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Vinyl: Roman
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eBook303 Seiten4 Stunden

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Über dieses E-Book

Berlin, 1999. Wütend und zärtlich, poetisch-melancholisch und dabei hoch unterhaltsam erzählt »Vinyl« die Geschichte eines Musikers, den das Schicksal in jungen Jahren einer Hand beraubt.
Den Frust über sein verpfuschtes Leben, seinen Job als Manager einer drittklassigen Schallplattenfirma mit Alkohol und schnellen Drogen bekämpfend, streift er nachts durch die sich verändernde Stadt, erinnert sich an seine große Liebe, die auf alle Konventionen pfeifende, ihn über seine Grenzen hinaus fordernde Nadja, und an seine frühere Band, die "Sonntagsmörder", an Höhen und Tiefen, die Fallen und süßen Verlockungen des Pop-Geschäfts. An Punk und New Wave, Aufruhr und Widerstand, das Westberliner Inselleben, an Mauerfall und Einheitsbrei und den schlimmen Kater danach.
Ein Buch wie ein heftiger Rocksong.
SpracheDeutsch
HerausgeberMilena Verlag
Erscheinungsdatum7. Okt. 2015
ISBN9783902950499
Vinyl: Roman

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    Buchvorschau

    Vinyl - Paul Lukas

    Vinyl

    Ohne Nadja wüsste ich wohl nicht viel von Liebe, hätte wie die meisten von uns eine eher blasse Ahnung vom zwanghaften Sinn für Gerechtigkeit, von zermürbendem Selbsthass und der Flucht in den Irrsinn, hätte ich nicht diese Träume.

    Ohne Nadja wäre ich heute noch Musiker von Beruf und nicht der versoffene A&R-Manager einer drittklassigen Schallplattenfirma. Einundvierzig Jahre alt. Ausgebrannt. Komplett im Eimer.

    Als Erstes hatte ich mich in ihren unglaublich direkten Blick verliebt, dachte damals, trunken vor Stolz in Erwartung eines ziemlich großen Gigs, er gelte mir, war von ihrer rosaroten Haarpracht beeindruckt, von herrlichen Brüsten in ultrakurzem Kleidchen, den die Beine verlängernden kniehohen Stiefeln. Zwei schüchterne Wochen später, sie mochte meine Stimme am Telefon, fand ich an ihrem Bett kauernd heraus, dass sie Kontaktlinsen trug und über einen erstaunlichen Vorrat an Perücken verfügte. Als ich überraschend vor ihrer Wohnungstür auftauchte, hatte sie hysterisch nach einer imaginären Haushälterin gerufen und sich das nächstbeste Haarkleid übergeworfen.

    Später standen wir auf ihrem Balkon, betrachteten die Sterne, genossen den städtischen Duft des Sommers, von Kastanien, Döner Kebab und Katalysator-Versagen, und ich erzählte ihr stolz, ich hätte ein Kind gezeugt (das zweite verschwieg ich ihr vorsichtshalber), einen Baum gepflanzt (während der wenigen Wochen, die ich Jahre zuvor als Gärtnergehilfe durchgehalten hatte) und ein Haus gebaut (ich hatte in einem Abrissunternehmen gejobbt und schwarz ein paar Mauern wieder hochgezogen). Dies schien ihr mächtig zu imponieren, sie legte ihr von grünen Locken umrahmtes Köpfchen gegen meine Schulter und summte irgendwas in der Art von »As time goes by«.

    Trotzdem hatte ich mich kurz darauf verabschiedet, und es sollte noch einmal volle zehn Tage dauern, bis wir uns in einer Kneipe in der Nähe meiner Kreuzberger Wohnung verabredeten, bei einer Palette Mut machender Flaschenbiere fröhlich ins Plaudern kamen und schließlich bei mir zu Hause und dann auch sofort in meinem frischbezogenen Bett landeten, wo ich den großartigsten Sex meines Lebens erlebte. Ein Traum wurde wahr, eine kaum noch für möglich gehaltene gleichzeitig körperliche wie geistige Vereinigung, wie mir schien, und als wir uns erschöpft eine Zigarette teilten, trieb es mir, noch unter ihr und in ihr, Tränen des Glücks in die Augen.

    Später in dieser Nacht, das Gesicht nur noch schwach vom Mondlicht beleuchtet, erzählte mir Nadja mit leiser Stimme, dass sie seit drei Jahren auf den Strich ging. »Aber mach dir jetzt bloß keine Sorgen, ich hab’s kein einziges Mal ohne Gummi gemacht.«

    Sie sprach von der einzigartigen Freundschaft, die sie mit ihren Kolleginnen verbinde, von einer nirgendwo sonst gefundenen Solidarität, der geteilten Verachtung der Männer, die sie in diesem Job ausleben könne, aber ich hatte doch gar nicht nach Gründen gefragt.

    Zwei Tage später stand sie wieder vor meiner Tür. Kurz geschorenes dunkelblondes Haar, ungeschminkt, im Parka, in Jeans und billigen Turnschuhen. Klein und schutzlos und so gar nicht mehr die selbstbewusst kokette Lady, als die sie mir bei unseren ersten Begegnungen erschienen war. Diesmal verbrachten wir eine ganze Woche im Bett, hoben wieder und wieder in ungeahnte Höhen ab, liebten uns und redeten, alberten in herrlicher Vertrautheit, standen nur auf, um aufs Klo oder zum Kühlschrank zu gehen, aßen kaum und tranken wenig, bis ich schließlich trotz allem den Wunsch verspürte, mal wieder alleine zu sein, zu arbeiten, meinen Kram zu sortieren, zu mir zurückzufinden, ganz einfach mal wieder ich selber zu sein.

    Aber Nadja verstand nicht. Sah zutiefst verletzt aus, fühlte sich zurückgewiesen und weggeschickt. Ich blieb stur, drückte sie an mich, wischte ihr zärtlich zwei Tränen von der Wange, drehte sie um, dann also bis morgen, und schob sie zur Tür hinaus.

    Nur fünf Minuten später klingelte es. Ich hatte gerade eine zerrupfte Saite meines Fender Precision Bass ausgetauscht, legte das gute Stück zur Seite und schlurfte mürrisch in den Flur, um zu öffnen. Vor mir stand Nadja. Beziehungsweise eine weitere verwirrende Variante meiner neuesten Eroberung. Noch einmal mindestens fünfzehn Zentimeter kleiner, schmaler und schutzbedürftiger. Am ganzen Leibe zitternd, mit einem verzerrten Gesichtsausdruck, der einem mir vollkommen fremden Menschen gehörte. Die panisch flackernden Augen suchten zwei weit auseinanderliegende Punkte in der Wohnung hinter mir, die rechte Hand fuhr ihr in fahrigen Wischbewegungen über den hässlich zugespitzten, nun winzigen Mund. »Sie sind wieder da!«, stammelte sie verzweifelt, »sie sind wieder da.«

    »Wer denn? Wer ist wieder da?«, antwortete ich grober, als ich beabsichtigt hatte.

    »Die Männchen«, schluchzte sie, »die kleinen grünen Männchen!«

    Ich empfand Mitleid und gleichzeitig eine wachsende Wut. Glaubte sie denn ernsthaft, mit diesem Blödsinn bei mir landen zu können? Vor der herbeigeheulten Invasion außerirdischer Zwerge in meine Wohnung fliehen zu dürfen? Aber was war es, das sie zu derart lächerlichen Mitteln greifen ließ, um dem Alleinsein zu entgehen? Meine Zuneigung gewann die Oberhand. Seufzend führte ich sie wieder hinein, sie sackte in meinen Armen zusammen, ich hob sie auf, wie leicht sie jetzt war, trug sie ins Bett, zog sie aus, streichelte sie und bemühte mich, beruhigend auf sie einzureden, bis das allerschlimmste Zittern und Weinen vorüber war. Nach drei Tagen Ruhe und Pflege entsprach sie in etwa wieder dem Mädchen, das ich in einer der intensivsten Wochen meines Lebens kennengelernt hatte.

    Diese verfluchten Geigen. Und die stechenden Kopfschmerzen, die sich anfühlten, als fuhrwerke ein durchgeknallter Zahnarzt mit seinem Instrumentarium in meinem Schädel herum. Dazu das Pochen und Ziehen in dem hässlichen Stumpf, der einmal meine linke Hand war. An Schlaf war nicht mehr zu denken.

    Der Kerl in der Wohnung über mir hatte mich jahrelang mit Abba gequält, mit Tic Tac Toe, Phil Collins, George Michael und noch viel mehr von all dem verlogenen Müll, aber die neuesten Scheiben der Band, in der ich einst meinem Traumberuf hatte nachgehen dürfen, dröhnten natürlich erst zu mir herunter, seit die Sache für mich endgültig und für immer gelaufen war. Ich den mit süßlichen Streichern verklebten Sound nicht mehr ertragen konnte, mir die Stimme des Sängers zur Folter geworden war und der Langweiler, der meinen Platz am Bass eingenommen hatte, mich vom langsamen, genüsslichen Morden fantasieren ließ. Weil ich nicht daran erinnert werden wollte. Wie mir die Verachtung des Scheins die Leber zerfraß. Seitdem ich nun Tag für Tag einem vierundzwanzigjährigen geklonten Klassenstreber gegenübersaß, der nach das Hirn verkleisternden Wochenendseminaren der Kulturindustrie ins Büro stürmte, sich mit arroganter Visage im Schwingsessel zurücklehnte, die Designerschuhe auf dem Glastisch platzierte und den Kugelschreiber lässig in der Luft kreisen ließ, um mit der frisch erlernten Pose »Überlegenheit zu suggerieren«, wie er mir, maßlos von sich selbst begeistert, erklärte. Und anschließend den lieben langen Tag nichts anderes tat, als die hoffnungslosen Dilettanten abzubürsten, die ihr Erspartes in Studioaufnahmen grauenvoller selbst gebrannter CDs gesteckt und einen Termin bei ihm ergattert hatten. Den er ihnen einzig und allein deshalb eingeräumt hatte, weil es ihm Spaß machte, dabei zuzuschauen, wie von Ruhm und Erfolg träumende Augen erloschen. Tom Tänzer war ein Arschloch.

    Ich stieg vorsichtig aus dem Bett, bemüht, das wasserstoffblonde Mädchen mit den Ringen in der Zunge, das leise und friedlich neben mir schnarchte, nicht aufzuwecken, und ging ins Bad, um ein Glas Wasser zu trinken. Ein weit vor der Zeit gealtertes aufgequollenes Trauergesicht, von Alkohol und Koks gerötet wie ein blutiges Steak, glotzte mir blöde aus dem Spiegel entgegen. Die Tränensäcke wären als Wiener Würstchen durchgegangen. Was taten die jungen Mädchen nicht alles, um an einen Plattenvertrag zu kommen. Und ich konnte mich nicht einmal an ihren Namen erinnern. Oder ihre Message. Umpf, umpf, umpf. Der letzte aufrichtige A&R, der sich auch zum Ende des Jahrtausends noch höchstpersönlich unters Volk mischt. In Clubs geht, um wahre Talente aufzuspüren. Bloß dass der sterilisierte Schrott, den sie dir heutzutage auftischen, keine Jauche und keinen Groove hat, keine Farbe und keine Substanz. Und dann kommt so ein kleines Mädchen daher, Kajal bis zum Ohr, nicht schön, aber jung, entdeckt den einsamen traurigen Ex-Künstler mit Verbindungen, schiebt ihm verschmitzt eine Hörprobe zu und einen zarten weichen Schenkel übers Knie. Der Sänger plärrt, die Synthies quietschen, was für ein Gesindel wieder da vorn auf der Bühne, schnell noch zwei Bier und dann ab aufs Klo mit ihr, wir hocken um die Schüssel herum, der Rest des zerbrochenen Deckels dient als Unterlage, zitternde Vorfreude, geübte kleine Hände führen die superscharfe Klinge, kratzen, zerhacken und teilen. Sie grinst und schnieft, dann wieder raus und hinauf, presst sich an mich, lässt den Hintern kreisen, redet und brüllt, ich versteh kaum ein Wort, nur Geiler Beat, Alter und ähnlichen Quark und: Zu mir oder zu dir? (Und das Fleisch war willig, aber der Geist war verwirrt.)

    Ich ging in die Küche, klemmte mir mit zitternder Hand eine Dose Bier zwischen die Beine und riss sie auf. Der kalte Schaum spritzte mir über die Waden. Sieben Uhr dreißig. Noch zwei Stunden und dann ab ins Büro. Ja doch, ich würde mir das Tape schon noch einmal vornehmen. Das war ich ihr schuldig. Würde ihr Mut machen, sie vertrösten, schließlich an andere Adressen verweisen. Von wegen zurzeit leider hoffnungslos ausgelasteter Kapazitäten. Irgendwas in der Art. Und natürlich strikt telefonisch.

    Mir wurde bewusst, dass nun schon seit Monaten einer meiner ersten Gedanken am Morgen der Frage galt, wie ich mir einen gelungenen Abgang verschaffen könnte. Selbsttötung. Schlussmachen. Nur, was würden wohl meine Kinder dazu sagen? Ich dachte an meinen alten Kumpel Jarosch, einen überaus talentierten Fotografen, der irgendwann die Gardinen zugezogen und die Wände seiner Wohnung komplett schwarz angestrichen hatte und nur noch auf die Straße gegangen war, um sich Büchsenfutter und Zigaretten zu besorgen. Ein halbes Jahr später hatte er sich schließlich von exakt derselben Brücke gestürzt, die schon sein Vater einst für die geeignete Plattform gehalten hatte, um senkrecht aus dem Leben zu scheiden. Ich stand auf, ging zum Kühlschrank und holte mir noch ein Pils.

    Vor etwas mehr als fünfzehn Jahren hatte mein streng idealistisch geführter Schallplattenladen zwangsläufig pleite gemacht, ich hatte meinen Kleintransporter aus der Konkursmasse gerettet und aufstrebende Rockbands durch die Lande gefahren. Darunter eines Tages auch die Sonntagsmörder, die Band, mit der ich bald sämtliche Höhen und Tiefen einer ehrgeizigen musikalischen Karriereplanung durchmachen sollte. Von auf verregneten Bürgersteigen geteilten Brötchen, mit denen wir halbverhungert im Aldi-Fleischsalat stocherten, bis hin zu umjubelten Konzerten vor Tausenden von Fans, Luxus-Hotels und schleichendem Größenwahn.

    Zunächst aber war ich wie gesagt nur der Fahrer. Ich klimperte zu Hause auf der Akustikgitarre, konnte durchaus einen Dur- von einem Moll-Akkord unterscheiden, hegte ansonsten aber keine besonderen Ambitionen, was Bühne, Rampenlicht und Groupies anging. Bis zu dem Tag, an dem die Band zum ersten Mal auf einem ländlichen Open-Air-Festival auftrat. Im Nachmittagsprogramm zwar, vor zu dieser Zeit noch recht wenigen Besuchern, aber Mo, der Sänger der wildentschlossenen Fünf-Mann-Combo, erzählte von einem gewaltigen Pressestab, der sich seine genialen Songs von Sex und Wahn und Verzweiflung mit Sicherheit nicht entgehen lassen würde. Die Sonne knallte mit tropischer Wucht auf den Steinbruch herunter, als Mo mich bat, dem Mann am Mischpult auf die Zehen zu treten, um den spezifischen klangtechnischen Anforderungen seiner damals noch reichlich archaischen Kompositionen zur Geltung zu verhelfen. Verwundert schleppte ich mich den Hang hinauf und unter die in der heißen Brise flatternde Plane, die unzählige Kabel und Knöpfe davor bewahrte, wie Butter zu zerlaufen und vom Tisch zu kriechen. Ein bärtiger Techniker im Aero-smith-T-Shirt nickte freundlich, als er mich sah, kam meinen Sonderwünschen nach einer rückwärts verhallten Hi-Hat und einer im Darmbereich rumorenden Kick-Drum, die auch noch die letzten Hirsche Schleswig-Holsteins für alle Zeiten verjagt haben dürfte, anstandslos nach, verkleisterte auch Mos Brüllgesang mit den entsprechenden Effekten und verzog sich nach dem Soundcheck zu meinem Entsetzen in den Kantinenbereich, um seinen Durst zu stillen. Mir blieb keine Wahl, schon waren die Jungs zurück auf der Bühne, ließen sich vom kläglichen Applaus nicht beirren und legten los, als sei Karel Gott hinter ihnen her. Und nach kurzem Zögern kam auch ich meiner Aufgabe nach, ich kannte inzwischen ja jeden Ton, ließ Becken peitschen, Gitarren wimmern, das Saxofon kreischen, von rechts nach links, von oben nach unten, einmal im Kreis und dann wieder von vorn, geriet in Ekstase, erkannte mich selbst nicht, beherrschte den Landstrich, empfand durchaus Macht. Als das Toben vorüber war, applaudierten die Menschen seufzend im Stehen, wohl heilfroh, wie ich heute vermute, dass der Albtraum ohne größere Hörschäden zu einem friedlichen Ende gefunden hatte. Ich aber hatte Blut geleckt, war angefixt worden und von nun an süchtig.

    Auch Mo war begeistert. Allerdings mehr von sich selber. Was einer da draußen mit dem Soundsystem treibt, kriegst du als Musiker auf der Bühne kaum mit, wie ich heute längst weiß. So ließ ich ihn während der sechsstündigen Fahrt durch die Nacht neben mir brabbeln von »postmodern« und »wirklich gigantisch«, von »Avantgarde-Clubs in Manhattan« und den »Gefahren des Ruhms«. Ich wollte einen verzagteren Mo abwarten, um die dringende Notwendigkeit eines bandeigenen Technikers anzumahnen und mich, an den großen Tag in der Kellinghusener Heide erinnernd, in aller Bescheidenheit selbst in die Waagschale zu werfen. Aber es sollte ganz anders kommen.

    Nur eine Woche später fuhr ich vorm Proberaum vor, wo Instrumente und Verstärker für einen Kurzauftritt auf einem Neuköllner Straßenfest verladen werden sollten, lehnte mich wartend vor den Bus und rauchte eine Zigarette. Tauben umkreisten gurrend meine Füße, eine türkische Weise drang träge aus den geöffneten Fenstern zu mir herunter, und ich wartete und rauchte. Bis ich die Kellertür im Wind quietschen hörte, sah, wie sie aufklappte und zurück in den Rahmen schlug. Ich stieg die schimmligen Stufen hinunter, und tatsächlich, da saßen die Künstler und stierten missmutig schweigend aneinander vorbei. Fredy, der Gitarrist, kaute auf den Fingernägeln, und Schlagzeuger Mark bohrte sich mit einem Trommelstock das Schmalz aus den Ohren. Saxofonist Ole versteckte seine Nase hinter einer John-Coltrane-Biografie, und der selbsternannte Kopf der Band, der kleine Mo mit der großen Schnauze, ergriff das Wort und erklärte mir die Lage. Der Bassist habe kurzerhand beleidigt die Band verlassen, weil sie ihm eine Abmagerungskur nahegelegt hätten. Die Konkurrenz sei groß, die Lage schwierig, und man müsse hart an sich arbeiten im Kampf um Ruhm, Ehre, Geld und Titelblätter. Das fange nun mal beim Äußeren an, sagte Mo und klopfte mir, mich wohlwollend von Kopf bis Fuß musternd, auf die Schultern. Dann drückte er mir das zurückgelassene Arbeitsgerät des Bassisten in die Hände, erklärte mir, dass die Band ihr Programm mit nicht mehr als drei oder vier Akkorden bestreite (als ob mir das entgangen wäre) und ich demnach auch nur drei oder vier verschiedene Töne zu produzieren hätte. Er würde mir die richtigen Stellen schon beibiegen, der Rest käme dann ganz von alleine.

    »Bassisten dürfen doof sein wie Stulle, solange auf der Bühne die Post abgeht, ist die Banane gepellt«, dröhnte er, und mir fiel ein, dass ich im Alter von vier Jahren als Triangelspieler des Kindergartenorchesters so manche müde Mutti zu einem sanften Groove animiert hatte. Man kann nie wissen, was in einem steckt, und so fügte ich mich einer ersten Probe in den beengten Gemäuern und rieb mir noch Stunden später die pfeifenden Ohren.

    Unseren ersten gemeinsamen Auftritt hatten wir drei Tage später auf einem Schulfest in Spandau. Ich hatte mir das Programm der Band, das die Jungs im Vorjahr auf eigene Kosten auf Vinyl gepresst und unter dem Titel 24 Beinharte Trauermärsche im Selbstverlag unter die wenigen geneigten Leute gebracht hatten, noch einmal in Ruhe angehört, dann mussten zwei weitere Proben genügen. Vierhundert überwiegend weibliche Schreihälse in der prall gefüllten Aula, in der es brodelte und dampfte wie im Heizraum eines antiken Ozeanriesen, bejubelten die abgenudelten Rocksongs, die ihnen ein gnadenlos rückständiger DJ servierte, tanzten und feierten entschlossen sich selbst, und Mo entschied nach einer kurzen nervösen Bandkonferenz, einige Gassenhauer ins Programm aufzunehmen, um das Publikum nicht zu überfordern und einer Revolte vorzubeugen.

    Es kam, wie es kommen musste. Dass Fredy irgendwas in den falschen Hals gekriegt hatte und mit dem Gitarrenriff von »Hey Joe« prahlte, während der Rest der Band versuchte, Patti Smith mit einer entspannt rumpelnden Version von »Gloria« in den Schatten zu stellen, nahmen die berauschten Teenager noch anstandslos hin. Led Zeppelins »Gallows Pole« aber, der Griff in die Trickkiste, auf den Mo ganz besonders stolz war, brach nach einer sich zirka sieben Minuten hinziehenden Suche nach einer gemeinsamen Akkordbilanz in sich zusammen, wir hatten uns verhoben und die Trümmer des Arrangements versandeten in einer traurig atonalen Saxofoneinlage, die einen Stromausfall und einen Hagel Bierdosen zur Folge hatte. Mo rannte von der Bühne und suchte in der Dunkelheit nach dem Organisator, um ihm wegen Sabotage an den Hals zu gehen, Drummer Mark und Ole am Saxofon bemühten sich, mit peinlichstem Pseudojazzgedudel die Pause zu überbrücken, und ich packte den Bass ein, um mich in den Bandbus zu verziehen. Auf dem Schulhof aber wurde ich von einem blonden jungen Mann (Typ Tom Tänzer, wie ich heute sagen würde) in einem blütenweißen Seidenhemd und einer aschgrauen Bundfaltenhose aufgehalten. »Hallo«, sagte er, »ich bin Sven Meier von der Multiphon.« Er reichte mir eine Visitenkarte. »Würde mich freuen, wenn ihr die Tage mal anrufen würdet.« Sprach’s, ging und ließ mich verdattert in einer femininen Duftwolke zurück.

    In der Aula knallte und zischte es, dann kündeten über den Asphalt huschende bunte Lichter und der mit einem gequälten Jaulen zur Originalgeschwindigkeit zurückfindende Plattenspieler davon, dass die Energiezufuhr wieder in Gang gesetzt worden war und von dem geladenen Live-Act, wie nicht anders zu erwarten, kein Mensch mehr wissen wollte. Zerzaust und verbittert drängelte sich Mo durch eine Gruppe vor der Tür rauchender Jugendlicher, dann folgte der Rest der Band, erregt diskutierend, wir bestiegen den Bus, ich beschloss, die Neuigkeit zunächst für mich zu behalten, das kleinlaute Schweigen der Rückfahrt zu genießen, besinnlich und milde nach einem Abend der mich ratlos zurücklassenden, das Kleinhirn zerrüttenden Klangerlebnisse.

    Kurz vor dem Nollendorfplatz meldete sich Mo aus dem Dunkel der hinteren Sitzplätze und schlug vor, im Café Swing zwei, drei Biere zu nehmen. Eine weise Idee, ist man bemüht, eine von Zweifeln geplagte und vom Auseinanderbrechen bedrohte Kapelle aufs Neue und feste zusammenzuschweißen. Wir betraten das Lokal, in dem uns eine gelassene Archie-Shepp-Nummer entgegenblies, die üblichen Gestalten bei Bier und Tequila jedem Naiven, der ein Ohr für sie hatte, euphorisch ihre hochfahrenden, zu fünfundneunzig Prozent niemals zur Aufführung gelangenden künstlerischen Pläne erläuterten, und Else, die geduldige Wirtin und Hüterin dieses verlorenen Haufens, die Gesichter meiner Kollegen mit einer Runde aufs Haus zu entknautschen versuchte.

    Ich erzählte es Mo schließlich auf dem Klo. Mit der selbstzufriedenen Lässigkeit eines Großgrundbesitzers, der störende Steinchen von seinem gepflegten Rasen kickt, schüttelte er sein Schwänzchen ab. »Scheißindustrie«, knurrte er. »Vergiss es.«

    Draußen wurde es langsam hell. Ich schaute aus dem Küchenfenster und betrachtete den zertretenen Vogel, der im Schneematsch auf seine Verwesung wartete, den grauen Himmel, der wie ein Putzlappen über dem Morgen hing, und die missmutigen blassen Figuren, die in Erwartung eines Arbeitstages, der das Leben seit fünf, fünfzehn oder fünfunddreißig Jahren mit der immer gleichen wässrigen Farbe überzog, in gebeugter Haltung zum U-Bahnhof hasteten. Als ich endlich unter der Dusche stand, läutete das Telefon. Nach dem sechsten oder siebten Klingeln beschloss ich ranzugehen. Vielleicht war das Büro abgebrannt und ich konnte mir den Gang zur Arbeit schenken. Im Flur stolperte ich über Sylvester, meinen senilen schwarzen Kater, der beleidigt quiekte und mir zur Strafe in den Knöchel biss.

    »Hallo?«

    »Hallo Paps«, meldete sich die über alles geliebte Stimme meiner Tochter. Ihre Anrufe waren verdammt selten geworden, seit sie sich vor einigen Monaten mit einem jungen Angeber aus wohlhabender Familie, mit New Beetle und eigenem Appartement im Grünen, zusammengetan hatte.

    »Hallo Clara, wie geht’s?«

    »Mama ist beim Ficken aus dem Bett gefallen. Voll in den Glastisch rein. Das hat ihr echt krass den Arsch zerlegt. Jetzt liegt sie im Urban-krankenhaus und will von niemandem besucht werden. Ich schätze, es ist ihr peinlich.«

    Mein Mitleid hielt sich in Grenzen. Wenn dich eine verbiesterte allein erziehende Mutter, die weder mit dem Verlust ihrer angeblichen großen Liebe noch mit dem Älterwerden fertigwird, jahrelang verfolgt, um in ätzender Regelmäßigkeit den Hass gleich säckeweise über dir auszuschütten, dann kann dein Herz schon mal auf Erdnussgröße schrumpfen. Wir haben schließlich alle so unsere Probleme.

    »Scheiße, da kann man wohl nichts machen.«

    »Weiß ich ja. Es ist nur … ich weiß nicht, was ich mit dem Hund machen soll. Ich bin doch jetzt meistens bei Manuel. Er braucht mich jetzt wirklich, wo er sein Abi macht.«

    Der Hund mal wieder. Dieser nervtötende kleine Bastard, dessen gewaltige, seine Körpergröße bei Weitem überragende Haufen regelmäßig auf meinem Bett dampften, wenn ich restlos erledigt von einer Fernfahrertour nach Hause kam. Damals, als wir gemeinsam im Wedding lebten und uns für einige Monate ganz sinn- und hoffnungslos damit abmühten, einen auf heile Familie zu machen. Ich hatte den Köter eines Tages heimlich in der Hasenheide ausgesetzt, die Tränen der Damen tapfer ertragend, aber das ansonsten stockblöde Fusselvieh hatte drei Tage später mager und zerzaust an der Wohnungstür gekratzt. Nach unglaublichen dreizehn Kilometern Wegstrecke durch die halbe Stadt.

    »Tut mir leid, Süße, aber du weißt doch, dass er sich nicht mit der Katze verträgt.«

    »Und wenn du ihn mit ins Büro nehmen würdest? Nachts kann er ja in der Küche schlafen. Bitte!«

    Ich suchte verzweifelt nach einer Ausrede, wollte es mir mit dem einzigen Menschen, den ich bedingungslos liebte und von dem ich hoffen durfte, dass er auch für mich etwas übrig hatte, auf keinen Fall verderben. »Warum nimmst du ihn nicht mit zu Manuel?«

    »Weil er ’ne Allergie gegen Hunde hat, aber das hab ich dir doch erzählt! Nie kannst du dir merken, wenn ich dir was sage.«

    Die Übertreibung sei das Vorrecht der Jugend, heißt es. Trotzdem, langsam wurde es eng für mich. »Wie lange muss Sylvie denn im Urban bleiben?«

    »Höchstens eine Woche oder so. Bitte! Das schaffst du doch locker.«

    Oh, wenn mein Töchterlein wüsste! Das einzig Lockere an mir waren schon seit geraumer Zeit nur noch diverse Backenzähne. Andererseits war es nun einmal eine Tatsache, dass der Respekt meiner Zuarbeiter endgültig dahin wäre, würde ich mit der uralten vertrottelten Töle im Büro auftauchen.

    »Was machen eigentlich deine Klavierstunden? Geht’s gut voran?«

    »Paps! Jetzt lenk nicht ab! Nimmst du den Hund oder nicht?«

    »Hör mal, Clara. Dein Manuel hat ’ne

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