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Auch im Schnee und Nebel ist Salzburg schön: Tagebücher 1942 bis 1945
Auch im Schnee und Nebel ist Salzburg schön: Tagebücher 1942 bis 1945
Auch im Schnee und Nebel ist Salzburg schön: Tagebücher 1942 bis 1945
eBook415 Seiten5 Stunden

Auch im Schnee und Nebel ist Salzburg schön: Tagebücher 1942 bis 1945

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Über dieses E-Book

Die Tagebücher, die Alja Rachmanowa zu ihren Lebzeiten veröffentlichte und die sie berühmt gemacht haben, sind zweifellos literarisch bearbeitete. Hier werden erstmals authentische Tagebücher aus dem Nachlass übersetzt. Sie vermitteln ein anschauliches Bild vom Alltag in Salzburg während der letzten Jahre des Zweiten Weltkriegs, in denen das Leben durch die ständigen Fliegeralarme und Vernebelungen, aber auch durch die Versorgungslage immer schwieriger wird. Den roten Faden der Eintragungen bildet das Leben der Familie von Hoyer mit allen Hochs und Tiefs, mit Sorgen und Freuden. Insgesamt ergeben die echten Tagebücher eine lebendigere Vorstellung von der Persönlichkeit der Schriftstellerin als das durch ihr Werk überlieferte Selbstbild. Politisch ist Alja Rachmanowa stark auf den Kampf gegen den Kommunismus fixiert. Dem Unrecht und der Willkür in ihrer Gegenwart schenkt sie keine Beachtung, sie bemüht sich im Gegenteil trotz bürokratischer Widerstände um die Anerkennung durch das herrschende Regime.
Das Nachwort von Heinrich Riggenbach, der die Tagebücher übersetzt hat, geht an Hand von Dokumenten besonders drei Fragen nach: Weshalb wurde die Familie von Hoyer aus der UdSSR ausgewiesen? Wie hat sie sich in Salzburg während der NS-Zeit verhalten? Warum hat das Ehepaar letztlich Salzburg für immer verlassen?
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum3. März 2015
ISBN9783701362301
Auch im Schnee und Nebel ist Salzburg schön: Tagebücher 1942 bis 1945

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    Buchvorschau

    Auch im Schnee und Nebel ist Salzburg schön - Alja Rachmanowa

    Alja Rachmanowa

    Auch im Schnee und Nebel ist Salzburg schön

    Alja Rachmanowa

    Auch im Schnee und Nebel

    ist Salzburg schön

    Tagebücher 1942 bis 1945

    Übersetzt und herausgegeben

    von Heinrich Riggenbach

    OTTO MÜLLER VERLAG

    www.omvs.at

    ISBN 978-3-7013-1230-6

    eISBN 978-3-7013-6230-1

    © 2015 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG-WIEN

    Alle Rechte vorbehalten

    Satz: Media Design: Rizner.at

    Druck und Bindung: Druckerei Theiss GmbH, A-9431 St. Stefan

    Abbildungen: Staatsarchiv des Kantons Thurgau, 9’43 Nachlass Alja Rachmanowa

    Inhaltsverzeichnis

    Vorbemerkung

    1942

    1943

    1944

    1945

    Nachwort

    Anmerkungen

    Vorbemerkung

    Erstmals werden hier Tagebücher von Alja Rachmanowa aus ihrer Salzburger Zeit veröffentlicht, und zwar die Aufzeichnungen von 1942 bis zum Frühjahr 1945. Die russischen Originale gehören zum Nachlass Rachmanowas im Staatsarchiv Thurgau in Frauenfeld (Schweiz). Der Lektüre sollen einige Bemerkungen zu den Prinzipien der vorliegenden Publikation vorausgeschickt werden. Die Biografie von Alja Rachmanowa, besonders in der Zeit des Krieges, ist im Nachwort ausführlich thematisiert.

    Die Publikation versteht sich als Edition in Übersetzung. Um dem dokumentarischen Charakter des Textes gerecht zu werden, schließt sich die Übersetzung sprachlich eng dem Original an. Sie lässt von den Tagebucheinträgen nichts weg, auch wenn Alja Rachmanowa sich wiederholt, und versucht nicht zu glätten oder zu beschönigen. Ausgelassen sind nur Textpassagen, die nicht eigentliche Tagebucheintragungen sind, besonders Entwürfe zum Werk und einige Abschriften von Dokumenten. Diese Stellen sind durch eckige Klammern markiert. In den Anmerkungen am Ende dieses Buches ist aber angegeben, was ausgelassen wurde. Ebenfalls mit eckigen Klammern wird auf fehlenden Text hingewiesen, weil Alja Rachmanowa Seiten oder Teile davon als Zensor von sich selbst aus den Tagebüchern herausgetrennt hat. Gelegentliche Hinweise oder Ergänzungen des Übersetzers erfolgen direkt im Text in spitzen Klammern.

    Die Anmerkungen zu Personen, Örtlichkeiten und Sachen sind so knapp wie möglich gehalten. Deshalb ist die Quelle nur selten angegeben, z.B. wenn daraus zitiert wird. Hauptquelle für die vielen Personen aus dem Umkreis von Alja Rachmanowa und für Salzburg Betreffendes ist das Adreß-Buch der Stadt Salzburg für das Jahr 1942 (kurz Adressbuch 1942). Die vollständigen Namen und Adressen, soweit sie zugeordnet werden konnten, dienen der Verifizierung dessen, was Alja Rachmanowa im Tagebuch festhält. Weitergehende Nachforschungen wurden nicht angestrebt. Die Anmerkungen stehen jeweils beim ersten Vorkommen des Erklärten. Wo sie fehlen, bedeutet dies, dass sich mit vertretbarem Aufwand keine Angaben finden ließen. Randnotizen von Alja Rachmanowa stehen am Ende eines Eintrags und sind mit einem Sternchen am Zeilenanfang gekennzeichnet.

    Basel, Februar 2015

    Heinrich Riggenbach

    1942

    ¹

    Dostojewski: „Das Leben ist ein ganzheitliches Kunstwerk. Leben bedeutet, ein Kunstwerk aus sich selbst zu machen."²

    19.1.1942

    Es ist kalt … Man sagt, es sei heute 24 Grad minus. Die Leute eilen eingemummelt und ziehen irgendwie merkwürdig den Bauch ein. „Unsere Kama"³, die Salzach, ist voll von großen schwimmenden Eisschollen. Grauer Nebel liegt über der Stadt. Aus unseren Fenstern sieht man nicht einmal die Festung.⁴ Alle meine Gedanken sind im fernen Russland, bei meinem Jungen.⁵ Herr, erhalte ihn! Es ist schrecklich, schrecklich in unserer Zeit zu leben!

    Ich kaufte Zwiebeln auf Lebensmittelkarten. Dort erzählte die bleiche, müde und abgequälte Frau Dr. Bauer⁶, sie komme gerade vom Bahnhof. Sie begleitete ihren Mann, der zu einer Ausbildung fuhr. Die Verkäuferin in der Bäckerei erzählte, ihr Bräutigam sei gefallen und ihre ganze Jugend sei zugrunde gerichtet. Es ist kalt, kalt auf der Welt zu leben! Ich war in der Kirche. Ebenmäßig, warm und freundlich brennt das kristallene Lämpchen. Es verspricht Ruhe, Freude und Stille. Herr, denke an die leidenden Menschen und hilf ihnen! … Es ist kalt und schrecklich in unserer Zeit zu leben!

    20.1.1942

    Ich bin furchtbar beunruhigt wegen Schurotschka. Wen man auch auf der Straße trifft, die erste Frage lautet: „Wann haben Sie einen Brief bekommen? Von welchem Datum?" Der letzte Brief war vom 2. Januar. 18 Tage sind vergangen, seit mein Junge geschrieben hat. Wo ist er? Was ist mit ihm? Jeden Tag schicke ich kleine, armselige Päckchen zu fünf Dekagramm. Aber können sie ihm denn helfen? Und bekommt er sie auch? Mein Gott, wie tut es mir in der Seele weh und wie schrecklich ist es, nur von der Erwartung zu leben und nicht in der Lage zu sein, seinem einzigen Kind in seinen schrecklichen, grauenvollen Tagen zu helfen …

    Heute war ein grauer Tag. Alle Bäume hatten einen leichten, silbrigen Raureif. Die Sonne war seltsam – eine rote Kugel, die unwahrscheinlich und unbegreiflich neben der Silhouette der Festung hing. Wenn ein Künstler dies malte, würden alle sagen, so komme es in Wirklichkeit nicht vor. So erscheint mir jetzt auch unser ganzes Leben als unglaublich schwerer, grausamer Traum. Die Zärtlichkeit von Arno⁷ wärmt mich, sonst könnte ich verzweifeln … Am meisten schätze ich Liebe, Güte, Stille, Zärtlichkeit und herzliche Aufmerksamkeit. Ich bemühe mich, selbst überall aufmerksam und liebevoll zu sein, Licht und Trost zu spenden.

    Ich bin sehr traurig, dass alle meine Bücher verboten sind.⁸ Ich möchte einen Roman schreiben, aber Arno sagt: „Es hat keinen Sinn. Es wird ihn sowieso niemand drucken!"

    21.1.1942

    Heute ist ein lieber Brief von Schurotschka vom 7.1.42 gekommen. Wir sind sehr glücklich!

    22.1.1942

    Heute ist es genau sieben Monate her, dass Schurotschka in den Krieg gezogen ist! Wie viele Monate noch werden wir ihn nicht sehen? Wieder hängt neben der Festung die orangefarbene, graue Sonne. Es ist kalt. Der kälteste Tag in diesem Winter. Man sagt, am Morgen sei es 27 Grad minus gewesen. Von der Salzach ist fast nichts übrig geblieben. Ein kleines Rinnsal im Schnee, an dessen Ufern, wie graue Steine, die Möwen lagern. Wie ist es möglich, dass sie nicht erfrieren? Am Mittagessen in der Diätküche erzählte mir meine Nach barin, ihr Mann sei innert zweieinhalb Jahren Kriegseinsatz dreimal am Kopf verletzt worden. „Wer sagt, er opfere mit Freude einen geliebten Menschen, liebt entweder diesen Menschen nicht oder er lügt!, sagte sie. „Für mich wäre es furchtbar, den Mann zu verlieren! Sie hat ein müdes, bleiches, sympathisches Gesicht. Auffallend sind die Falten um Nase und Mund. „Ich möchte so gerne ein Kind haben, die Jahre vergehen, ich arbeite von morgens bis abends. Jeden Tag schreibe ich abends meinem Mann einen Brief und er schreibt mir auch jeden Tag!" Von ganzem Herzen wünschte ich ihr, dass ihr Mann gesund aus dem Krieg zurückkehre. Was für ein Glück, dass Arno bei mir ist! Ich liebe ihn mit jedem Tag mehr und mehr, obwohl es scheint, mehr zu lieben sei unmöglich!

    23.1.1942

    Es ist noch kälter als gestern. Als schmaler Streifen windet sich die Salzach und weißer Dampf steigt von ihr auf, als ob ihr das Atmen schwerfiele. Der Schnee knirscht unter den Füßen, der Frost beißt an Wangen und Nase. Man sagt, es sei heute 32 Grad minus. Ich möchte furchtbar gerne ein Drama oder eine Komödie für das Theater schreiben. Ich kann nicht begreifen, weshalb mir Romane so leicht von der Hand gehen und ich für das Theater bisher nichts schreiben konnte. Heute dachte ich den ganzen Tag nach, fast bis der Kopf schmerzte, aber es ist mir bis jetzt nichts eingefallen. Arno sagt: „Zerbrich dir nicht den Kopf, dein Stück wird sowieso niemand spielen, da deine Bücher verboten sind." Aber ich muss trotzdem schreiben!

    24.1.1942

    Es schneit. Die Dämmerung bricht herein … Der schmale Streifen der noch nicht gefrorenen Salzach murmelt vor sich hin … Im Zimmer ist es warm und gemütlich. Arno spielt auf dem Flügel. Ich mache Feldpostpäckchen. Es läutet. Domanig ist gekommen.

    25.1.1942

    Schnee, Schnee, Schnee … Die Füße bleiben im Schnee stecken, man kann nur mit Mühe gehen. Zum Mittagessen gingen wir in den „Münchnerhof"⁹, dann waren wir im Kino. Arno ist zärtlich und lieb … Ich liebe unsere stillen, gemüt lichen Sonntage so sehr, wenn wir den ganzen Tag allein sind.

    26.1.1942

    Berge von Schnee … Und er fällt und fällt, schwer, nass und dicht. Ich möchte so gerne ein Drama schreiben. Ein solches, dass die Herzen aller zusammenzucken und durch das Erlebte für lange Zeit erschüttert sind. Jedes Verbrechen, auch ein kleines, ganz gleich wogegen – gegen sich oder andere – zieht stets Bestrafung nach sich … Dieses Thema ergab die besten Werke von Dostojewski und Tolstoi. Soll ich es auch nehmen?

    27.1.1942

    Für meinen Roman als Stimmungsbild: ein früher Winter morgen. Es herrscht noch tiefe Dämmerung … Nur in den Fenstern blinken Lichter. Ein kalter, erbarmungsloser Wind dringt durch den Mantel. Es ist unerträglich kalt. Aber sie geht am Ufer des reißenden, Eisschollen treibenden Flusses in der Hoffnung, ihn zu sehen. Der kalte Wind schleicht unter den Hut, es frieren die Wangen, die Nase und die Ohren, die Füße versinken im Schnee. Dort in der Ferne gehen Men schen. Vielleicht geht auch er. Aber es ist zu dunkel, um zu erkennen, wer da geht … Sie geht und denkt, wie quälend ist diese Sehnsucht der Frau nach dem Mann, nach einer verwandten Seele. Sehnt er sich ebenso nach ihr? Es wurde heller. Hier im Schnee sind Spuren männlicher Füße, feste, energische. Vielleicht sind es die Spuren seiner Füße? Vielleicht ist er hier schon gegangen? Wie viel Schnee! Alle Bäume, die Säulen der Brücke – alles, alles liegt im Schnee. Der Schnee deckt auch die Spuren zu … Vielleicht die Spuren seiner Füße. Sie geht bis zu jener Stelle, jener Straße, wo es keine Hoffnung mehr gibt, ihn zu sehen. Und plötzlich wird alles so leer, nutzlos und kalt. Die Stadt erwacht in ihrer ganzen märchenhaften Schönheit. Ein Wintermärchen herrscht nach wie vor über der Stadt, aber sie weiß, der ganze Tag ist verdorben. Sie hat ihn nicht gesehen. Die Stimmung fällt bis zum Nullpunkt … Und so ist es jeden Tag, jeden Tag! Hoffnung in der Dämmerung des erwachenden Morgens und Enttäuschung bei Tages ankunft … Und nur Arbeit, Arbeit, Arbeit und die verkümmernde Sehnsucht nach ihm! Was Einsamkeit für eine Frau bedeutet, kann nur verstehen, wer sie erlebt hat. Die Sehn sucht nach Liebe! Die ewige Sehnsucht der Frau nach dem Mann! In ihr steckt etwas Irrationales, Mystisches. Alle suchen, der Sinn des Lebens jeder Frau ist in der Liebe zum Mann und zur Mutterschaft. Und in dieser Sehnsucht nach dem Mann liegt eine tiefe Tragödie der Frau. Denn der Mann hat noch den Beruf. Keine Frau, sofern sie eine richtige Frau ist, wird sich nur mit irgendeiner Beschäftigung zufriedengeben. Sie braucht Liebe!

    31.1.1942

    Ich habe angefangen, ein Schauspiel zu schreiben, ich arbeitete den ganzen Tag. Die vorangehenden Tage weinte ich sehr viel. Der zweite Sohn der Familie von Cramm ist gefallen.¹⁰ Ein schrecklicher Eindruck! Das ist ein solches Leid, ein solches Leid! …

    1.2.1942

    Heute ist Schurotschka zwanzig Jahre alt geworden! Vor zwanzig Jahren wurde unter unwahrscheinlich schweren Be dingungen mein Junge geboren und ist am Leben geblieben!¹¹ Herr, erhalte ihn auch jetzt in seinen schweren, schrecklichen Tagen! …

    Und wie vor zwanzig Jahren sage ich heute: „Du musst leben! Du wirst leben, mein teurer, zärtlich geliebter Junge."

    2.2.1942

    Heute ging Arno um sechs Uhr abends weg und kehrte um zehn Uhr zurück. Er hatte Zeichnen und einen Russischkurs. Um zehn Minuten nach neun Uhr klingelte das Telefon. Eine Frauenstimme sagte: „1106/2? Dr. von Hoyer? Bleiben Sie am Telefon, ein Ferngespräch … Und sie nannte eine Stadt. Es war keine deutsche Stadt, aber was für eine, konnte ich nicht verstehen. Dann ertönte in der Ferne eine männliche Stimme, die der Stimme von Schurotschka bis ins Letzte ähnlich war: „Hallo, ist dort bei Dr. von Hoyer? Und dann rief die liebe, ferne Stimme viele Male: „Hallo! Hallo!" Ich antwortete, aber derjenige, der mit mir sprechen wollte, hörte mich nicht. Und plötzlich wurde alles still … Ich rief im Fernamt an und fragte, wer mit mir gesprochen habe. Die junge Frau antwortete sehr lieb, es sei ein Ferngespräch gewesen, aber sie könne nicht feststellen mit wem. Nach einer halben Stunde rief sie nochmals an und sagte, zu ihrem großen Bedauern sei es ihr nicht gelungen festzustellen, wer mit mir gesprochen habe. Die Stimme, die liebe, ferne Stimme meines Jungen ging im Äther unter. War es Schurotschka? Aber das ist unmöglich. Woher und wie hätte er sprechen können? Aber eine Sehnsucht, die wahnsinnige Sehnsucht der Mutter nach ihrem Kind, erwachte in mir … Eine ungestüme, hemmungslose Sehnsucht … Wo ist mein Junge? Vielleicht leidet er, friert er, hungert? … Und ich bin nicht in der Lage, ihm zu helfen … Er kann meine Stimme nicht hören, meine Zärtlichkeit kann nicht bis zu ihm dringen und ich bin nicht in der Lage, seine Leiden zu lindern … Das ist eine Folter, eine schleichende, grausame Folter. Wann wird sie aufhören? Wer weiß es? … Aber ich wünsche niemandem, niemandem sie zu erleben!

    3.2.1942

    Für meinen neuen Roman:

    Unter den Füßen graubraune Massen von Schnee. Vom Him mel fallen leichte, weiße Flocken. Sie geht und denkt an ihn. Unerwartet steht er vor ihr. Freude strahlt in ihren Augen. Sie gehen zusammen. Die Füße bleiben im Schnee stecken. „Warum sind Sie nicht gekommen?, fragt sie. „Ich konnte nicht. Es gab eine dringende Sache. – „Weshalb küssen Sie mich nie? – „Ich habe Angst vor Ihnen! – „Aber die andere küssen Sie? – „Ja. Sie liebt mich mit einer andern Liebe! Es schneit weiter. „Und Sie werden mich nie küssen? – „Nur an Ostern, wenn alle einander küssen. Sie gehen schweigend weiter. „Ich habe hier etwas zu erledigen!, sagt er. „Wann werde ich aufhören, die ganze Zeit an Sie zu denken?, fragt sie. „Diese Zeit wird kommen!", sagt er. Sie sieht, dass an der Ecke vor einem Plakat die Frau steht, die ihn mit jener Liebe zu lieben versteht, die er braucht. Eine tödliche Trauer lastet auf ihrer Seele. Wann, wann hat das angefangen? Wann habe ich aufgehört, ihn so zu lieben, wie er es will? Unter den Füßen braune Schneemassen. Es ist mühsam zu gehen. Es ist schwierig, einen Menschen zu lieben, der nie mit einer solchen Liebe antworten kann, mit der sie liebt. Hat sie wirklich keine Kraft, ihn zu vergessen? Wo ist ihre Willens stärke? Und sie beschließt, ihn nicht mehr zu lieben, ihn zu vergessen, für einen anderen zu leben …

    4.2.1942

    Von Schurotschka kam ein rührender Brief vom 18.1.42. Er bittet, ihm ernsthafte, wissenschaftliche Bücher zu schicken und nicht billige Romane. Wie freut es einen, sich bewusst zu sein, dass seine Seele trotz des ihn umgebenden Schreckens fähig ist, sich für ernsthafte Bücher zu interessieren. Mein lieber Junge, sei mutig und stark! Und dein Glück wird noch kommen!

    5.2.1942

    Ich war bei der Familie von Cramm¹². Ich brauchte eine Stunde bis zu ihnen durch die lange, lange, verschneite Allee¹³. Das Haus ist ganz im Schnee versunken. Das in seinem schwarzen Kleidchen rührende Fräulein Ruthchen, groß und schlank mit einem anmutigen, blassen Marmorgesichtchen. Die Baronin ganz in Schwarz, abgemagert, mit Spuren von Tränen im Gesicht. Ein Leid, das für immer bleiben wird. Zwei Söhne zu verlieren! Sie umarmt und küsst mich. Wir weinen beide. Dann erzählt sie vom Tod ihres Sohnes. Sie machte kein Foto von ihm, sie nahm nur eine Haarlocke. Beerdigt ist er auf einem Friedhof in Warschau. Sie konnte ihm nicht so viele rote Rosen bringen, wie sie es wollte. Im zerstörten Warschau ist er zusammen mit sechzehn weiteren Soldaten begraben – ihr zärtlich geliebter Sohn. Der Dackel Iris steht an der Baronin in die Höhe und tut die ganze Zeit so, als ob er sie trösten wolle, indem er sie mit der Vorderpfote berührt und sie mit klugen, verstehenden Augen anschaut. Ich ging ganz erschüttert weg. Den ganzen Tag ist meine Seele durch die Tiefe des menschlichen Leids erschüttert … Was kann unglücklicher, tragischer sein als der Mensch?

    6.2.1942

    Auf der Straße hielt mich eine Dame an: „Frau Rachmanowa, ich kenne Sie so viele Jahre – und Sie sind immer jung, schön und elegant! Alle altern, aber Sie nicht! Ihre Worte erfreuten mich, und wie ausgerechnet am gleichen Tag sagte einer von den Brückenarbei tern, an denen ich vorbeiging: „So ein leckertes schwarzes Mäd chen! Ich aber dachte: „Ich bin 43 Jahre alt und wenn sie wüssten, wie viel Kummer und Traurigkeit meine Seele bedrücken!"

    7.2.1942

    Von Schurotschka kam ein lieber, zärtlicher Brief. Wir sind glücklich. Er bittet, ihm Bücher zu schicken. Arno kaufte Bücher für ihn.

    8.2.1942

    Ich stand anderthalb Stunden Schlange, um Karten für das Gastspiel der Tschechowa¹⁴ zu bekommen. Es war sehr, sehr kalt und ich war ganz durchfroren. Es standen etwa zweihundert Menschen an. Es kommt ein Soldat heran und stellt sich fröhlich in die Schlange. Dann beginnt er zu fragen, wer wozu ansteht. „Ach, das ist für Mittwoch! Und ich dachte für heute! Ich habe nur für heute Urlaub! Na, dann gehe ich weiter!" Und fröhlich lächelnd entfernte er sich.

    8.2.1942

    Heute hörte ich zum ersten Mal das Zwitschern der Vögel im Garten und als wir am Abend vom Theater zurückkehrten, standen am Ufer der Salzach unter den verschneiten Bäumen zwei umschlungene Paare. Die Männer waren in Soldaten uniform. Es scheint, der Frühling kommt doch, obwohl es immer noch kalt und neblig ist …

    9.2.1942

    Für meinen Roman: „Ich habe Angst vor Dir." Die nie befriedigte Sehnsucht nach Liebe. Das Verlangen nach Berührung. Wenn es keine körperliche Nähe gibt, erstarrt die Seele in trauriger Einsamkeit. Das Körperliche und Seelische in der Liebe zu trennen ist unmöglich. Die Liebe ohne das Lied des Körpers ist keine echte Liebe zwischen Mann und Frau. Die Liebe ohne Seele ist ebenfalls keine echte Liebe. Das Ideal: Das Einswerden der körperlichen und seelischen Liebe. Die Frau schätzt am meisten Zärtlichkeit. Wenn es sie nicht gibt, bleibt die Kälte der Einsamkeit. Es war für sie schrecklich zu erkennen, dass er sie körperlich nicht lieben will. Den Kuss, das Streicheln mit der Hand – alles nahm er ihr weg. Und plötzlich wurde ihr klar, dass sie bei den Begegnungen zur Passivität verurteilt war! Nur kluge Gespräche trösten eine Frau nicht. Es zeigte sich jetzt: in allen Gesprächen und Begegnungen war das Liebkosen seiner Augen und die Nähe ihrer Körper, die sich zueinander hinzogen, für sie das Wert vollste gewesen. Jetzt hat er alles Physische weggenommen und gleichsam die zarten Blumen ihrer Seele gebrochen. Dieses Thema entwickeln: das Verlangen der Frau nach Zärt lichkeit. Nicht unbedingt bis zum Letzten. Nur die Zärt lichkeit braucht sie. Ohne diese Zärtlichkeit breiten sich Enttäuschung, Leere und Unzufriedenheit aus. Letzten Endes der Typ der verbitterten alten Jungfer.

    ***

    Hinter dem Fenster rauscht der Fluss. Sein Rauschen sagt mir, dass ein Tag nach dem andern vergeht und der Tod immer näher und näher ist … Der Tod! Jeder Mensch muss diesen schrecklichen Augen blick durchmachen. Ich denke oft an den Tod. Deshalb kann ich auch niemals böse sein. Von früher Kindheit an wusste und spürte ich, dass es den Tod gibt. Deshalb war meine Seele niemals böse.

    10.2.1942

    Heute erwachten Arno und ich um sechs Uhr. Ich wechselte in sein Bett, schmiegte mich an ihn, er umarmte mich – und es war so warm, so gemütlich, so schön! Meine liebe Sonne – er ist mein einziger Trost in diesen schweren Tagen! Er ist so zärtlich, aufmerksam und lieb!

    Heute Morgen las man am Radio Verse, etwas in der Art: „Ich küsse nur gerne einen trotzigen Mund, welcher verweigert …" Gerade ein passendes Zitat für meinen Roman. Ich würde gerne erfahren, von wem das ist.

    25.2.1942

    Nach quälenden Tagen des Wartens kam von Schurotschka ein lieber Brief vom 10.2.42.

    16.4.1942

    Jede Woche bringe ich Kartoffeln vom Markt für Frau Reiter (unsere Hausmeisterin)¹⁵. Vier Kilogramm, die uns zustehen, gebe ich ihr ab. Für sie ist dies eine große Hilfe. Wir essen ja keine oder nur sehr wenig Kartoffeln.

    17.4.1942

    Den ganzen Tag bemühte ich mich darum, dem krebskranken, sterbenden Professor Schäfer¹⁶ einen Platz in einem Spital zu verschaffen. Alle sind überfüllt. Mit Mühe gelang es, ihn im St. Johannsspital¹⁷ unterzubringen, man hat ihn sonst nirgends genommen.

    17.4.1942

    Ein sonniger, klarer Tag. Die Veilchen blühen, die gelben Schlüsselblumen, die Knospen brechen auf und es zeigen sich frische, klebrige Blättchen. Arno ist lieb und zärtlich, er erlaubte mir den Garten anzupflanzen. Ich eilte heute auf der Suche nach Bäumen schrecklich weit herum. Es gelang mir, Kirschbäume, Himbeersträucher, Birnbäume und einen Apfelbaum zu bekommen. Ich liebe das Leben, ich will Leben um mich herum sehen, und jetzt, bei so viel Tod – soll neues Leben wenigstens in den Bäumen entstehen, wenn ich selber einem andern nicht das Leben geben kann.¹⁸

    18.4.1942

    Von Schurotschka ist ein lieber Brief gekommen. Er bekam von uns auf einmal 44 Pakete!

    18.4.1942

    Ich war bei Professor Schäfer im St. Johannsspital. Was eine Krankheit mit dem menschlichen Körper anrichtet! Ein blassblaues Gesicht, irgendwie lang und spitz, mit grauen Haaren. Riesengroße Augen, die von einem seltsamen Licht brennen. Hände wie bei einem Skelett. Die Füße sind angeschwollen. Er sitzt am Fenster, hinter dem der Frühling die Bäume mit einem zarten, grünen Flaum bedeckt. Der blaue Untersberg lächelt mit einem Schneegruß dem bläulichen Himmel zu und am Fenster blühen die Narzissen und gelben Schlüsselblumen, die ich mitgebracht habe. Er dankte mir für die Blumen. Er bat mich, einen Gruß an Arno, Schurotschka und Reiters auszurichten. Aber er hat das Gesicht eines Toten … Das ist der Tod. Und wenn man den Tod so nahe fühlt, hat man nur einen Gedanken: Gut zu sein. Auf schöpferische Weise lebensfroh zu sein, eine Sonne zu sein, die alle wärmt, die mit mir in Berührung kommen. Dort im Jenseits herrschen Schweigen und Dunkelheit. Solange man hier ist, muss man eine Sonne und eine Freude für alle sein!

    19.4.1942

    Frau Reiter erzählte mir, Toni habe seiner Frau den Trauring geschickt, er habe daraus einen Haken gemacht, an dem sie sich aufhängen solle. Seine Frau ist schwanger, aber er schreibt ihr Grobheiten und will sich von ihr scheiden, er hat das Scheidungsgesuch schon eingereicht.

    29.4.1942

    Heute ist mein Namenstag. Es ist kalt. Am Morgen fiel Schnee. Die Dächer der Festung sind ganz weiß. Schnee liegt auf dem Gaisberg, auf dem Untersberg … Wohin man auch schaut, überall grau-weiße Wolken mit einem violetten, düsteren Schimmer, überall Schnee. Die Salzach ist heute finster und zornig. Gewöhnlich ist sie verspielt und freundlich. Und inmitten des kalten, eisigen Windes, der Schneeflocken, die vom grimmigen Himmel herunterfliegen, stehen die Bäume mit den zarten, klebrigen, gerade erst aufgegangenen Blättchen, blühende Apfelbäume, Birnbäume und andere Fruchtbäume.

    Vor fast dreißig Jahren saß ich an meinem Namenstag ebenso am Fenster, betrachtete den Himmel und freute mich an den ausschlagenden Bäumen und den Schneeglöckchen und es war mir so sonnig, so froh zumute. Vor mir auf dem Fensterbrett lag mein Tagebuch und ich schrieb: „Was in dreißig Jahren an diesem Tag mit mir sein wird, weiß ich nicht, aber heute bin ich glücklich, glücklich, glücklich … Um mich herum sind meine lieben Eltern, die geliebten Schwestern, Freundinnen, die mich zärtlich lieben. Ich habe alles. Und die Zukunft, sie muss schön sein, denn ich will arbeiten und das schaffen, was nur ich schaffen kann!" Dreißig Jahre sind vergangen. Meine Heimat ist für immer verloren, meine Eltern sind gestorben, das Schicksal meiner Schwestern ist mir nicht bekannt,¹⁹ Deutschland wurde mir zur zweiten Heimat. Aber für Russland habe ich meine Bücher geschaffen, mein Leben und das meines heiß geliebten Mannes und meines heiß geliebten Jungen aufs Spiel gesetzt – für die Gesundung und die Wiedergeburt Russlands, und ich glaube, sie werden kommen! Die Ketten des Bolschewismus werden fallen, und von neuem wird man das liebevolle, immer etwas traurige Gesicht meiner Heimat sehen. Ich frage nicht und denke nicht daran, was weiter geschehen wird. An diesem Tag will ich heiter, mutig und stark sein. Ich habe ja meinen so zärtlichen, lieben Arno, der mir hilft, die ganze Last der Trennung von unserem zärtlich geliebten Jungen zu ertragen. Zehn Monate ist er in Russland und kämpft gegen den Bolschewismus. Herr, erhalte ihn! Er ist unser einziges Kind. Erhalte, Herr, meinen Arno! Zweiundzwanzig Jahre lang leben wir wie ein Herz und eine Seele. Viel Schweres liegt hinter uns – aber Arno half mir all dieses Schwere zu ertragen.

    Der ganze Himmel ist in Wolken, die Berge sind verschneit, und Schnee fällt auf die zarten, klebrigen, stark nach Frühling duftenden Bäume. Aber die Blättchen werden sich trotzdem entfalten und der Frühling wird mit Sonne, Freude und mit Glück kommen. Auch der Krieg wird zu Ende gehen und die Menschen werden sich ausruhen …

    Und an diesem trüben, kalten Tag, der so wenig dem Frühling ähnelt, will ich an den Frühling, an die Freude, an das Schöpferische, an die Stille und Ruhe der menschlichen Seele glauben! Herr, hilf allen Leidenden, allen Verzagenden und Trauernden, schicke allen den Frühling und Freude anstatt Schnee und Kälte …

    Heute um drei Uhr ist die Beerdigung von Professor Schäfer. Wie schade, dass so schlechtes Wetter ist! Er liebte die Sonne so sehr und träumte so sehr davon, noch einmal den blühenden Flieder zu sehen …

    Ich arbeite sehr viel an meinem Drama. Ich sehe schon alle Personen deutlich. Ich spüre sie. Dieses Mal weiß ich, mir wird gelingen, was mir im Lauf von einigen Jahren nicht gelungen ist.

    Ich bin soeben vom Begräbnis von Professor Schäfer zurückgekehrt. Inmitten von Blumen und Kränzen lag der Leichnam, der einen schrecklichen Eindruck hinterließ. Hier war der Tod unerbittlich. Er trat hier als etwas Grausames, Schreckliches auf. Der ganze qualvolle Kampf eines unglücklichen menschlichen Wesens widerspiegelte sich auf dem erschöpften Gesicht mit den entblößten, braunen Zähnen. Nichts Versöhnendes war in dieser schrecklichen Grimasse, in den fest zusammengepressten Augenlidern, den bleichen, abstehenden Ohren, der trotzig gefurchten Stirn. Der Ausdruck des ganzen Gesichtes sagte: „Du hast gesiegt, Tod, aber ich hasse dich! Und dieser Ausdruck des Hasses, der Ausdruck eines gehetzten Tieres war schrecklich, hässlich und quälend! Es waren nicht viele Leute da. „Lohnt es sich, das ganze Leben für die Menschheit zu arbeiten, wenn diese Menschheit sich nicht einmal die Mühe gibt, einen auf dem Weg ins schreckliche, kalte Grab zu begleiten?, sprach gleichsam das zornige, durch den Tod entstellte Gesicht von Professor Schäfer. Am Ehrenplatz für die Verwandten saßen der Bruder, der wirklich um Professor Schäfer trauerte, die Frau des Professors, von der er schon längst geschieden war, seine beiden Töchter aus erster Ehe und seine Schwester. Die geschiedene Frau und die Töchter lagen dem Verstorbenen fern. Seine Schwester ebenfalls. Und es war seltsam zu sehen, wie gerade ihnen gegenüber das Beileid ausgedrückt wurde, während die Bäuerin, die ein neunmonatiges Kind von ihm hat, bitter weinend abseits stand. Unter allen, die Worte des Bedauerns sprachen und ihnen zuhörten, war sie die einzige, die im Professor viel verloren hat und am meisten verloren hat das Kind – der neun Monate alte Knabe. Die Bäuerin bat die ganze Zeit, ihn herbringen zu dürfen, der Bruder von Professor Schäfer verbot aber energisch, ihn zu bringen. So blieb denn der Junge mit der Schwester der Bäuerin beim Friedhofszaun. Mit gleichgültiger Stimme sprach ein alter Priester die Worte des Gebets, ein Gruß von der SA, von der Schule, von den Künstlerkollegen. Aber all das kam nicht von einem in quälendem Trennungsschmerz weinenden Herzen. Das einzige lebendige Wort menschlichen Trennungsschmerzes schluchzte die Bäuerin, die Mutter des Knaben, die Professor Schäfer zu heiraten versprochen und doch nicht geheiratet hatte: „Führ Dich Gott, Vati."²⁰

    Der kalte Wind, die weißen Schneeflocken, der violette und düstere Untersberg überhörten missmutig diesen Schrei einer Seele … Dann gingen alle nach Hause, um ihr privates Leben fortzusetzen. Und nur ein Wesen, das in Professor Schäfer seinen Vater verloren hat und das beim Friedhofszaun geblieben war, wird diesen Tag nie vergessen, obwohl er ein so kleiner Knabe ist, dass er nichts begriffen hat von dem, was vorging. Sein Vater, der ihm das Leben gegeben hat, ist gestorben. Und er ist bereits zu einem Leben ohne Vater verurteilt … Ich brachte für Professor Schäfer einen Kranz mit weißem Flieder. Er sagte mir oft, er wolle die Zeit noch erleben, wenn der Flieder blüht. Der Flieder hat schon Blättchen, aber noch keine Blüten. Ich brachte für den Toten jene Blumen, von denen er als Lebender träumte.

    2. Mai 1942

    Heute kam ganz unerwartet Fräulein von Ribbentrop zu mir. Fräulein Bettina²¹ ist eine sehr liebe und sympathische junge Frau. Sie sagte, in keinem einzigen Laden könne man meine Bücher bekommen, und ihre Mutter lese sie doch so gern. Ich sagte, dass meine Bücher verboten sind, sie wunderte sich sehr: „Gerade jetzt wären sie so nötig!" Dann gab ich ihr meine Bücher. Sie erzählte, sie reite gern und arbeite jetzt in einem Lazarett. Sie kam hierher nach Salzburg mit ihrer Mutter, um ihren Vater zu sehen, der beim Treffen des Führers mit Mussolini²² anwesend war.

    5. Mai 1942

    Es war eine junge Leserin da, die an Augentuberkulose leidet. „Ich werde vielleicht nur noch ein paar Monate sehen und ich wollte Alja Rachmanowa sehen, meine Lieblingsschriftstellerin, damit ich, wenn ich erblindet bin, Sie immer vor meinen Augen habe! Deshalb habe ich meinen Urlaub benutzt, um von Breslau nach Salzburg zu fahren und Sie zu sehen! Meine Mutter ist meinetwegen sehr beunruhigt, aber ich musste Sie sehen, um ebenso mutig zu sein, wie Sie in Ihrem Leben waren! Es ist schrecklich, mit 27 Jahren blind zu sein, aber ich werde an Sie denken und es wird mir leichter fallen!" Ich war zutiefst in meinem Innern erschüttert.

    14. Mai 1942

    Ich machte mir große Sorgen um Arno, meine Sonne. Heute machte man ihm eine Wurzelspitzenresektion. Schon zwei Wochen lang fürchtete ich mich vor diesem Tag. Die Operation verlief gut. Arno war sehr tapfer, er stöhnte nicht, obwohl es weh tat. Die Operation dauerte mehr als eine Stunde. Herr, hilf meinem Arno, meinem Tauber. Er ist alles für mich.

    15. Mai 1942

    Von Schurotschka erhielten wir drei Fotografien. Mein lieber Junge – was für ein schmales Gesicht er hat, was für einen ernsthaften, konzentrierten Ausdruck! Seine Jugend ist nicht leicht! Viel, viel Schweres sieht er. Herr, erhalte ihn uns. Er ist unser einziges Kind!

    Eine der Fotografien, die Alexander vom Winterkrieg 1941/42 nach Hause schickte.

    17. Mai 1942

    Den ganzen Nachmittag war Edwin Erich Dwinger²³ bei uns. Mit riesigem Interesse hörten wir seine Erzählungen über Russland, wo er soeben gewesen ist.²⁴ Er ist lebhaft, charmant und klug und machte einen bezaubernden Eindruck auf uns. Er war als Ehrengast an die Kulturtage der Hitlerjugend eingeladen. Uns hat man überhaupt nicht eingeladen, wie schon immer. Wir haben uns schon daran gewöhnt. Seit nun zehn Jahren schreibe ich, bekomme endlos begeisterte Briefe von Lesern, aber kein einziges Mal und nirgends war ich Ehrengast.

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