sich der Erzählhandlung verschließt, entgegensetzt oder eine eigene Selbstständigkeit entfaltet.

    Grundsätzlich gibt es die Tendenz, Produkte der Kulturindustrie subversiv zu lesen. Also die Neigung, den Fokus auf das Positive, das Widerständige und das Sprengende zu legen, während über das Starre, Schematische und Plumpe hinweggegangen wird. Letztere sind allerdings die charakteristischen Merkmale von sowohl Massen-, Eliten- als auch von Subkultur. Im Bewusstsein dieser Versuchung legen wir den Fokus auf das Schwierige und Uneindeutige und betonen jene Aspekte in der Lektüre, welche die Verstrickung von Tanz und Gesellschaft bezeugen.

    KritTFM weicht dabei auch in der Arbeitsweise von üblichen wissenschaftlichen Mustern ab. Unsere Vorgehensweise bei der Zusammenstellung eines Sammelbandes unterscheidet sich schon bezüglich der Auswahl der Beiträge, bei der wir versuchen, den Inhalt unabhängig vom akademischen Grad zu beurteilen. Den Call for Papers formulierten wir deshalb bewusst einladend.

    Üblicherweise werden die ausgewählten Autor_innen dann aufgefordert, ihre Beiträge zu verfassen. Wir gingen anders vor und arbeiteten zunächst gemeinsam an den Konzepten. Dazu organisierten wir ein Wochenende, um alle Thesen zu präsentieren und zu diskutieren. Teil des Workshops war neben Gesprächsrunden auch ein von Lilie Lin und Anna Sophie Santner gestalteter Praxisteil, der Gelegenheit bot, sich dem Tanz auch von einer anderen Seite anzunähern. Wir sind der Überzeugung, dass Tanzen zum Verstehen von Tanz beitragen kann und die einzelnen Beiträge bereichert. Genauso wichtig ist allerdings der Input der anderen Schreibenden, die sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit dem gleichen Thema befassen, sowie theoretische Auseinandersetzung.

    Unser Verständnis von kritischer wissenschaftlicher Arbeit beinhaltet die bewusste Entscheidung gegen seitenlanges Zitieren und unendliche Literaturlisten. Dabei freuen wir uns über unkonventionelle Verknüpfungen von Wissen, genaues Arbeiten an Themen, die sonst zu kurz kommen und ermutigen dazu, eine eigene These aufzustellen. Uns ist es wichtiger, dass ein Gedanke durchdacht und originell ist, als dass er geltende Konventionen geflissentlich wiederholt.

    Wir versuchen zudem, den patriarchalen und eurozentristischen Kanon zu öffnen. Das gelingt leider nur eingeschränkt. Das Scheitern in diesem Bereich entmutigt uns aber nicht und wir werden weiterhin entschlossen daran arbeiten. Außerdem legen wir darauf Wert, dass Aussagen, die zitiert werden, zeitgemäß kommentiert werden. Viele Quellen müssen verwendet werden, wenn wir über historische Werke sprechen. Sollten sie allerdings problematische Aussagen beinhalten, ist darauf hinzuweisen. Damit wollen wir Geschichte nicht ausblenden, sondern bearbeiten und im Heute verändern.

    Den Anspruch, nicht nur Autor_innen mit akademischem Hintergrund zu erreichen, konnten wir leider nicht einlösen. Wir müssen uns die Frage stellen, inwieweit das überhaupt möglich ist. Ob nicht unsere Erwartungshaltungen an Inhalt und Text, auf die wir nicht verzichten sollten, Ausschlüsse beinhalten. Auch wenn wir die Form des Textes noch so frei stellen, einen reflektierten Umgang mit dem Gegenstand und eine kritische Sicht auf die Gesellschaft setzen wir voraus.

    Jedenfalls hilft, dass wir die Beiträge, die wir schließlich nach dem Workshop erhalten, weiter bearbeiten. So können wir weniger erfahrene Autor_innen unterstützen und im Prinzip allen, die motiviert sind, helfen, einen guten Text zu veröffentlichen. Das bedeutet zwar zusätzliche Arbeit, hebt aber letztlich unsere Publikationen von jenen Sammelbänden qualitativ ab, welche hauptsächlich den Zweck erfüllen, die Publikationslisten der Mitwirkenden zu verlängern.

    Neben der Herausgabe von Büchern veranstaltet KritTFM Diskussionen, Workshops und Brunches. Der Verein bietet so auch dem interessierten Umfeld die Möglichkeit, Arbeiten und Projekte vorzustellen und zu diskutieren.

    Wir möchten uns bei allen Menschen bedanken, die in unterschiedlichen Phasen an der Realisierung des vorliegenden Bandes mitgewirkt haben und wünschen viel Vergnügen bei der Lektüre.

    Let’s dance!

    Sarah Binder, Sarah Kanawin, Simon Sailer & Florian Wagner

    Choreografie des Antisemitismus

    Über Entwicklung und Funktion antisemitischer Gestik im Spielfilm

    Marlene Gallner

    Sie können den Juden nicht leiden und

    imitieren ihn immerzu. Kein Antisemit,

    dem es nicht im Blute läge,

    nachzuahmen, was ihm Jude heißt.(1)

    Insbesondere in der europäischen und nordamerikanischen Öffentlichkeit, in Medien und in der Politik wird heute wiederholt beteuert, Antisemitismus konsequent abzulehnen. Dennoch sind pejorative visuelle Vorstellungen von Juden und Jüdinnen nach wie vor virulent. Sie finden sich in Bildern, Erzählungen oder filmischen Darstellungen. Und zwar gerade nicht vorrangig in historischem Material, sondern in zeitgenössischen Produktionen. Alte Stereotype werden weiterhin tradiert und in aktuellen Zusammenhängen ­fortgeschrieben. Dabei wäre es unzureichend, anzunehmen, dass es sich lediglich um falsche Vorurteile über Juden und Jüdinnen handle, die man leicht bekämpfen könne, indem man die jeweiligen Zuschreibungen nur geraderückt. Vielmehr geht es in antisemitischen Darstellungen um das Bild des Juden, welches die AntisemitIn von ihm hat, unabhängig davon, wie sich die Objekte des Ressentiments tatsächlich verhalten. Daher wird im Weiteren auch nur dann gegendert, wenn es sich um reale Personen handelt und nicht um deren Imagination.

    Dies vorausgeschickt wird die Gefährlichkeit antisemitischer Inszenierungen, von denen der folgende Beitrag handelt, umso deutlicher. Die Gefahr der Nachahmung dessen, was sich im antisemitischen Wahn- und Weltbild als jüdisch vorgestellt wird, liegt in der zentralen Rolle, welche die Imitation für den Erhalt des Ressentiments spielt. Zwei Aspekte sind dabei vor allem maßgeblich: Zum einen wird gerade durch das wiederholte Nachspielen Antisemitismus im Alltag ausgelebt und weitergegeben.(2) Zum anderen ist die Imitation für das Subjekt der AntisemitIn essenziell, um das projizierte Judenbild stets aufs Neue zu bekräftigen und sich schließlich vorbehaltlos selber glauben zu können. In den Worten Gerhard Scheits ist die Nachahmung der »physische Modus der Projektion«.(3) Was zuvor nur eine Idee war, wird gerade im Theater und Film verkörpert und damit greifbar. Die Attraktivität des Nachspielens für die AntisemitIn ergibt sich zudem durch die Befriedigung des »obsessive[n] Bedürfnis[ses], jene zu spielen, die man gleichzeitig vertreibt, verfolgt, ermordet«,(4) die zu einer psychologischen Entlastung im Wahn führt. Die AntisemitIn empfindet geradezu Genuss in der Verquickung von Ausleben und gleichzeitiger Bannung ihrer Ängste. Durch das Nachahmen kann das sonst Verbotene ausgelebt und im selben Moment die Verachtung dagegen ausgedrückt werden.(5) Versucht man, Antisemitismus als Ideologie zu begreifen, gilt es also, das Augenmerk nicht auf die zu richten, welche angefeindet werden, sondern auf jene, die anfeinden. Demnach soll es in diesem Beitrag nicht primär um das Geraderücken von gängigen Judenbildern gehen, sondern darum, was diese über die AntisemitIn verraten können. Darüber hinaus wird skizziert, inwiefern ihr Hass und letztlich die permanente Vernichtungsdrohung der gegenwärtigen Gesellschaft inhärent sind. Diese Herangehensweise hilft zu verstehen, weshalb Antisemitismus zwar in erster Linie gegen Juden und Jüdinnen gerichtet ist, er jedoch auch ohne sie weiterhin funktioniert.

    Antisemitismus manifestiert sich in unterschiedlichster Gestalt. Am gebräuchlichsten sind pejorative Darstellungen im Bild, insbesondere anhand vermeintlich jüdischer Physiognomie, sowie in der Handlung. Antisemitische Vorstellungen werden jedoch auch, und darauf soll der besondere Fokus der folgenden Ausführungen liegen, mittels Bewegungen nachgespielt. Der Begriff des Tanzes wird daher ausgeweitet und erstreckt sich über sämtliche Formen von Bewegung, Mimik und Gestik, die im Film nicht zufällig, sondern bewusst gewählt und geplant sind. Auf welche Weise Juden und Jüdinnen durch die SchauspielerInnen porträtiert werden, ist für die Dreharbeiten genau choreografiert. Im Folgenden werden daher verschiedene gängige Elemente dieser Choreografie des Antisemitismus ausgemacht und ihre Verankerung in gesellschaftlichen Verhältnissen nachgezeichnet. Dabei wird auf einem Streifzug durch das deutsche und US-amerikanische Filmrepertoire von der Zeit des Stummfilms bis hin zu aktuellen Produktionen aufgezeigt, wie präsent antisemitische Darstellungen in der visuellen Kultur bis heute sind.

    Der Körperbau: Gebeugter Gang und

    kränkelnde Haltung als erstes Element

    In verschiedenen Filmproduktionen quer durch die letzten Jahrzehnte fällt eine Darstellungsform besonders ins Auge. Häufig sind jüdische Figuren im Film gebeugt und in geduckter, schiefer Haltung dargestellt. Sie können weder gerade und aufrecht stehen noch gehen. Weshalb gerade diese Bewegung als charakteristisch für den Juden gilt, mag verschiedene Ursachen haben. Eine Deutungsmöglichkeit kommt aus historischen Aufzeichnungen. Insbesondere zur Zeit des Ersten Weltkrieges wurden zunehmend antisemitische Karikaturen publiziert, die den Juden als zu schwach darstellen, um in patriotischen Zeiten den Kriegsdienst anzutreten. Hierin spiegeln sich gleichermaßen der Vorwurf der Vaterlandslosigkeit des kosmopolitischen Juden, welcher dem nationalen Zusammenhalt der Volksgemeinschaft schadet, sowie die Annahme, dass der Jude körperlich sowieso überhaupt gar nicht erst in der Lage ist, militärisch stramm zu marschieren. Die Rasselehren aus dem 19. Jahrhundert, welche mit dem Nationalsozialismus ihren prominenten Höhepunkt erreichten, taten ihr Übriges, die Vorstellung eines vermeintlich spezifischen Körperbaus und einer Physiognomie populär zu machen, die dem Juden mehr tierische als menschliche Züge unterstellte. Nicht nur sei dieser dem Wahnbild nach unfähig, den Wehrdienst zu leisten, auch sonst sei er unproduktiv und lebe von der Arbeit anderer. Er sei stets auf seinen eigenen Vorteil bedacht und versuche rücksichtslos, seine Mitmenschen über den Tisch zu ziehen.

    Dieses Bild findet sich vor allem in der Darstellung als Händler, welches im US-amerikanischen Stummfilm bis in die 1920er-Jahre das mit Abstand verbreitetste antisemitische Motiv war. Der 1907 fertiggestellte, in fünf Kurzgeschichten aufgeteilte Film »Fights of Nations«(6) von D. W. Griffith kombiniert sogar die Unfähigkeit zum echten Kampf mit der Perfidität des jüdischen Händlers. »Fights of Nations« handelt von der Vorstellung unterschiedlicher Völker und deren spezifischen Eigenarten zu kämpfen. Im Teil »Our Hebrew Friends« werden drei Juden gezeigt, die sich um die Ware des einen von ihnen, eines Straßenhändlers, streiten. Während ihres tätschelnden Handgemenges erscheint ein Polizist, der offenbar für Ordnung sorgen will, auf der Bildfläche. Nach einigem Hin und Her besticht ihn einer der drei mit Schmiergeld, um der rechtmäßigen Strafe zu entgehen. Als sich der Polizist zum Gehen wendet, zieht ihm der Jude das Geld unbemerkt wieder aus der Tasche. Die Szene endet mit einem ausgelassenen Tanz der drei, die sich freuen, den Ordnungshüter hinters Licht geführt zu haben. Zusätzlich zum Aussehen spielt der Film ganz offensichtlich auch mit der Darstellung ihrer spezifisch jüdischen Art der Bewegung. Während die anderen Teile des Films jeweils heroische Kämpfe zeigen, wirkt das Schubsen und Tätscheln der drei Juden auf der Straße schwächlich und erzeugt die intendierte komische Wirkung für das Publikum maßgeblich aus ihren als feminin verunglimpften Bewegungen. Ihre Tritte und Schläge sind so unbeholfen und ungelenk wie sie oft als typisch für Frauen dargestellt werden. Daher scheitern sie auch alle drei bei ihren Versuchen, sich im Handgemenge zu behaupten. In »Fights of Nations« verbinden sich somit auf sehr anschauliche Weise sexistische mit antisemitischen Elementen. Allein mit List und Tücke, so die Moral des Films, kann der Jude siegen.

    Ebenfalls 1907 veröffentlicht wurde der Kurzfilm »Cohen’s Fire Sale«(7) von Edwin S. Porter. Da sein Geschäft nicht floriert, legt der jüdische Protagonist Cohen im eigenen Laden Feuer. Dadurch ­versucht er, die Versicherungssumme einzustreichen und gleichzeitig seinen Verkauf wieder anzukurbeln, was ihm schlussendlich beides gelingt. Neben seiner Charakterisierung als gierig und betrügerisch ist sein komplettes Aussehen überladen von antisemitischen Kennzeichnungen. Am deutlichsten wird dies in der Schlussszene des Films, in der Cohen versucht, seine Angebetete zu küssen. Er scheitert nicht nur wegen seiner allgemein tollpatschigen und krummen Art sich zu bewegen, sondern vor allem aufgrund seiner, vom Zuschauer als aufgeklebt erkennbaren, riesigen Nase. Die körperliche Unansehnlichkeit ist hier also an das motorische Unvermögen gekoppelt und zeigt damit, dass die Bewegungen vom stereotypen Erscheinungsbild nicht gänzlich getrennt zu betrachten sind. In beiden Filmbeispielen sind die jüdischen Figuren jeweils nicht zuletzt durch ihre Gestik als körperlich mangelhaft dargestellt.

    Was die Körperhaltung und die gebeugten, schiefen, zum Teil fahrigen und unbeholfenen Bewegungen von anderen Darstellungsformen unterscheidet, ist ihre unmissverständliche Allegorie für den vermeintlich jüdischen Charakter. Alle zuvor genannten Attribute lassen sich am ehesten als krank subsumieren. Dabei wird den Juden und Jüdinnen die Krankheit zugeschrieben. In Wahrheit jedoch haben diese die AntisemitInnen, indem sie einer wahnhaften, kranken Wahrnehmung der Welt aufsitzen. Diese Metapher verdeutlicht sich noch stärker in der Betrachtung ökonomischer und gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse. Im Folgenden wird mit einem filmischen Beispiel skizziert, dass die »Krankheit« des Antisemitismus nicht aus dem Nichts kommt, sondern insbesondere in der Ökonomie begründet ist. Geht man über das konkrete Beispiel des Händlers hinaus und richtet den Blick auf die generelle Beziehung des Juden zu physischer Arbeit im antisemitischen Weltbild, offenbart sich ein zentrales Moment der Ideologie, welches sich bis heute unerschütterlich hält: die Vorstellung, der Jude lebe immer auf Kosten anderer und vorrangig, er mache ihnen das Leben müßig. Würde er nur aus der Welt geschafft, so wäre auch das Elend beseitigt. Dieser Gedanke enthält inhärent jene Vernichtungsphantasien, die zwischen 1941 und 1945 in bis dahin unvorstellbarem Ausmaß von den Deutschen und ihren Verbündeten in die Tat umgesetzt wurden.

    Es stellt sich die Frage, weshalb sich der Groll gegen die Juden und Jüdinnen richtet und nicht gegen die realen Umstände, die zur gefühlten Übermacht der Verhältnisse führen. Warum hasst die AntisemitIn nicht etwa den Zwang zur Arbeit, die zunehmende Funktionalisierung der Menschen, materielle Armut und die Produktionsverhältnisse insgesamt,(8) sondern stattdessen konkrete Personen? Seit dem Wandel von feudalistischer direkter Herrschaft in abstrakte, immer weniger durchschaubare Prozesse, die nicht mehr unmittelbar repressiv auf das Individuum wirken, entwickelte sich der vormals vor allem religiös motivierte Judenhass in neuer Form fort. Der Jude wird anstelle des umfassenden Wirtschaftssystems zum Sündenbock gemacht. Die Zirkulations- beziehungsweise Finanzsphäre wird dabei im Antisemitismus aus antikapitalistischer Perspektive primär für Ausbeutung und Armut verantwortlich gemacht. In ebenjenen wirtschaftlichen Teilbereich waren Juden und Jüdinnen tatsächlich lange Zeit eingesperrt, da ihnen real und »im Gegensatz zum arischen Kollegen der Zugang zum Ursprung des Mehrwerts«,(9) zur Produktion, weitgehend verwehrt blieb. Aus Assoziation jedoch wird im antisemitischen Weltbild Identifikation. Der Jude wird mit der Zirkulationssphäre, die ohnehin völlig defizient als hauptverantwortliches Übel verstanden wird, gleichgesetzt. Die antisemitische Darstellung drückt den Wunsch aus, das »Unheimliche des abstrakt gewordenen Reichtums«(10) zu personifizieren. Damit diese Personifikation glaubhaft wird, muss sie immer wieder verkörpert werden.

    Bis heute sind auch popkulturelle Filmproduktionen, welche sich als kritisch gegenüber dem gegenwärtigen Wirtschaftssystem gerieren, von solchen Darstellungen durchsetzt. Ein bekanntes Beispiel ist »Pretty Woman«(11) von Gerry Marshall. Der Film dreht sich um die Liebesgeschichte zwischen dem reichen Geschäftsmann Edward Lewis und der mittellosen Prostituierten Vivian Ward. Lewis hat bislang vom Ruin anderer Firmen profitiert und auf ihrem Verlust sein Vermögen aufgebaut. Im Laufe der Handlung wird er jedoch zum quasi Guten gewandelt und entschließt sich Ward zuliebe, seine berufliche Tätigkeit auf produktive Arbeit in Form eines Schiffbauunternehmens zu verlegen. Der Film lebt vom Gegensatz zwischen dem vermeintlich guten schaffenden und dem dämonisierten raffenden Kapital. Obwohl keine der Figuren explizit jüdisch ist, werden im Film stereotype antisemitische Züge in Haltung und Bewegung instrumentell verwendet. Nicht der Protagonist Lewis, dafür aber sein bisheriger Geschäftspartner, Philip Stuckey, wird als Repräsentant des Destruktiven porträtiert. Von stereotyp gedrängter Statur, immer leicht geduckt, ist er den ZuschauerInnen in seinem Auftreten auch abgesehen von der infamen Rolle im Plot unangenehm. Stuckey verkörpert nicht nur die physische Unzulänglichkeit, sondern auch und insbesondere die oft animalische Triebhaftigkeit, die dem Juden zugeschrieben wird. Zusätzlich zu seiner genuinen Boshaftigkeit bedrängt er Ward in einer Szene sexuell, was dem alten Bild des klassischen Lustmolchs entspricht. Immer wieder wird er als ungezügelt vorgeführt. Charakterzüge, die den Juden angedichtet werden und doch in Wirklichkeit den AntisemitInnen angehören.

    Die Augen: Stierende und nervöse Blicke als zweites Element

    Eine weitere, auf andere Weise triebhafte Darstellungsform sind nervöse, fast wilde Augenbewegungen. Diese statuieren ein zweites Element der Choreografie des Antisemitismus. Ein populäres Exempel hierzu bietet die Figur Gríma Wormtongue im Fantasy-Film »The Lord of the Rings: The Two Towers«(12) von Peter Jackson. Wormtongue ist ein hintertriebener, böswilliger Königsberater, der von den Helden des Filmes im Laufe der Handlung entmachtet wird. Die verschiedenen Elemente der Choreografie des Antisemitismus sind in der Darstellung nicht gänzlich trennbar. Auch Wormtongues Haltung ist gebückt und wirkt ungesund. Seine Gestik ist zudem ruckhaft und abgesetzt. Was bei ihm jedoch noch auffälliger ist als seine körperliche Konstitution, ist seine Mimik. In mehreren Nahaufnahmen wird den ZuschauerInnen sein Gesicht präsentiert, das sich bei jeder Regung zur furchteinflößenden Fratze verzieht. Eine besondere Rolle nehmen dabei die entweder weit aufgerissenen oder zu bösartig wirkenden Schlitzen zusammengekniffenen Augen ein. Die insgesamt düstere Gestalt Wormtongue trägt den Vergleich zum Tier zudem bereits im Namen. Trotz aller Unterschiede im Plot teilen er und der zuvor beschriebene Stuckey aus »Pretty Woman« ein entscheidendes Merkmal. Sie beide sind nicht-jüdische Figuren, die dennoch extrem antisemitisch porträtiert werden. Anhand ihrer Darstellung wird deutlich, inwiefern sie durch das filmische Nachahmen Antisemitismus strukturell weitertragen. In dieser Form des Antisemitismus ist es allerdings keinesfalls beliebig, wer anstelle von Juden und Jüdinnen zu Objekten des Ressentiments gemacht wird. Der Hass geriert sich, auch wenn er nicht gegen konkrete Personen gerichtet ist, gegen alles, was als jüdisch gilt.

    Neben den bereits genannten Motiven des Antisemitismus ist die verschwörungstheoretische Vorstellung des Juden als heimlicher Strippenzieher in verschiedenen Ausprägungen ubiquitär. Antisemitische Stereotype können sich dabei auf andere Bereiche ausweiten. Etwa, wie anhand des Beispiels von »Pretty Woman« kurz beschrieben, auf die Finanzsphäre, oder eben auch auf das Feld politischer Entscheidungsfindung. Juden sind oft die heimlichen Berater, die im Verborgenen an den »Schalthebeln der Macht« agieren. Es ist kein Zufall, dass gerade die Figur Wormtongue in ihrem Aussehen und in ihren Bewegungen durch vielfache Referenzen auf pejorative Judenvorstellungen porträtiert wird. Ähnlich wie falsche Kapitalismuskritik wurden auch Verschwörungstheorien als bestimmte Ausprägung des Antisemitismus erst in der Moderne massentauglich. Auf den ersten Blick mag dies paradox erscheinen, da es doch die Aufklärung war, welche die Menschen aus dem mittelalterlichen Aberglauben zu befreien versucht hat. Die seelische Konstitution allerdings wird nicht allein durch vermeintlich reine Erkenntnisse des Denkens geprägt, sondern vor allem durch die Gesellschaft, die soziale Umwelt, von welcher das Individuum nicht isoliert betrachtet werden kann. So verleitet die wachsende Undurchschaubarkeit von Herrschaft seit Beginn der Neuzeit bis heute die einzelnen dazu, komplexe gesellschaftliche Konstellationen und Prozesse auf einfache Feindbestimmungen und Personifikationen herunterzubrechen. »Das Bündnis von Aufklärung und Herrschaft hat dem Moment ihrer Wahrheit den Zugang zum Bewusstsein abgeschnitten.«(13) Trotz der aufklärerischen Intention der Moderne trägt diese ihre eigene mögliche Aufhebung, insbesondere in Form von antisemitischer Barbarei, bereits in sich.

    Um auf die visuelle Darstellung im Film zurückzukommen, bleibt an dieser Stelle noch ein neueres deutsches Beispiel zu nennen. »Das Geheimnis des Golem«(14) aus der ARD-Krimireihe »Schimanski« von Andreas Kleinert handelt von der tödlichen Jagd auf ein geheimnisvolles Dokument innerhalb der als zwielichtig stilisierten jüdischen Gemeinde. Im Film finden sich sämtliche antisemitische Motive, vom Stereotyp des heimatlosen Juden über den Wucherer bis hin zur schönen Jüdin,

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