Knurrende Kunden: Aggressionsverhalten bei Hunden: Fallmanagement für Hundetrainer
Von Nicole Wilde
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Nach "Menschentraining für Hundetrainer" ein weiteres unverzichtbares Buch für alle, die im Training auch nicht ganz so unproblematischer Hunde ihre Berufung gefunden haben.
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Buchvorschau
Knurrende Kunden - Nicole Wilde
werden.
Teil I
Übersicht & praktische Überlegungen
Kapitel 1
Was ist Aggression?
Susan klingt erschöpft. Sie ruft an, sagt sie, weil sie wirklich am Ende ihrer Kräfte ist:
»Jasper ist völlig außer Kontrolle. Er ist richtig aggressiv!«
»Können Sie erklären, was Sie mit ‘aggressiv’ meinen?« antworte ich.
»Was macht Jasper genau?«
»Also, er springt die Kinder an und packt sie an den Kleidern. Wenn mein Zweijähriger Essen in der Hand hat, springt Jasper ihn an und reißt es ihm weg.«
Zum Schluss betont Susan nochmals: »Er ist erst sechs Monate alt, aber er ist wirklich aggressiv!«
Nun ist es zwar richtig, dass Jaspers Verhalten schwierig ist und damit zu leben ist wahrscheinlich nicht besonders lustig, aber es ist weit davon entfernt, aggressiv zu sein. Susans Beschreibung ist vielmehr ziemlich typisch für einen »selektiv hörenden« Halbstarken, dem Grenzen, anständige Manieren und vielleicht ausreichende Bewegung, mentale Beschäftigung sowie eine klare Führung fehlen. Es verwundert nicht, dass Jasper durch reinen Körpereinsatz zu bekommen versucht, was er gerne haben möchte; denn er hat damit Erfolg. Wichtig ist aber die Unterscheidung: Jaspers Betragen mag widerlich sein, aber es ist nicht aggressiv.
*~*~*~*~*~*~*~*~*~
Ein örtlicher Tierschutzverein vermittelte kürzlich Jojo, einen zweijährigen Labrador-Retriever-Mix an die Ersthundehalter Claire und Andy. Das Paar dachte, ein freundlicher Hundekumpel müsste genau das Richtige sein, um dem vierjährigen Robby zu helfen, seine Angst vor Hunden zu überwinden. Dummerweise biss Jojo Robby in der ersten Woche so ins Bein, dass die Haut verletzt wurde und versetzte ihn in große Angst. Außerdem biss er auch noch Andy und hierließ lange, hässliche Blutergüsse an seinem Unterarm. Die ganze Familie, so vertraute Claire mir am Telefon an, hatte Angst vor dem Hund. Nach einer langen Diskussion riet ich Claire, dass sie zwar gerne meine Dienste für eine Beurteilung von Jojo in Anspruch nehmen könne, sie aber besser beraten sei, ihn umgehend zum Tierheim zurückzubringen, weil Sicherheit und seelisches Wohlergehen ihres Kindes doch an erster Stelle stünden. Claire stimmte zu. Als sie aber das Tierheim über ihr Vorhaben informierte, überredete man sie, dass man den eigenen Trainer zu ihr herausschicken würde. Jojo, so erklärte man ihr, sei überhaupt nicht aggressiv, sondern brauche einfach nur Training.
Nach dem Besuch des Trainers rief Claire mich an. Sie war offenbar außer sich. Der Trainer hatte ihr mitgeteilt, dass der Hund »stur« und »psychisch manipulativ« sei und gebrauchte noch eine Anzahl weiterer Adjektive, die besser zur Beschreibung eines menschlichen Wesens gepasst hätten. Man sagte ihr unmissverständlich: »Solange ein Hund keine blutenden Wunden verursacht, ist er nicht aggressiv.« Glücklicherweise konnte Claire den Tierschutzverein letztendlich doch davon überzeugen, Jojo zurückzunehmen.
*~*~*~*~*~*~*~*~*~
Was die an beiden Geschichten beteiligten Parteien gemeinsam haben, ist eine unrealistische Sichtweise dessen, was der Begriff »Aggression« bedeutet. Ganz einfach ausgedrückt ist Aggression die Absicht, Schaden zuzufügen. Ein Hund, der sich auf eine Person stürzt, welche den Garten betritt und seine Zähne wiederholt in deren Beine versenkt, zeigt ziemlich sicher Aggression, höchstwahrscheinlich solche territorialer Art.
Ein Hund dagegen, der Kinder während des Spiels über den Haufen rennt, Besucher anspringt, zwickt, wenn er aufgeregt ist oder mit anderen Hunden übertrieben grob rangelt, braucht sicherlich dringend Training – aber sein Verhalten ist nicht aggressiv.
Das Kind, das Badewasser und Buddys Verhalten
Es gibt hin und wieder Hunde, deren Verhalten jeder sachkundige Trainer als massive Aggressionsprobleme einordnen würde. Wenn Spike die letzten fünf Leute, die durch die Haustür kamen, gebissen hat, gibt es nichts daran zu deuten, dass da ein ernsthaftes Problem vorliegt. Aber nicht immer ist die Lage so eindeutig. Nehmen wir zum Beispiel an, Buddy hat zwei andere Hunde im Park gebissen. Nun könnte man versucht sein, Buddy als »aggressiv« zu bezeichnen. Aber was, wenn ich Ihnen sage, dass jeder dieser Bisse dadurch ausgelöst wurde, dass der andere Hund Buddy jeweils bedroht hat? Und Buddy zu der Zeit an der Leine war, also keine Möglichkeit zum Ausweichen hatte? Das ändert das Bild bestimmt, oder?
Wenn Fifi im Alltagsleben der Inbegriff einer hündischen Miss Charming ist, aber beim Impftermin jedes Mal nach der Tierarzthelferin schnappt, ist sie dann ein »aggressiver« Hund? Die Tierarzthelferin könnte das meinen, aber sie sieht Fifi nur in einer einzigen Situation. Es besteht ein Unterschied zwischen der Feststellung, dass ein Hund in bestimmten Situationen aggressives Verhalten zeigt oder sogar »aggressive Tendenzen« hat und der Titulierung des Hundes als »aggressiv«. Letzteres sollte vermieden werden.
Lassen Sie uns ein Beispiel aus dem menschlichen Bereich betrachten. Stellen Sie sich einen Tag vor, an dem Sie nicht auf der Höhe sind. Vielleicht hatten Sie einen langen, frustrierenden Vormittag auf der Arbeit, fühlen sich nicht gut und sind einfach griesgrämig. Das Ergebnis ist, dass Sie einen Wutanfall bekommen, nachdem Sie in Ihrer Mittagspause dreißig Minuten lang in einer Warteschlange anstehen mussten, um beim Kundenservice eines Ladens einen gekauften Artikel umzutauschen. Der arme Mann, der einen anständigen Tag hatte, bis seine harmlose Frage nach Ihrem Problem in einem Hagelschauer von verbalen Geschossen endete, bildet sich eine augenblickliche Meinung von Ihnen – Sie sind eine notorische Zicke.
Er sieht Sie als jemanden, der zum Jähzorn neigt und mit dem er in Zukunft lieber nichts mehr zu tun haben möchte. Auf Grundlage dieser einen Begegnung wurden Sie in die Schublade eines speziellen Menschentyps gesteckt. Nun wissen Sie und ich, dass Sie an den meisten Tagen eine vollkommen nette, sympathische Person sind. Aber an diesem einen Tag haben Sie sich deutlich unangenehmer benommen. War die Schublade, in die man Sie gesteckt hat, gerecht und allgemein zutreffend?
Wann immer Sie in diesem Buch die Bezeichnung »aggressiv«, »reaktiv« (auf etwas mit Bellen, Losstürzen oder anderen Zeichen von Drohverhalten reagieren, aber nicht beißen), oder »angstreaktiv« (das reaktive Verhalten basiert auf Angst) lesen, ist damit das Verhalten eines Hundes in einer bestimmten Situation gemeint, nicht das Wesen des Hundes im allgemeinen. Es kann gut sein, dass der fragliche Hund einer ist, den Trainer als »aggressiv« einschätzen würden. Aber eine Diskussion des Verhaltens in einem speziellen Zusammenhang ist sowohl wissenschaftlich korrekter als auch konstruktiver als eine großzügige Verallgemeinerung.
Aggressionsverhalten mit Kunden besprechen
Aggressionsverhalten mit präzisen Bezeichnungen zu beschreiben ist besonders wichtig, wenn Sie mit Kunden sprechen. Anteilnahme ist wichtig, aber Sie müssen auch eindeutig den Ernst des Problems ansprechen. Es ist nicht nötig, hier politisch korrekt zu sein: »Es tut mir leid, gnädige Frau, aber Ihr Hund scheint mir freundlichkeits-behindert zu sein!« Wenn ein Hund wirklich gefährlich ist, müssen Sie es auch so sagen.
Seien Sie vorsichtig, einen Hund, der unter bestimmten Umständen aggressives Verhalten zeigt, als auf der ganzen Linie aggressiv zu bezeichnen. Das zu tun würde dem Besitzer, der mit dem Verhalten seines Hundes ohnehin schon gestresst ist, nur einen Grund mehr geben, ihn in schlechtem Licht zu betrachten – und das wiederum könnte ein Verhalten von Seiten des Besitzers bedingen, welches das Problem weiter verschlimmert.
Stellen Sie sich vor, Lisa bittet um Ihre Dienste, weil Hutch, ihr einjähriger Border Collie-Mix, einen anderen Hund gebissen hat. Es ist das erste Mal, dass er je Mensch oder Hund gebissen hat. Sie machen einen Hausbesuch und erklären Lisa, Hutch sei aggressiv gegen andere Hunde. Als Ergebnis Ihrer Aussage wird Lisa nun bei jedem Auftauchen anderer Hunde nervös werden; denn immerhin wurde sie von einem Profi unterrichtet, dass ihr Hund aggressiv ist. Sie nimmt an, dass Hutch all die Wesenszüge trägt, die ihrer Meinung nach mit Bezeichnungen wie »man kann ihm nicht trauen«, »unberechenbar«, »gefährlich« und so weiter einhergehen. Die nervöse Stimmung seiner Besitzerin in Gegenwart anderer Hunde wiederum macht Hutch nervöser, was weitere Probleme nach sich zieht.
Nun stellen Sie sich stattdessen vor, Sie würden Lisa erklären, dass Hutch ein süßer, intelligenter, liebenswürdiger Hund ist. Dieser eine Vorfall, der sicherlich ernst genommen und im Hinterkopf behalten werden muss, macht aus Hutch nicht einen insgesamt »bösen Hund«. Sie werden zusammenarbeiten, um herauszufinden, was sein Verhalten auslöst und darauf achten, dass anderen Hunden nichts passieren kann, während Sie die Lösung des Problems in Angriff nehmen. Jetzt werden Sie eine Besitzerin mit einer vollkommen anderen Sichtweise haben. Lisas positive Gefühle zu Hutch bleiben unverändert und sie ist optimistisch, dass das Verhalten geändert werden kann.
Das Untersuchen und Behandeln von Aggressionen bei Hunden ist sowohl eine Kunst als auch eine Wissenschaft. Die Kunst, intuitiv zu erkennen, welche Methode oder Therapie bei einem bestimmten Hund gut funktionieren wird, entwickelt sich durch Erfahrung. Wir werden nun als Nächstes den wissenschaftlichen Aspekt ansprechen, der mit der Definition und Kategorisierung von Aggressionensverhalten beginnt.
Kapitel 2
Stufen der Aggression
In vielen Fällen ist es eindeutig, ob ein Hund Schaden zu verursachen beabsichtigt oder nicht. Allerdings findet das Zeigen von Aggressionsverhalten nicht immer in der gleichen Stärke und Absicht statt, sondern ist in eine Skala der Möglichkeiten einzuordnen. Am schwächsten Ende dieser Skala hat der Hund vielleicht einen starrenden Blick, die Nackenhaare richten sich auf, er zeigt die Zähne, knurrt oder schnappt in die Luft. Diese Signale sind eher Warnungen, dass ein Biss folgen könnte, als aggressive Handlungen selbst. Bei genauer Betrachtung dienen diese Handlungen sogar dazu, Aggressionen zu vermeiden. Wenn ein Kind sich einem Hund nähert, der Futter bewacht, knurrt der Hund und das Kind weicht zurück – der Biss ist vermieden worden. Wenn ein Hund steif wird, seinen Kopf senkt und einen anderen Hund anstarrt, ist das eine Warnung, dass der andere zurückgehen soll. Diese Körperhaltung ist Kommunikation und kein gewalttätiger Akt.
Weiter auf der Skala finden wir Hunde, deren Zähne in Kontakt mit der Haut von Menschen oder Hunden kommen. In der mildesten Ausprägung handelt es sich um eine probeweise Annäherung, bei der der Hund heranschießt, die Haut des anderen berührt und sich wieder zurückzieht. Dieses Verhalten kann ein Zwicken oder einen Stoß mit dem Fang beinhalten. Ein Stoß mit geschlossenem Fang weist oft auf ein testendes Verhalten hin. Wenn ein Biss zugefügt wird, verletzt er nicht die Haut, obwohl er trotzdem weh tun kann. Dieser Typ von Biss wird häufig von heranwachsenden Hunden gezeigt, die gerade Selbstvertrauen erlangen und ihre Kraft testen.
Wir sehen diese Art von Verhalten auch bei ängstlichen Hunden als Versuch, den Abstand zwischen sich und dem Hund oder der Person, von der sie sich bedroht fühlen, zu vergrößern. Wenn der Hund lernt, dass diese Technik funktioniert, können mit der Zeit immer selbstsicherer werdende Bisse das Ergebnis sein. Der schnelle, eher zaghaft-probeweise Biss ist meistens der eines Hundes, der keine umfangreiche Vorgeschichte in Sachen Beißen hat. Auf dieser Stufe hat der Biss nicht so sehr die Absicht, dem anderen Schaden zuzufügen, als ihn zum Weggehen zu veranlassen.
Jeder Hund kann beißen, wenn er sich nur genug bedroht fühlt.
Kommen wir nun zu den selbstbewussteren Bissen. Der Hund, der sich auf einen anderen Hund oder eine Person stürzt und in einer selbstsicheren Art und Weise beißt, hat ziemlich wahrscheinlich Übung darin. Der selbstsichere Biss kann gezeigt werden, wenn ein Fremder das Heim oder den Garten betritt, wenn jemand dem Hund etwas wegzunehmen versucht, wenn ihm ein anderer Hund begegnet oder unter einer Vielzahl anderer Umstände. Dieser Typ von Biss hat die Absicht, eine Nachricht zu übermitteln! Und es kann sein, dass diese Nachricht in Form von Blutergüssen oder Zahnabdrücken auf der Haut lesbar wird. Auf dieser Stufe beißt der Hund und lässt dann wieder los. Dem Biss kann eine Warnung vorausgegangen sein, muss aber nicht. Wenn der Hund in der Vergangenheit für Knurren bestraft wurde, kann es sein, dass er nun beißt, ohne überhaupt eine Warnung zu geben.
Wenn wir nun die Grenze von einem Biss zu einem echten Angriff überschreiten, finden wir tiefere und mehrfache Bisse vor. Dieses Verhalten fällt in die Kategorie schwerer Aggression und sollte äußerst ernst genommen werden. Es ist eine Sache, wenn ein Hund leicht zwickt und wieder loslässt, um sein Missfallen über das Krallenschneiden auszudrücken, aber eine völlig andere, sich im Arm des Krallenschneiders festzubeißen und eine Wunde mit vielen Löchern zu hinterlassen.
Noch ernsthafter ist das Verhalten eines Hundes, der seine Zähne tief ins Fleisch schlägt, festhält und zu schütteln beginnt anstatt loszulassen – so, wie ein Hund ein Beutetier schütteln würde, um es zu töten. Glücklicherweise liegt der Großteil der Aggressionsfälle, zu denen Trainer gerufen werden, nicht an diesem extremen Ende des Spektrums.
Eine Studie aus dem Jahr 1991 besagt, dass Rüden mit 6,2 Mal höherer Wahrscheinlichkeit beißen als Hündinnen.¹ Rüden kämpfen eher mit anderen Rüden und Hündinnen eher mit anderen Hündinnen. Die Wahrscheinlichkeit für Aggression ist unter gleichgeschlechtlichen Geschwistern am höchsten.
Beißgrade
Der bekannte Autor, Tierarzt und Verhaltensforscher Ian Dunbar hat eine Tabelle für die Beurteilung der Schwere eines Bisses entwickelt. Sie ist ein nützliches Hilfsmittel zur Einstufung in »Beißgrade« und ermöglicht es, mit anderen Trainern über das Thema »Aggression« in einheitlichen Begriffen zu diskutieren und so Missverständnisse auszuschalten.
Grad Eins und Zwei werden unglücklicherweise oft ignoriert, bis ein ernsthafterer Vorfall passiert. Es sollte ebenfalls beachtet werden, dass ein Grad Zwei-Biss, obwohl er eigentlich nicht die Haut durchbohrt, trotzdem Schaden anrichten kann. Hundekiefer sind unglaublich stark (ein durchschnittlicher Deutscher Schäferhund übt 340 Kilo Kraft auf einem Quadratzentimeter aus) und können leicht das Gewebe verletzen oder Blutergüsse verursachen, ohne jemals die Haut zu durchstoßen. Mit Grad Eins- und leichten Grad Zwei-Beißfällen ist aber relativ sicher zu arbeiten und sie haben normalerweise eine gute Prognose.
Viele Tierschutzvereine und Tierheime geben keine Hunde mit einer Grad Drei-Beißvorgeschichte oder höher ab oder vermitteln sie nicht in Familien mit kleinen Kindern – und das ist richtig so. Wenn ein Hund Bisse von Grad Drei oder höher in einer häuslichen Umgebung zeigt, sind seine Handlungen für die Familie gewöhnlich störend genug, um einen Trainer zu rufen. Sie sollten Grad Drei-Bisse nur annehmen, wenn Sie die nötige Erfahrung und Sachkenntnis haben und der Besitzer bedingungslos mitarbeitet.
Grad Vier-Bisse sind sehr gefährlich und intensiv und sollten als solche behandelt werden. Hunden in dieser Kategorie fehlt entweder ernsthaft die Beißhemmung oder sie sind, was wahrscheinlicher ist, selbstbewusste und erfahrene Beißer. Einige Trainer nehmen Fälle an, die Grad Vier- und sogar Grad Fünf-Bisse beinhalten.
In die Kategorie von Grad Fünf-Beißern fallen Hunde, die mehreren Menschen oder Hunden Bisse mit mehrfachen Punktionswunden zugefügt haben. Diese Bisse bedeuten ganz klar ein ernsthafteres Problem als einen Mangel an Beißhemmung. Es erübrigt sich zu sagen, dass die Vorsichtsmaßregeln für die Arbeit mit Grad Drei-Beißern auch hier gelten. Auf dieser Stufe sollten Sie sich bewusst sein, dass Ihre Besprechung mit dem Kunden vielleicht die Thematik der Abgabe des Hundes und/oder des Einschläferns beinhaltet.
Hunde, die Grad Sechs-Bisse anwenden, werden fast immer eingeschläfert, weil sie eine ernsthafte und potenziell tödliche Gefahr darstellen. Das sind die Hunde, von denen Sie in den Nachrichten hören, dass sie ein Kind oder manchmal einen Erwachsenen zerfleischt haben und deretwegen Verhaltensforscher zur Abgabe von Gutachten vor Gericht gerufen werden. Nochmals: Die Chance, dass Sie in der Praxis diesem Grad der Aggression begegnen, ist sehr gering.
¹ Gersham KA, Sacks JJ, Wright JC. Which dogs bite? A case-control study of risk factors.
Pediatrics 1994; 93:913-917. (Welche Hund beißen? Eine Fallstudie der Risikofaktoren)
Kapitel 3
Häufige Arten der Aggression
Offensiv oder defensiv?
Die meisten Manifestationen von Aggression können als entweder offensiv oder defensiv beschrieben werden. Zeigen von defensivem Aggressionsverhalten ist das Resultat dessen, dass sich der Hund bedroht fühlt. So kann zum Beispiel ein Hund, der vom Trainer wiederholt groben Rucken an einem Kettenhalsband ausgesetzt wird, letzten Endes beißen. Ein anderes Beispiel wäre ein Hund, der beißt, wenn jemand nach ihm greift, um ihn auf seinem arthritischen, schmerzenden Rücken zu streicheln. Bei defensiver Aggression hat der Hund wirklich das Gefühl, dass er keine andere Wahl hat: Es handelt sich hier um den altbekannten Kampf-oder-Flucht Instinkt, und in diesem Fall wird eben die Kampf-Reaktion aktiviert. Bei offensiver Aggression übernimmt der Hund die Führung. Zum Beispiel kann ein territorial veranlagter Hund durch den Garten rennen, am Zaun hochspringen und einen Fremden beißen, der das Grundstück zu betreten versucht. Ein Hund, der losrennt und andere Hunde angreift, ohne dass er von ihnen provoziert wurde, demonstriert ebenfalls offensive Aggression.
Häufige Arten der Aggression
Weiter unten werden häufige Arten der Aggression aufgelistet, denen Sie vermutlich begegnen werden. Manche, so wie Hund-zu-Hund und Hund-zu-Mensch-Aggression, können entweder offensiv oder defensiv sein. Andere, wie Beuteaggression und Territorialaggression, sind immer offensiv. Probleme mit dem Anfassenlassen und medizinische Probleme sind normalerweise defensiv.
Hund-zu-Hund -Aggression: Kann gegen alle anderen Hunde gerichtet sein, nur gegen unbekannte Hunde oder gegen einen anderen Hund im gleichen Haushalt.
Aggression gegen Menschen: Kann gegen einen oder mehrere Familienmitglieder gerichtet sein (manchmal »Dominanzaggression« genannt) oder gegen unbekannte Menschen.
Ressourcenbewachen: Eifriges Bewachen von Futter, Leckerli, Spielzeug, Plätzen, Menschen oder einfach allem – von manchen Hunden wird sogar berichtet, dass sie so belanglose Dinge wie Fusseln bewachen!
Territorialaggression:Dies ist eigentlich eine Form der Ressourcenbewachung, weil der Hund das verteidigt, was er als seins wahrnimmt. Hunde können territorial über den Garten, das Haus, die Gegend vor dem Haus oder einen bekannten Spazierweg wachen.
Beuteaggression: Der Jagdtrieb, der instinktiv in jedem Hund verankert ist, kann problematisch werden, wenn das Endresultat Schaden an einem anderen Tier oder einer Person bedeutet. Zum Beispiel jagen viele Hunde Katzen und verletzten sie.
Probleme mit dem Anfassenlassen:Hierunter können Krallenschneiden, Baden oder Bürsten gehören, gestreichelt oder in einer bestimmten Art und Weise angefasst zu werden oder an einem bestimmten Teil des Körpers angefasst zu werden (ein Warnsignal dafür, dass der Hund Schmerzen haben könnte), hochgehoben oder bewegt zu werden.
Umgerichtete Aggression:Dieses Verhalten kann auftreten, wenn der Hund in aufgeregter Verfassung ist. Obwohl sich seine Aggression gegen einen anderen Hund oder eine andere Person richtet, »dreht er um« und beißt stattdessen die Person in der Nähe (gewöhnlich den Besitzer). Umgerichtete Aggression ist beim Trennen kämpfender Hunde verbreitet: Die Hunde sind so in Rage, dass sie die intervenierende Hand oder den Körperteil als Eingriff sehen und nach ihr schnappen. Hunde können auch gegenseitig das Ziel umgerichteter Aggression sein. Zum Beispiel bellen zwei Hunde, die im Garten zusammen einen Maschendrahtzaun entlangrennen, einen Hund auf der anderen Seite an. Dabei können sie sich so aufregen, dass sie ihre Aggression gegeneinander richten. Zwei Hunde, die gemeinsam spazieren gehen, können so aufgeregt sein, dass sie, wenn sie einen anderen Hund erblicken und dabei an der Leine zurückgehalten werden, reaktiv gegeneinander werden (ein hervorragendes Argument gegen den Gebrauch von Koppeln-Produkten, die das gleichzeitige Anleinen von zwei Hunden gemeinsam an einer Leine ermöglichen).
Medizinisch