Die großen Gebete der Menschheit
Von Bruno Kern
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Buchvorschau
Die großen Gebete der Menschheit - Bruno Kern
I. DIE JÜDISCH-CHRISTLICHE TRADITION
„Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen und ihre laute Klage über ihre Antreiber habe ich gehört! (Ex 3,7) – Die Religion Israels, aus der später Judentum und Christentum hervorgehen sollten, beginnt also mit einer Gebetserhörung. Die Erinnerung an den Exodus, an den Auszug einer Gruppe von Fronarbeitern aus Ägypten, ist das konstitutive Grunddatum des israelitischen Jahweglaubens. Das Exodusereignis wird geradezu zur Definition Gottes! „Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus dem Sklavenhaus Ägypten herausgeführt hat
(Ex 20,2), lautet denn auch die Einleitung zum Dekalog, den „Zehn Geboten".
Um die Entstehung dieser israelitischen Religion zu rekonstruieren, stehen uns neben den Texten der hebräischen Bibel, insbesondere des Pentateuch, außerbiblische schriftliche Zeugnisse (Stelen, Briefliteratur …) und gute archäologische Befunde zur Verfügung. Sozialgeschichtlich scheint Israel aus Umbruchs- und Wanderbewegungen in Palästina um das Jahr 1200 v. Chr. hervorgegangen zu sein: Die miteinander rivalisierenden kanaanäischen zentralistisch-monarchischen Stadtstaaten standen unter dem hegemonialen Einfluss Ägyptens. Von diesen Stadtstaaten abhängige Bauernfamilien flohen vor Konflikten und Ausbeutung ins Bergland. Materielle Voraussetzung dafür war die Einführung von Eisenwerkzeugen, die auch das weniger fruchtbare Bergland bebaubar machte. Zu diesen Bauernfamilien stieß bald eine aus Ägypten kommende Gruppe von „Hapiru (Hebräern). Diese stellten kein „Volk
im Sinne einer ethnischen Größe dar: Es handelte sich um eine Gruppe von „Wirtschaftsmigranten, Söldnern etc., die ein aufrührerisches Moment im gesellschaftlichen Gefüge bildeten. Eine solche Gruppe von Hapiru scheint unter Pharao Ramses II. Fronarbeit geleistet zu haben, aus der sie entkam. Diese Befreiung aus der Sklaverei verband sie mit dem geschichtsmächtigen Handeln ihres Gottes mit dem Eigennamen Jahwe (s. dazu weiter unten S. 26). Das politische und soziale Bewusstsein in Verbindung mit dem Bekenntnis zum Jahwe-Gott geht wohl auf diese aus Ägypten kommende Gruppe zurück. Dieser Jahwe-Gott ist also wesentlich ein Gott, der sich als parteiisch für die Unterdrückten erweist. Diese Parteinahme für die Armen wird denn auch zum unverrückbaren Maßstab innerhalb der Geschichte Israels und zu einem deutlich erkennbaren Schwerpunkt der hebräischen Bibel. Das spätere Königtum kann sich nur legitimieren, indem es sich als besonderen Schutz für die Armen darstellt. Die prophetische Tradition klagt die Erfüllung von „Recht und Gerechtigkeit
und die Verwirklichung von Solidarität als die eigentliche Jahwe-Verehrung ein. Die späteren messianischen Vorstellungen und die apokalyptische Literatur behaupten Gott als den eigentlichen Herrn der Geschichte angesichts von Unterdrückung und Gewalt …
Nach dem babylonischen Exil bilden sich bald die ersten Diaspora-Gemeinden (neben dem Zweistromland vor allem in Alexandrien), und nach der endgültigen Zerstörung des Tempels im Jahr 70 n. Chr. konstituiert sich jüdischer Glaube außerhalb Israels und ohne eine zentrale Kultstätte. Die Tora, die hebräische Bibel insgesamt, die Beschneidung, der Talmud, die Einhaltung des Sabbats, die jüdischen Feiertage, allen voran die Feier des Pesachfestes im Gedenken an den Auszug aus Ägypten, sind die prägenden Elemente des sich nun weltweit ausbreitenden Judentums. Zentral bleibt das Bekenntnis zu dem einen Gott (s. unten S. 25).
Die ersten Christen verstehen sich – wie Jesus selbst – völlig als Juden, aber bereits im Lauf des ersten Jahrhunderts kommt es zum endgültigen Bruch mit der „Synagoge. Seit der Antike ist die Christentumsgeschichte gleichzeitig eine beschämende Geschichte des Judenhasses und der Verfolgung. Die Rückbesinnung auf den gemeinsamen Ursprung ist erschwert und gebrochen durch diese Schuldgeschichte des Christentums. Dennoch gilt nach wie vor das Wort des Paulus: „Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich.
(Röm 11,18) Judentum und Christentum können keineswegs als zwei verschiedene „Religionen betrachtet werden, vielmehr können sich Christen als eine Spielart des messianischen Judentums begreifen. Gerade wegen dieses besonderen „Ursprungsverhältnisses
geht die Schuldgeschichte des Christentums bis an die Wurzeln der theologischen Identität. Das Bekenntnis zu dem einen Gott, der sich als geschichtsmächtig Handelnder für die Unterdrückten und Opfer erweist und dessen Treue und Gerechtigkeit auch noch die Toten mit einbezieht, ist der gemeinsame Grund, auf dem Juden wie Christen gleichermaßen stehen.
Höre Israel!
Mindestens zweimal am Tag, abends und morgens, sprechen fromme Juden das „Schema Israel auf Hebräisch. Es ist das Grundbekenntnis zum einen und einzigen Gott! Religionsgeschichtlich ist diese „Monolatrie
(nur ein einziger Gott wird verehrt), die dann mit der prophetischen Tradition zum reflektierten Monotheismus im strengen Sinne wird, bemerkenswert. Israel hebt sich damit deutlich von der altorientalischen Umwelt ab. In der Antike waren nicht nur unterschiedliche Götter für jeweils andere Wechselfälle des Lebens zuständig, sondern eine Gottheit (etwa der kanaanäische Baal) konnte je nach Anliegen und Bedürfnis unter verschiedenem Namen angerufen werden. Diesen Gottheiten als Spiegelungen der jeweiligen privaten Sehnsüchte und Bedürfnisse setzt Israel den einzigen Namen Gottes entgegen. Der Herr teilt sich nicht in viele lokale oder private Götter, er ist einer und wendet sich als solcher ganz und ungeteilt an sein Volk. Die adäquate Antwort darauf ist die ebenfalls ungeteilte Gottesliebe „mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele, mit ganzer Kraft. Auch im Zweiten Testament wird dieses „wichtigste Gebot
als die Grundessenz der ganzen Schrift bestätigt (Mk 12,28-34). Der Name Gottes – geschrieben als „Tetragramm mit den vier hebräischen Buchstaben JHWH – wird nicht ausgesprochen, sondern mit „Adonai
(„Herr), oder wie im folgenden Gebetstext, mit „der Ewige
wiedergegeben. Über Gott kann man nicht „verfügen (was mit der Anrufung und Beschwörung seines Namens intendiert sein könnte), er ist es vielmehr, der sich selbst souverän und frei offenbart. Die Selbstoffenbarung des Namens Gottes entstammt der Exodus-Sinai-Tradition (vgl. Ex 3,14): „Ich bin der, der ich für euch da sein werde
ist wohl die adäquate Übersetzung des Eigennamens Jahwe. Darin kommt das Gottesverständnis Israels in seinem unverwechselbaren Kern zum Ausdruck: Wenn Israel von Gott spricht, dann verweist es auf ein konkretes geschichtliches Ereignis, mit dem es Gottes geschichtsmächtiges Handeln identifiziert: auf die Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei. Israels Gott ist der Befreiende, in der Geschichte Handelnde, ein durchaus parteiischer Gott auf der Seite der Unterdrückten. Die Erinnerung an diesen Befreiergott aus der Sklaverei konstituiert sein Volk gleichzeitig als die „Kontrastgesellschaft, deren prägendes Kennzeichen die Verwirklichung von Solidarität, Recht und Gerechtigkeit ist. Dies ist mit der Rede vom „auserwählten
Volk eigentlich