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Denken und Sein: Neue Essays
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eBook224 Seiten2 Stunden

Denken und Sein: Neue Essays

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Über dieses E-Book

Die Essaysammlung "Denken und Sein" stellt den Versuch einer philosophischen Selbstbesinnung und Selbstbestimmung dar. Sie zentriert sich um Probleme der Selbst- und Welterkenntnis und lotet deren moralische und politische Implikationen aus. Vor allem wendet sich der Autor gegen Formen der Identitätsphilosophie, die Ungleiches gleichmachen wollen. Ungelöste Fragen gehören ebenso zum Leben wie Widersprüche und Unvereinbarkeiten. Die essayistische Form entspricht der Offenheit eines Denkens, das sich seiner Subjektivität bewusst ist. Die Essays stehen in der Tradition der Aufklärung.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum2. März 2020
ISBN9783347023321
Denken und Sein: Neue Essays

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    Buchvorschau

    Denken und Sein - Thomas Kühn

    I

    Selbstbesinnung und Selbstbestimmung

    Mutter des Wissens, Vater des Zweifels

    Philosophie hat seit ihrer Entstehung aus Mythos und Alltagsdenken in Griechenland, China und Indien immer das Weltganze und die Stellung des Menschen in der Welt als Erkenntnisziel. Jede Detailuntersuchung zu einzelnen Begriffen hat stets diesen übergeordneten Bezug zum „Ganzen. Es geht ihr selten nur um Theorie, sondern meist auch um praktisches Wissen zur Naturbeherrschung, Politik und Lebensführung des Einzelnen. Dabei spielt die Auseinandersetzung mit Mythen, Ideologien und Religionen, die ebenfalls einen solchen Anspruch hegen, eine zentrale Rolle. Insofern beginnt Philosophie als Kritik an dominierenden Erklärungsund Begründungspraktiken nicht nur von Wissen, sondern auch von Macht. Diese Kritik kommt nicht ohne eigene Vorschläge aus, sie muss Alternativen der Welt- und Naturerklärung, der Staatsorganisation oder der Seelenkunde vorlegen. Je größer die Erklärungskraft eines dieser Prinzipien für alle großen Phänomenbereiche ist, desto folgenreicher wird es. Platon war der erste, der die Einheit von Natur, Gesellschaft und Individuum unter leitenden Prinzipien nicht nur dachte, sondern auch systematisch entfaltete. Dabei konnte er schon auf viele, widersprüchliche Versuche zurückschauen, von denen uns heute nur Fragmente überliefert sind. Hier zeigt sich ein weiterer Zug des philosophischen Zugangs zur Welt: es gibt nicht nur einen, mehrere sind möglich. Widerspruch und Interpretationskonkurrenz beleben die Philosophie. Ein einheitliches, widerspruchsfreies Bild von Welt und Mensch gibt es nicht. Kam eine Religion oder Ideologie zur Vorherrschaft, wurde Kritik daran brutal unterdrückt. Sekten- und Schulbildung dagegen gehören von Anfang an zum Schicksal der Philosophie. Das sollte sich erst ab dem 17. Jahrhundert in gewisser Weise ändern, da die großen empirischen Wissenschaften allmählich ihre heutige Gestalt annahmen und aufgrund ihrer theoretischen und praktischen Erfolge die Philosophie ablösten. Diese degenerierte zur beinahe bedeutungslosen „Geisteswissenschaft¹. Die Binnendifferenzierung der „Einen Philosophie" in die vielen Wissenschaften wurde teilweise nach dem Grundriss von Aristoteles vorgenommen. Viele modernen Wissensdisziplinen verdanken Aristoteles ihren Namen, ihre Grundprobleme, ihre Methoden. So blieben die Grundprinzipien der platonischen und aristotelischen Philosophie lange bestimmend für die Wissenschaften, aber auch für die Fragestellung politischer und ökonomischer Probleme, ja für die Organisation der Gesellschaft. Dies gilt nicht nur für das ganze Mittelalter und die frühe Neuzeit, sondern selbst bis heute. Man muss allerdings auch sagen, dass dieser schöpferische Prozess der Organisation der menschlichen Gesellschaft, Wissenskultur und unseres Selbstverständnisses durch die antithetische Skepsis bedroht wurde. Die radikale Infragestellung aller Wissens- und Herrschaftsansprüche begleitet die Philosophie seit ihren Anfängen. Das betrifft auch zur Herrschaft gekommene philosophische Paradigmen. So kann man sagen, dass es immer zwei Philosophien gegeben hat: eine aufbauende, systembildende und eine niederreißende, problematisierende. Schaut man auf die Jahrtausende zurück, dann scheint eins klar zu sein: eins geht ohne das andere nicht. Denn der kritischen Seite verdankt die Philosophie ihren Aufstieg, der konstruktiven ihre Ausweitung. Im 21. Jahrhundert sehen wir die Wissenschaften auf einem Gipfelpunkt. Die Gesellschaften und Individuen sind auf dem Weg zur wissensbasierten Selbstorganisation. Zugleich stehen wir am Abgrund einer alles Wissen negierenden Selbstzerstörung. Was bleibt also dem Philosophierenden? Was ihm durch alle Krisen hinweg immer blieb: Versuche der Selbstbesinnung, Versuche der Selbstbestimmung.

    Ist Selbsterkenntnis möglich?

    Wenn wir beginnen, uns selbst zu erforschen, haben wir meist schon alle möglichen Erfahrungen, Gedanken, Bilder und Lektüren im Kopf. Diese sind nicht spontan in uns selbst entstanden, sondern wir haben sie von Kindesbeinen an in uns aufgesogen. Die Sprache spielt dabei die entscheidende Rolle. Wie sich unser kindlich spontanes Selbstbewusstsein ausgebildet hat, wie wir gelernt haben, uns selbst mentale Eigenschaften wie Denken, Fühlen und Wollen zuzuschreiben, wie wir auch andere Zuschreibungen übernommen haben² – …all das fällt in die Phase unseres Spracherwerbs. Wir haben das Urteilen über uns und unsere Umwelt mit der Sprache gelernt – denn wir haben sie unserer urteilsfreudigen Mitwelt abgelauscht. Dieses tief in unserem Sprachbewusstsein verankerte Selbst- und Weltbild prägt auch unsere Fähigkeit, über uns nachzudenken. Deshalb ist die Fähigkeit zur Selbsterkenntnis bei jedem äußerst begrenzt und es scheint ein hoffnungsloses Unterfangen zu sein, das eigene „Selbst" jemals erkennen zu können. Aber ist dann nicht die ganze Philosophie zum Scheitern verurteilt? Vielleicht. Nicht nur in der Philosophie ist die Selbsterkenntnis Ursprung und Ziel des Denkens, sondern ebenso in den Wissenschaften vom Menschen und in unserem alltäglichen Handeln und Reden. Auch in der Literatur, im Mythos, in Religion, in der Kunst, im Film geht es meist um das Bild vom Menschen, das er von sich selbst entwirft. Aber vielleicht haben wir nur unfertige Bilder von uns, Skizzen, die nichts darstellen, sondern durch die wir uns erst schaffen? Gehen wir an den Ausgangspunkt der Überlegungen zurück: Das Streben nach Selbsterkenntnis setzt schon Selbsterkenntnis voraus – jedenfalls rudimentär: Bekanntschaft mit sich selbst. Denn ich kann nicht nach mir selbst fragen, ohne zu wissen, dass ich nach mir selbst frage. Außerdem frage ich sowohl als Individuum – als dies konkrete Ich – als auch als Mensch – als Exemplar einer biologischen Gattung oder einer kulturellen Epoche. Als Mensch bin ich aber ab ovo mit Welt- und Menschenbildern konfrontiert. Um nach mir zu fragen, muss ich zunächst alle Antworten auf die Frage nach mir selbst einklammern, die mich unter einen Allgemeinbegriff subsumieren. Wenn ich nach mir frage, kann ich nicht schon die Bilder voraussetzen, die vom Menschen im Allgemeinen entworfen wurden. Aber genau das ist die Situation, wenn ich damit beginne, mich zu befragen: Ich habe schon die Bekanntschaft mit den Entwürfen vom Menschen und auch von mir gemacht, die von anderen stammen. Ich kann aber nicht schon voraussetzen, ein konkretes Exemplar einer biologisch, religiös, sozial und kulturell definierten Gattung zu sein. Denn ich bin nicht als ich selbst ein Exemplar einer Gattung. Ich kann mich zwar selbst als ein solches denken – und werde von anderen Menschen als ein solches gedacht -, aber das Verhältnis zwischen mir als Fragendem und dem allgemeinen Gattungsbegriff „Mensch" kann nicht schon als geklärt vorausgesetzt werden. Außerdem: Die Aufgabe der Selbsterkenntnis verstehe ich als meine Aufgabe, mich selbst zu erkennen. Auch ist durch die Frage nicht vorentschieden, wie die Antwort ausfallen soll, ob ich also eine theoretische Antwort erwarte oder eine eher praktische. Je weiter ich mein Wissen um die Welt und den Menschen vermehre, umso schmerzlicher wird die Lücke spürbar, die ich in diesem Wissensnetz bilde. Als nach mir selbst fragendes Wesen stehe ich den Bildern gegenüber, die ich von mir selbst und meinesgleichen entworfen und übernommen habe. Diese Bilder bleiben aber so lange unverständlich, solang der Mensch sich nicht selbst als Konstrukteur dieser Bilder erkennt. Denn keiner fällt von sich aus unter eine bestimmte Beschreibung. So entwirft ein jeder von uns verschiedene Bilder von sich selbst und von den anderen Menschen, ebenso wie jeder in den Köpfen der anderen als Bild existiert. Selbst in den objektiven Wissenschaften vom Menschen, wie beispielsweise in der Neurobiologie, der Psychologie oder in den Sozialwissenschaften, entwerfen Menschen Bilder vom Menschen. Diese Bilder werden zwar an der Erfahrung überprüft und unterscheiden sich so von nur gedachten Bildern, aber sie müssen ja zunächst begrifflich konzipiert und die Erfahrungen müssen anschließend interpretiert werden. Wenn der Mensch Schöpfer der Menschenbilder ist, dann können die Menschenbilder nicht stimmen, die den Menschen nur als gegenständliches Wesen vorstellen. Der philosophische Auftrag der Selbsterkenntnis kann also bedeuten, die Bilder, die wir von uns selbst entwerfen, immer wieder zu hinterfragen, ja, sie zu zerstören, und uns immer wieder als die Suchenden und Fragenden zu erkennen. In der Regel werden wir durch Zu- und Unfälle zu „Fragenden": Ein Selbstbild bekommt Risse; eine Erfahrung mit dem eignen Fühlen, Urteilen und Handeln gerät in Widerspruch zu einer Selbstzuschreibung, aus der eine andere Sichtweise, auch eine andere Handlung folgen sollte, als tatsächlich geschehen. Die Selbstzuschreibungen sind mit Handlungen verknüpft, aber auch mit dem Urteil anderer Personen. Selbstbilder sind wie Hypothesen, die an der Wirklichkeit scheitern können, weil sie durch Handlungen, Gedanken, Gefühle bestätigt oder widerlegt werden können. So streiten wir uns um die richtige Interpretation unseres Tuns oder Motivs oder meiden Situationen, die uns in Konflikt mit unserem Selbstbild bringen können. Es meidet mancher Situationen, in denen sein privat gepflegtes Selbstbild Kratzer bekäme, es lebt mancher in unwirklichen Beziehungen, in denen keiner sagt, was er sieht, bis er es nicht mehr sieht. Das sind wohlbekannte Immunisierungsstrategien. Um zu wissen, wer und wie man ist, reicht es also nicht, sich selbst via Introspektion zu erkunden; denn hierbei stößt man nur auf sprachlich induzierte Selbstbilder. Sondern man muss auch das eigene Handeln einbeziehen, das mit diesen Selbstbildern in einem argumentativen Zusammenhang steht. Ein Selbstbild bekommt Risse, weil es an der Erfahrung scheitern kann. Selbstbilder sind in diesem Sinn Erwartungen an uns selbst, die wir auch anderen durch Gestus, Mimik, Logos (Rede) und Habitus einimpfen. So erzeugen wir einen Schein, an den wir selbst glauben und andere glauben machen, bis unsere eignen Taten uns widerlegen. Daher die Bemühung so mancher, sich ihrem Bild gleich zu machen. In der medial vermittelten Welt nennt man das Imagepflege. Daher auch der Sog der Bilderwelt, weil es viel einfacher ist, ein Wunschbild von sich selbst zu entwerfen, als ihm zu entsprechen. Im alltäglichen Sinn bedeutet Selbsterkenntnis die bewusste, schonungslose Überprüfung der Selbstbilder, den kritischen Vergleich zwischen dem, was ich über mich denke, wie ich mir und anderen erscheine und dem, was ich tue. Diese Selbstkritik setzt die Fähigkeit voraus, zu sich selbst auf Distanz zu gehen, um überhaupt Anspruch und Wirklichkeit aneinander zu messen. Messen kann ich sie, weil sie in einem argumentativen Zusammenhang stehen. Ich bin nicht großzügig (Zuschreibung), wenn ich mich nicht generös verhalte (Handeln). Die Selbstdistanz setzt ihrerseits voraus, dass ich in der Lage bin, mich zu mir selbst zu verhalten, also mich reflexiv auf mich zu beziehen. Der „Ort der Selbstkritik ist also die argumentative Vernetzung unterschiedlicher Bereiche meiner selbst, die nicht automatisch harmonieren, sondern die ich aktiv knüpfen und überprüfen muss. Dieser Prozess verläuft in der Zeit. Dabei muss ich mich auf mein biografisches Gedächtnis verlassen. Das Selbstbild kann in unterschiedlicher Weise als kohärent erlebt und beurteilt werden, je nachdem, welche Strategien zur „Kohärenzbildung erworben werden, einschließlich der Immunisierungsoder Repressionsstrategien, die die Selbstreflexion eher unterdrücken. Dieser Prozess führt nicht zwangsläufig zu einer immer vertiefteren Selbstreflexion, er kann im Gegenteil auch in stereotypen Interpretationsmustern verharren, in einem fixierten Selbstbild, das sich dank interpretatorischer Kniffe immer selbst bestätigt. Grund dafür ist, dass dieser Prozess im Laufe der Ontogenese zunehmend versprachlicht wird und wir Sprache immer interpretieren müssen. So kann man alltägliche Selbsterkenntnis auch als Selbstinterpretation bezeichnen, die unter dem Schlüssigkeitsgebot steht und an der (internen und externen) Realität scheitern kann. Ob wir unser Selbstbild als hypothetisch formulieren und offen für Selbstrevisionen sind oder nicht, entscheidet darüber, ob wir damit an der Realität scheitern können. In der Regel scheitern wir gerade dann, wenn das Selbstbild sich zunehmend verselbstständigt und von dem nährenden Prozess der Selbstüberprüfung ablöst. Wir werden umso schwächer auf eigene Inkohärenzen reagieren, je stärker unser Selbstbild fixiert ist. Insofern ist es dem Selbstbild inhärent, ob und inwiefern ich mich selbst als selbstreflexives Wesen definiere. Das kann ich mir in der Regel nicht aussuchen, sondern dies hängt von den Ich-Idealen der Kultur ab, in die ich hineingeboren werde. Allerdings sind wir von Natur aus Wesen, die über Selbstreflexivität verfügen, zu deren Natur es gehört, Selbstbewusstsein auszubilden und die Prozessphasen selbst zu aktivieren. Dieser Prozess kann aber auch durch frühzeitige Indoktrination manipuliert werden. Ziel dieser Okkupation des „Selbst ist die Unterdrückung eines individuellen Selbstbildes, das individuelle Prozesse der Selbst- und Fremddistanzierung, der Selbst- und Fremdkritik unter Kohärenzforderung selbst initiieren kann. Da dieser Prozess aber niemals vollständig fremdgesteuert funktionieren kann – immerhin sind die kritischen Phasen der Distanznahme und der Selbstkritik unerlässlich -, kommt es beispielsweise in sehr autoritären, konformistischen und opportunistischen Kulturen zu einer Abspaltung des „sozialen Selbstbildes vom individuellen Selbst. Die Fähigkeit zur Selbstkritik ist im menschlichen Selbstbewusstsein in dem Sinn implizit vorhanden, in dem ich sagen kann, dass ich mein Handeln in seiner Übereinstimmung mit meinem Wollen, Denken, Planen überwache. „Übereinstimmung bedeutet hier Bedeutungsgleichheit der sprachlichen Handlungen, mit denen ich meine Handlungsabsicht und die sich auf diese Absicht beziehende Handlung selbst beschreiben würde. Anders wäre Handeln gar nicht möglich, wenn man Handeln als bewusstes und absichtliches Verhalten deuten möchte. Ich mag mir denken „Ich gehe jetzt zum Bäcker, um Brötchen für das Frühstück zu holen, damit die Kinder nicht hungrig in die Schule gehen müssen. – das mag ich vorhaben. Wenn ich stattdessen Blumen gieße, Schuhe putze oder über Moralphilosophie nachgrüble, wenn ich meine hungrigen Kinder vergessen würde, überhaupt jeden Kausalzusammenhang zwischen ihrer und meiner Existenz ignorieren würde, dann bestünde keine Äquivalenz zwischen meinem Denken und Handeln. Ich könnte mir den Zusammenhang zwischen meinem Denken und meinem Handeln kraft meines Selbstbewusstseins zwar sprachlich vielleicht noch zurechtlegen, aber diese Kunstbrücke könnte tatsächlich nur behauptet, nicht begangen werden. Zur Erhaltung meines Selbstbildes würde ich den partiellen Verlust der Kohärenzbildung leugnen oder ignorieren. Aber meine Mitmenschen würden das Vertrauen in meine Vernunft, aber auch in meine Person verlieren, wenn ich derart inkohärent mich verhielte. In diesem Sinn kann man sagen, dass Vernunft bedeutet, kohärent und konsistent zu denken und zu handeln. Das schließt empirische Prädikate ein, also beispielsweise Wahrnehmungsurteile, aber auch volitive Prädikate, also Absichtserklärungen. Eine vernünftige Person wäre dann eine, die auch angemessene Beschreibungen ihrer Handlungen mit in ihr Selbstbild integriert. Selbsterkenntnis ist also eine notwendige Bedingung dafür, uns als vernünftige Personen zu verstehen. Kohärenzstörungen in auch nur einer der genannten Relationen würden sofort einen kritischen Bewertungsprozess bei meinen Mitmenschen auslösen, möglicherweise mit der Folge einer Distanzierung von mir als ernstzunehmender und verantwortlicher Person. Es sei denn, es gelingt mir, den Kohärenzverlust als Schein darzustellen oder ihn durch Umstände zu erklären, die ihn für andere plausibel machen (Krankheit, Erschöpfung). Offenheit und „Mut zur Lücke" werden in offenen Gesellschaften honoriert, weil dadurch die Übereinstimmung zwischen Reden und Handeln wiederhergestellt wird³. Diese Rechtfertigung meiner Inkohärenz würde mein Selbstbild und damit meinen Status als vernünftige Person rehabilitieren. Mit anderen Worten: vernünftig handle ich nicht nur dann, wenn ich kohärent handle, sondern auch, wenn ich selbst ex post Erklärungen für Inkohärenzen liefern kann und damit meine Einheit als Person restituiere. Aus dem Grund, dass Selbstreflexivität normativ unter dem Kohärenzgebot steht und wir über diesen Weg sowohl Person als auch Vernünftigkeit definieren, kommt der Selbsterkenntnis eine so gravierende Rolle zu. Wir müssen gleichsam permanent

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