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Glänze, Gespenst!
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eBook331 Seiten4 Stunden

Glänze, Gespenst!

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Über dieses E-Book

Halloween in Mexiko - All-Gay-Cruise - ein Kreuzfahrtschiff auf der Rundreise zwischen Long Beach, Südkalifornien und Puerto Vallarta, Mexiko. An Bord über 3000 Männer, die genügend Zeit und Platz für den Leitspruch der Reise haben: "Endless Fun. Your Way". Aufgrund eines Missverständnisses um die Bedeutung des Begriffs "Gay Cruising" begibt sich der Journalist Steven M. Brown im Auftrag seines Verlags an Bord der Carnival Splendor, um eine Reportage über diese siebentägige Non-Stop-Party zu schreiben. Zwischen endlosen Unterhaltungsshows, hedonistischem Körperkult, Partys im Swimmingpool und strassbesetzten Badehosen wird Brown zum genauen Beobachter seiner ungewöhnlichen Umgebung und einzigartigen Mitreisenden. Glänze, Gespenst! ist eine sensible und zugleich schreiend komische Betrachtung einer skurrilen Amüsiermaschine auf hoher See à la David Foster Wallace und zudem die bewegende Liebesgeschichte zweier Menschen, die voneinander getrennt sind. Eine Geschichte über die großen und kleinen Entscheidungen und darüber, worauf es im Leben eigentlich ankommt.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum30. Apr. 2014
ISBN9783942989671
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    Buchvorschau

    Glänze, Gespenst! - Steven M. Brown

    DILLARDS

    1

    Sonntag. Tag eins auf See, und schon beginnen die Männer ihre Homosexualität zu feiern. Dabei sind wir noch nicht mal an Bord.

    Wir sind dreitausend Männer, die unter einer riesigen Kuppel Schlange stehen und auf Anweisungen warten. Der Raum ist so groß und so hoch, dass ein Vogelschwarm über uns kreist. Die Vögel fliegen kreuz und quer durch einen einzigen Sonnenstrahl wie Tauben im Pantheon. Die Stimmung ist gedrückt und düster, aber feierlich, mit nichts vergleichbar, was ich bisher in wachem oder nüchternem Zustand erlebt habe. So in etwa sähe wohl das Gefangenenlager einer gescheiterten Ferienkolonie auf dem Mond aus. Ich entdecke rosa Sandalen, eine rosa Sonnenbrille und eine Federboa, aber keine rosa Winkel.

    Wir befinden uns im Kreuzfahrtterminal des Hafens von Long Beach in Südkalifornien und warten darauf, dass die uns zugeteilten Nummern aufgerufen werden, damit wir von den Pre-Check-in-Schlangen zu den Fahrkartenschaltern weitergehen können, um die Schlüsselkarten für unsere Kabinen zu erhalten. Unser Schiff, die Splendor, ist ein 113 323 Bruttoregistertonnenkoloss und war bei der Schiffstaufe 2008 eines der größten Kreuzfahrtschiffe der Welt. Mit ihm werden wir die Baja California entlang gen Süden nach Cabo San Lucas und Puerto Vallarta in Mexiko kreuzen, Halloween auf See erleben und eine Woche später wieder in Long Beach ankommen. Vor dem Hintergrund des andauernden mexikanischen Drogenkrieges mit mittlerweile vierzigtausend Toten, der umstrittenen Präsidentschaftswahl und dem Untergang des Schwesterschiffs Costa Concordia vor der italienischen Westküste scheint Halloween als Thema durchaus angemessen.

    Einerseits bin ich überglücklich, hier zu sein, andererseits habe ich Angst. Reine Männermengen strahlen immer eine Atmosphäre unterschwelliger Gewalt aus, selbst diese ausgelassene, schrill gekleidete Gruppe von Männern. Es ist mehr als ein Gefühl, eher eine Schwingung der Luft und des Lichts um uns herum. Und es ist absolut fesselnd. Das lässt sich nicht bestreiten. Es sind all die Augen, denke ich, Augenpaare und ausdruckslose schwarze Sonnenbrillen, von überall auf jeden gerichtet, auch auf mich, wie in einem Panoptikum. Blicke, die alles abscannen, sich abwenden und einen Augenblick später wieder zurückkehren.

    Ein Mann um die fünfzig mit einer Baltimore-Orioles-Baseballkappe fasst einem Anfang Dreißigjährigen in den Schritt. Der sieht nicht so aus, als hätte er an einem ganz normalen Sonntagnachmittag damit gerechnet, jedenfalls nicht als Reaktion auf ein unverbindliches »Hi«. Als wäre die Begeisterung für die Baltimore Orioles eine Art Befugnis und »Hi« ein Zauberwort. Doch die völlige Passivität des Adressaten suggeriert, dass er wusste, so etwas würde früher oder später passieren. Der junge Mann ist eins neunzig groß und wog bei seiner letzten Begegnung mit einer Waage fünfundachtzig Kilo. Der Griff in meinen Schritt war eher eine sehr schnelle, aber sehr geübte Knetbewegung, als würde Orioles die Hoden, meine Hoden, nach Hinweisen auf mein innerstes Wesen abtasten.

    Es ist kein Geheimnis, dass schwule Männer Schwänze mögen, und es gab Augenblicke, gar nicht so lange her, in denen ich glaubte, der schnellste Weg zur Seele führe übers Gemächt. Ich bin immer noch ein Mann, schwul oder nicht. Eines Nachts vor ein paar Jahren in einer Bar wollte eine Freundin von mir allen beweisen, wie toll ihr neuer Freund ist, indem sie von seinem gigantischen Penis schwärmte. »Wie ein Unterarm«, sagte sie. »Irgendwie verändert es mich, wenn wir vögeln.« Sie hielt ihren schlanken weißen Arm hoch und bog ihre zarte Hand zurück, als könnten wir anderen Männer am Tisch es uns sonst nicht vorstellen. Innerlich wurmte es uns alle irgendwie, dass er so groß war und nicht uns gehörte. Männer setzen dann dieses Gesicht auf, dieses »Ich hab keinen kleinen Schwanz«-Gesicht. Groß, sagst du? Aha. Alles klar. Keine Ahnung, wo wir dieses Gesicht lernen, aber die meisten von uns beherrschen es.

    Ich weiß, dass sich die Hetero-Jungs in der Runde, also alle bis auf mich, über die Geschichte ärgerten, denn sie war ein sehr hübsches Mädchen, und statt sich vorzustellen, mit ihr Sex zu haben, hatten sie nun das Bild von einem Schwanz im Kopf, nicht irgendeinem Schwanz, sondern einem, der um einiges größer war als ihr eigener. Und zu allem Überfluss machten sie sich auch noch darüber Gedanken, ob sie, wenn sie je mit ihr schlafen würden, überhaupt etwas spürte, nachdem dieser Riesenpenis in ihr gewesen war. Männer können echt bescheuert sein, und wenn wir in einer Comedy-Show von irgendeinem blöden Onkel den Satz »Sie war total ausgeleiert« hören, dann nehmen wir das ernst. Ob wir es wollen oder nicht, verfolgt uns dieser Gedanke im Unterbewusstsein. Wie stellen uns eine höhlenartige Vagina mit herabhängender Klitoris vor. Vielleicht noch mit Echo und einem kleinen Bach in der Mitte.

    Und so sahen sie sich selbst als Höhlenforscher durch ihren Schoß laufen. Was irre ist, denn dann begannen sie an ihre Mütter und Geburt und alle möglichen Dinge zu denken, die wenn nicht unsexy, so doch auf eher komplizierte Weise sexy sind. Sie meinte nur, dass ihr Freund gut bestückt war und dass die Welt davon erfahren sollte. Sie machte ein pampiges Gesicht, als wollte sie sagen: »Selbst schuld, wenn ihr das nicht hören wollt.« Laut sagte sie: »Ihr redet den ganzen Tag über Titten. Jetzt darf ich auch mal über Schwänze reden.« Und waren wir uns nicht einig, dass je größer, desto besser?

    »Bis auf dich«, sagte sie zu mir. »Für dich ist das wahrscheinlich eine ganz normale Unterhaltung. Dir gefällt so was bestimmt.«

    Alle sahen mich an. Und ich sagte, ich hoffte, sie würden glücklich miteinander werden und lauter Babys mit großen Schwänzen kriegen.

    Insgeheim war ich von ihrer Geschichte fasziniert. Ich sah einen riesigen Penis vor mir, den ich mir nicht mal für einen Nachmittag zum Spielen borgen konnte. Wahrscheinlich war er sowieso hässlich und missraten, so wie es die großen oft sind, mit einem Netz aus Adern und Pigmentflecken. Sie sehen weniger aus wie Penisse, sondern eher wie Organe. Aber er ging mir trotzdem nicht aus dem Kopf.

    Gestern hatte ich bei ebenjener Freundin übernachtet, bevor ich in den Zug stieg, um nach Long Beach zu fahren. Sie lebt jetzt mit ihrem neuen Freund in Los Angeles, der auch einen großen Penis haben mag, was ich aber wohl nie erfahren werde, da man das Thema nicht so leicht in ein Gespräch einfließen lassen kann. Vielleicht bei einem Grillabend: »Apropos frische Bratwurst ...«

    Beim Abendessen in Little Tokyo kamen wir auf meinen erneuten Anlauf zu sprechen, mit dem Rauchen aufzuhören. Ich wusste, dass ich es nicht schaffen würde, aber ich tat, als könnte ich es, wenn ich wollte. Ich sagte, die Kreuzfahrt würde mir nichts ausmachen, solange ich beschäftigt sei. Sie legte ihre Stäbchen beiseite und sah mich an.

    »Beschäftigt mit einem Mund voller Schwänze?«

    »Beschäftigt damit, neue Leute kennenzulernen und zu schreiben«, sagte ich.

    »Aber du könntest über den einen oder anderen stolpern?«

    »Den einen oder anderen Schwanz?«

    »Der Pazifik ist im Herbst ziemlich stürmisch. Könnte doch sein.«

    »Ich werde versuchen, das zu verhindern. Ich brauche nur den einen«, witzelte ich. Aber während wir lachten, dachte ich darüber nach. »Oder zwei. Ich schätze, ich brauche zwei. Den von Linus und meinen.« Einen Augenblick später wurde mir klar: »Mehr als einen Penis zu wollen ist es, was mich schwul macht, nicht?«

    Es war ein beklemmender Gedanke, dass Homosexualität, wenn Männer und Frauen im Prinzip gleich waren, kaum mehr als eine Frage physiologischer Vorlieben war. In meiner grundsätzlich guten Stimmung tat sich ein Abgrund auf angesichts dieser groben Unterscheidung zwischen Homo und Hetero. Und was weiß ein Mann schon, außer wo er seine schäbige kosmische Bratwurst reinsteckt? Versucht man, einen Katholiken auf das Nizäische Glaubensbekenntnis festzunageln oder einen Physiker auf den Urknall oder mich auf die Herkunft meines nächsten Gehaltsschecks, wird schnell die unermessliche Weite unserer Unsicherheit klar. Im besten Falle gibt es etwas namens Liebe, diese Verquickung von Herz und Verstand, Verzweiflung und Einsamkeit. Unverbindlicher Sex ist auf Dauer ermüdend, strapaziert unsere Geduld, erschöpft unsere Erregbarkeit. Alles ist bekannt, gesagt, gehört, das Klischee von Körpersprache. Von Körper zu Körper zu Körper zu streunen führt ausnahmslos zu Enttäuschung, selbst wenn wir dabei stöhnen: O Gott, o Gott, o Gott.

    Für jene wenigen Sekunden empfand ich es aber auch als beruhigend, dass es nur um Schwänze ging. Deshalb brachten mich Orioles’ Anmaßung und Respektlosigkeit weniger in Verlegenheit, als vielleicht angebracht gewesen wäre. Ich nehme ihm seinen Versuch nicht übel, die Grenzen auszutesten. Nicht zuletzt um Grenzen zu übertreten, hat er zwischen zwölfhundert und siebentausend Dollar bezahlt, um mit dreitausend anderen schwulen Männern eine Woche auf See zu verbringen, Trinkgelder, Hafengebühren, Flugtickets, Ausflüge, Reiseversicherung und Cocktails nicht mitgerechnet. War also sein Impuls, mich anzugrapschen, der Tatsache geschuldet, dass er ein Mann ist, dass er schwul ist oder einfach ein ganz eigenes Individuum?

    Bleibt außerdem die Frage: Wenn wir diese Woche nicht wir selbst sind, wer sind wir dann? Können ein Flugticket und ein bisschen nautischer Firlefanz einen Menschen bis zur Unkenntlichkeit verändern?

    Ich hebe die Hände, um Abstand zwischen uns zu bringen, wende mich ab und warte weiter. Meine Hoden sind ein bisschen empfindlich nach dem ungezielten Überschwang der Berührung. Der Mann mit der Orioles- Kappe hat mich mühelos dominiert. Er wirft mir weiter Blicke zu, beunruhigend und neckisch zugleich, super-freundlich würde ich sagen, was das Ganze noch beunruhigender macht. Mister Superfreundlich will etwas, das mit bloßer Freundlichkeit nicht zu kriegen ist. Schlimmstenfalls endet ein Gespräch mit ihm im Streit. Bestenfalls werde ich ihn nicht mehr los. Wenn sein Gegrapsche die Reaktion auf mein »Hi« war, was tut er dann, wenn ich ihn frage, was er diese Woche vorhat?

    Ich bin nicht ausgezogen, um Klischees zu bedienen, werde aber auch nicht davor zurückschrecken, wenn sie der Wahrheit entsprechen. Dass Schwule eine Gruppe von unvergleichlicher sexueller Extravaganz sind beispielsweise. Dass wir tatsächlich überkompensierende, einsame menschliche Hülsen sind, die in dieser Welt nie glücklich werden können, solange wir uns mit dem Irrglauben plagen, homosexuelle Liebe sei vollständige Liebe. Schon komisch, dass ich mich gerade auf eine Erfahrung einlasse, die sich nur wenig, wenn überhaupt, von Sextourismus unterscheidet.

    Ich blicke mich um und frage mich, warum wir hier sind, wie wir hierhergekommen sind und wer wir eigentlich sind. Das frage ich mich schon seit Wochen, seit ich die Reise Anfang Oktober gebucht habe. Wir sind stolze Schwule, verkappte Schwule, bisexuell und wer weiß was noch alles. Flirrende Schatten von fliegenden Vögeln fallen auf Köpfe mit Halbglatzen, gefärbten Haaren und Stachelfrisuren, die sich hin und her drehen, um ja nichts zu verpassen. Irgendetwas wird gleich passieren. Irgendein Vergnügungskult versammelt sich hier.

    Zwei russisch sprechende Männer sehen zu mir herüber, während sie sich unterhalten. Einer von beiden ist riesig, aber es gibt wenig, was irritierender ist als Flüstern und flüchtige Blicke. So wie die aussehen, würden sie meine Weichteile nicht begrapschen, sondern gleich amputieren und in einer Lagerhalle in Wolgograd an Organhändler verscherbeln. Ich lächle, als ich an meine erste Reaktion auf den Grapscher denke, mir mit der Hand über den Reißverschluss zu fahren, als wollte ich die Besitzverhältnisse klarstellen. Und dann frage ich mich, ob er mich wohl groß fand.

    War er enttäuscht?

    Weder mit Skalpell noch mit Röntgenscanner würde irgendjemand dort die Seele finden, nicht einmal ein primitiver Phalluskult. Was auch immer mein Partner Linus in mir sieht, sieht er in meinen Augen, fühlt er, wenn er mich hält. Wie sowohl Ralph Waldo Emerson als auch Günter Grass unabhängig voneinander im Abstand von fast einem Jahrhundert in verschiedenen Sprachen schrieben: »The soul is not an organ.« – »Die Seele ist kein Organ.«

    Unmittelbar zu meiner Rechten dringt durch das Gemurmel von Bass- und Baritonstimmen ein nasses Klatschen. Weiße Kotspuren fallen aus der Dunkelheit über uns auf den Betonboden. Wie auf Kommando treten alle Männer in der Schlange einen Schritt nach links und warten auf weitere Anweisungen.

    Ist es unrealistisch, etwas Tiefgründiges von dieser Erfahrung zu erwarten?

    Ja?

    Genügt Humor?

    Eine Kreuzfahrt ist die biederste Art wegzufahren. Ob man eine Reise daraus machen kann, bleibt abzuwarten. Es ist ein bisschen so, als würde jemand, der sich als Jäger und Sammler bezeichnet, im Supermarkt einkaufen.

    Ich bin wegen eines Artikels über eine ostdeutsche Kohlengrube in dieses Dilemma geraten, ein Artikel, der zu meinem großen Glück in der Zeitschrift DUMMY veröffentlicht wurde. Es war eine Herzensangelegenheit, ein Nebenprodukt meiner Magisterarbeit am Bauhaus in Weimar vor einigen Jahren. Der Chefredakteur brachte einen Steckbrief von mir auf der ersten Seite, weil es mein erster Beitrag war. Dazu gehört auch ein Foto an der kroatischen Küste, auf dem ich wie ein Arschloch aussehe (das Thema der Ausgabe war »Tourist«), und eine kleine Biografie, die den Leser darüber informierte, ich schriebe sonst über »Gay Cruising«. Was ich meinte, waren Männer auf der Suche nach Sex an öffentlichen Plätzen. Das Foto aber und vielleicht sprachliche und kulturelle Unterschiede führten zu einem unerwarteten Missverständnis.

    Was tut man, wenn man in seiner Inbox eine Nachricht mit dem Betreff »Gay Cruise« von einem Absender namens Till Tolkemitt vorfindet? Wenn man wie ich keine Pauschalreisen bucht und nicht weiß, dass Herr Tolkemitt ein deutscher Verleger ist, hält man die E-Mail für Spam und löscht sie. Möglicherweise hält man den Absender für eine Figur aus Der Herr der Ringe. Ich aber fragte mich, was für ein Angebot die E-Mail wohl enthalten könnte.

    Lieber Steven Brown,

    mit Spaß und Erschütterung habe ich Ihre wunderbare Reportage in der aktuellen DUMMY gelesen. Und vorne im Heft steht, dass Ihr Spezialgebiet Gay Cruising ist. Ich suche seit geraumer Zeit einen Autor, der auf meine Kosten z.B. einen Trip von San Diego nach Acapulco macht und darüber ein witziges, wahres, kluges, aber auch spaßiges Buch schreibt. Ich würde Sie deswegen gerne einmal kennenlernen. Melden Sie sich?

    Beste Grüße

    Till

    Große weiße Kreuzfahrtschiffe voller Touristen, Rentnerferien, glänzende, fettleibige Massenkultur ... Ich wurde sofort traurig. Dann aufgeregt. Aus dem Blauen heraus winkte einem unbekannten Autor stilistisch uneinheitlicher und inhaltlich esoterischer Texte der GROSSE BUCHVERTRAG. Es ist albern, so zu denken, aber das ist der Stoff, aus dem Schriftstellermythen sind. Damals wohnte ich in Wogau, einem Dorf in der Nähe von Jena in Thüringen, und hatte mit dreißig das Schreiben angefangen. Ich gebe zu, dass es vor allem die Worte auf meine Kosten waren, die es mir angetan hatten.

    Linus arbeitete in einem Krankenhaus in Jena. Als er nach Hause kam, noch verschwitzt von der zwanzigminütigen Fahrradfahrt, öffnete ich die E-Mail und ließ sie ihn lesen. Ich sah, wie sich sein Gesicht veränderte, während sein Atem sich beruhigte.

    »Gut« war alles, was er sagte. Er gab mir einen Kuss, zog sich aus und duschte, und wir holten die Gästematratze, um uns zusammen in die Sonne zu legen, die durchs Dachfenster schien. Eine Pastellzeichnung seiner ältesten Tochter, damals fünfzehn, hing an der Wand neben einem Bücherregal, in dem sich so ziemlich alles befand, was ihm von seiner Ehe geblieben war.

    Ich habe Linus in der städtischen Sauna in Weimar kennengelernt. Ob man es »cruisen« nennen will, ist Geschmackssache. Es war kalt für Ostern, und wir wollten uns aufwärmen, nackte Männer sehen, uns nicht so allein fühlen. Innerhalb weniger Wochen haben wir uns ziemlich ineinander verknallt. In jenem Sommer hatte er sein Coming-out, und im Herbst war seine Frau mit beiden Töchtern auf und davon. Im Januar zogen wir zusammen. Die emotionale Distanz, die das zu seinen Töchtern schuf, wurde noch von der räumlichen Distanz verschlimmert, die seine Exfrau verhängt hatte, indem sie mit ihnen ans andere Ende von Deutschland zog, vom Osten in den Westen, wo sie herkam, so weit weg, wie es eben ging, ohne nach Frankreich auszuwandern. Ein Jahr später, im April, war die Scheidung durch.

    Lieber Steven,

    ich habe natürlich ein paar Fragen. Eindeutige Bedingung für ein Buch, wenn auch nicht kompatibel mit dem Anti-Diskriminierungsgesetz: Bist du schwul? Ein Heterosexueller kann unmöglich diese liebenswürdige Schau homosexueller Extravaganz (oder Lebensfreude oder Spießigkeit oder was es auch immer ist, ich weiß es ja nicht!) betreiben.

    Beste Grüße

    Till

    Mein Artikel hatte ihm so gefallen, dass er mich für einen professionellen Autor hielt, der zufällig auf schwule Kreuzfahrten spezialisiert war. Bisher hatte ich nicht einmal gewusst, dass es so etwas gab.

    Bei der E-Mail, die dann folgte, verliebte ich mich ein bisschen in ihn.

    Ich habe inzwischen erfahren, dass Gay Cruising auch noch etwas anderes bedeutet. Meintest du im DUMMY als »Hobby« Kreuzfahrten oder durch die Parks streifen? Witzig! Man lernt nie aus. Wann sind noch mal deine Reisedaten? Get the party started!

    Herzlich

    Till

    Meine Essays und Geschichten beschäftigen sich bisweilen mit Männern, offen oder heimlich schwul, auf der Suche nach Sex an öffentlichen Orten. Dabei geht es weniger um Sexualität, Geschlechtsidentität oder Queer-Theorie, wovon ich nicht wirklich etwas verstehe, sondern eher um Einsamkeit, Hartnäckigkeit, die inoffiziellen Ränder des eigenen Ichs und der Gesellschaft. Lebenslange Verwirrung und gesellschaftlicher Druck drängen Menschen in Situationen, in denen sich Selbstbetrug, Unwissenheit oder falsche Hoffnungen zu Entscheidungen häufen, zu Wandel und Verhängnis.

    Oder wie es eine ehemalige Mitbewohnerin bei einem Kaffee in Berlin einmal ausdrückte: »Du schreibst Charakterporträts bizarrer schwuler Männer.«

    »Jein« war meine Antwort. Die Geschichte eines fünf-undsechzigjährigen katholischen Priesters zum Beispiel, der darüber nachdenkt, sich endlich zu outen, auf die Gefahr hin, seine Rente, sein Haus, sein ganzes gesellschaftliches Umfeld (und ein ordentliches Begräbnis) zu verlieren, ist nicht bizarr. Es ist bedrückend, herzzerreißend, zutiefst traurig und sogar ein bisschen witzig, welch ein Lügengebäude er sich selbst errichtet hat. Aber es ist nicht einfach nur bizarr. Ebenso wenig wie Linus’ Geschichte.

    Nur Zentimeter neben mir sah ich, wie er auf das kommende Jahr blickte, auf alles, was dieses Buch versprach. Seit wir ein Jahr zuvor zusammengezogen waren, war er immer derjenige gewesen, der meinte, meine berufliche Zukunft läge in Deutschland, nicht in den Vereinigten Staaten. »Ich kann es fühlen«, sagte er oft. »Ich weiß es einfach.« Ich glaubte nicht recht an seine Prophezeiungen, schließlich war er verheiratet gewesen und hatte zwei Töchter, bevor er merkte, bevor er begriff, dass er schwul ist. »Und das traf dich völlig unerwartet?«, lag mir immer auf der Zunge, wenn er sich über irgendetwas Dummes aufregte, was ich getan hatte, wie zum Beispiel wieder mit dem Rauchen anzufangen. Aber sich über sein Coming-out lustig zu machen war zwecklos, denn er ist der gutherzigste Mensch, den ich kenne. Ich war immer noch frisch verliebt, und auf diese Liebe hatte ich sehr, sehr lange gewartet, so lange, dass ich schon nicht mehr daran geglaubt hatte. So eine Liebe ist zu zerbrechlich, zu sentimental für grausamen Humor, jedenfalls am Anfang. Auch wenn ich gern auf die Ironie verwies, die darin lag, dass er als Gastroenterologe jahrelang Darmspiegelungen durchführte, während er noch ein verkappter Homosexueller war.

    Ich hatte angefangen, mir Gedanken über seine Prophezeiung zu machen, nachdem mein Essay im DUMMY erschienen war. Ich hielt es für einen Glückstreffer. Doch er hatte recht behalten, und ausgerechnet als ich dabei war, in die Vereinigten Staaten zurückzukehren. Das Geld, das ich in der Bibliothek von Weimar verdient hatte, war alle, und ich brauchte einen Job. Der Flieger ab Frankfurt ging in weniger als einer Woche, mit oder ohne mich. Ich schrieb Till, dass ich am kommenden Montag in Berlin wäre, um mich von Freunden zu verabschieden, und wir uns auf einen Kaffee treffen könnten, wenn er mir wirklich Geld dafür geben wollte, über einen Haufen Homos auf einem Schiff zu schreiben. »Es ist nie zu spät für einen Durchbruch«, sagte Linus.

    Für mich schien es die Gelegenheit, meine Gedanken im Kontext einer interessanten und erhellenden Erfahrung zu sortieren. Ich meine interessant und erhellend nicht in Bezug auf das verkommene Wesen des modernen internationalen Tourismus, obwohl das natürlich zutrifft oder in Bezug auf das ausschweifende Verhalten, das von einem Schiff voller Männer, schwul oder nicht, zu erwarten ist, sondern weil ich noch nie Teil einer absoluten Mehrheit von Schwulen war. Ich war noch nie auf einer Gay Pride Parade. Nur ein einziges Mal habe ich mich aufgerafft, durch die Bars im Castro-Viertel zu ziehen, als ich in San Francisco war. Fünfzig Wochen in Berlin, verteilt über sechs Jahre, haben mich der Schwulenkultur kein Stück näher gebracht. Meine Texte haben sich nie mit Schwulenkultur befasst, weil ich gar nicht weiß, was das ist, und weil das Geschwätz über »Kultur« so viel über den Einzelnen aussagt wie Firmenarchitektur. Dass eine Gruppe Menschen dafür bezahlt, andere Menschen auszuschließen, ist gruselig und traurig, aber nicht ungewöhnlich, wenn ich darüber nachdenke. Ein Grund mehr, meine eigenen Vorurteile und meine Langeweile über Bord zu werfen und an dieser Kreuzfahrt teilzunehmen.

    Und so fand ich mich im Haus meiner Kindheit am nördlichsten Stadtrand Detroits wieder und erklärte meinen Eltern, dass ich einen Tag zuvor ein Angebot von einem Berliner Verleger erhalten hatte. Es gab eine Zeit, da redeten wir nicht über meine Homosexualität. Das lag an meinen Hemmungen, nicht an ihren, obwohl natürlich kaum ein Vater sich vorstellen möchte, was sein Sohn wo hinsteckt, es sei denn, seine Schwiegertochter ist eine heiße Braut, und kaum eine Mutter über die Gründe nachdenken möchte, warum sie niemals Enkelkinder haben wird. Doch in den sechs Jahren, die ich weg gewesen war, hatte sich viel geändert. Ich war weniger ihr erwachsener Sohn als ein Fremder. Egal wer ich war, ich war nach Hause gekommen, und zwar mit guten Neuigkeiten.

    »Das ist ja toll, mein Sohn« war die erste Reaktion meines Vaters. »Kaufen die einen deiner Romane?«

    »Du hast so hart daran gearbeitet«, fügte meine Mutter hinzu, der ich verboten hatte, sie zu lesen, weil ich wusste, dass sie mich nie wieder mit denselben Augen sehen würde, wenn sie wüsste, was drinstand, was im Kopf ihres Sohnes vorging.

    »Nein«, sagte ich. »Sie schicken mich auf eine Kreuzfahrt für Schwule nach Mexiko.«

    Mein Vater lachte, warum auch nicht? Meine Mutter machte große Augen, so wie Leute es bei guten, aber seltsamen Neuigkeiten tun, wenn das Gute das Seltsame überwiegt. Sie fragte: »Kommt Linus mit?« Sie hatten ihn kennen- und lieben gelernt, als wir im Jahr zuvor zur Hochzeit meiner Schwester da gewesen waren. »Was hält er davon, dass du mit all diesen Typen in Speedos unterwegs bist?«

    Es gab noch mehr gute Neuigkeiten. Nur fünf Stunden nördlich von meinen Eltern hatte sich in einem Kunstverein ein Job aufgetan. Nach sechs Jahren verpasster Weihnachten, Thanksgivings und Beerdigungen bekamen sie mich zurück. Als wir später auf der Veranda zusammen eine rauchten, verwickelte mich meine Mutter in eine unerwartete Diskussion.

    »Alles, was du sagst, klingt inzwischen wie eine Frage. Du wirst langsam deutsch«, sagte sie. Zum allerersten Mal sprach sie mit mir wie mit einer eigenständigen Person.

    Es stimmt, dass alles, was ich sage, wie eine Frage klingt, aber der Grund ist ein anderer. Alles ist eine Frage. Gehöre ich in die Vereinigten Staaten oder nach Deutschland? Womit verdiene ich mein Geld? Was wird aus mir – und Linus? Was wird aus mir und Linus? Aus seinen Töchtern? Werde ich sie je kennenlernen?

    Das Was, Wo, Wann und Wie waren fraglich. Glücklicherweise waren das Wer und das Warum zum ersten Mal in meinem Leben klar. Wir liebten uns. Eine meiner letzten Erinnerungen, bevor ich ins Flugzeug stieg, war eine angefahrene Katze an

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