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WM 74: Als der Fußball modern wurde
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eBook270 Seiten3 Stunden

WM 74: Als der Fußball modern wurde

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Über dieses E-Book

»Fußball ist unser Leben«, sang die deutsche Nationalelf zur WM 1974, die ihr den Titelgewinn bescherte - zum zweiten Mal nach 1954 und erstmals im eigenen Land. Damals nahmen bis heute wichtige Entwicklungen im Fußball ihren Anfang: die tragende Rolle der Fernsehübertragung, der hohe Stellenwert von Werbung und Merchandising, die Verbreitung des Fußballsports als globales Groß-Event, seine Aufwertung durch die Politik, die Herausbildung von einzelnen Spielern zu internationalen Stars und Ikonen und noch etliches mehr.
Kay Schiller beschreibt von Franz Beckenbauer über Uli Hoeneß bis Günter Netzer Spielerpersönlichkeiten und Fußballstile. Er analysiert die Arbeit von DFB, FIFA und der deutschen Behörden, die nach dem Terroranschlag während der Olympiade 1972 in München erstmals umfassende Sicherheitsmaßnahmen ergriffen. Und er betrachtet die WM vor dem Hindergrund der siebziger Jahre, erläutert ihre Wirkung auf das deutsch-deutsche Verhältnis: die beiden Nationalmannschaften begegneten sich hier das erste und einzige Mal währende des Kalten Krieges - die DDR gewann 1:0. Ein hintergründiges und erhellendes Buch über ein überragendes Turnier, dessen Bedeutung über den Fußball hinausweist.
SpracheDeutsch
HerausgeberRotbuch Verlag
Erscheinungsdatum1. Juli 2014
ISBN9783867895828
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    Buchvorschau

    WM 74 - Kay Schiller

    Round

    Kapitel 1

    Einleitung

    Fußball ist unser Leben, / denn König Fußball

    regiert die Welt. / Wir kämpfen und geben alles, /

    bis dann ein Tor nach dem andern fällt.

    Ja, einer für alle, alle für einen. / Wir halten

    fest zusammen, / und ist der Sieg dann unser, /

    sind Freud’ und Ehr für uns alle bestellt.

    Diese Zeilen sangen die Nationalspieler um Franz Beckenbauer aus Anlass der zehnten Fußballweltmeisterschaft, der ersten, die in Deutschland ausgetragen wurde. Der vom ehemaligen Fußballer Jack White im Polkarhythmus komponierte Schlager stürmte damals die deutsche Hitparade. Der Fußball regierte die Welt zwar noch nicht im gleichen Maße wie heute, der Verweis auf die Freude im Liedtext stimmte aber ganz sicher. Den Spielern ging es nämlich wie allen Athleten in erster Linie um den Spaß an ihrem Sport. Die Vorstellung, dass die Mannschaft fest zusammenhielte und für die nationale Ehre spielte, passte allerdings 1974 schon nicht mehr in die Zeit. Man kann zwar davon ausgehen, dass solche Worte den etwas altbackenen Funktionären des Deutschen Fußball-Bunds (DFB) um Hermann Neuberger, den Cheforganisator der WM 1974, gefielen. Aber die Hauptaufgabe des munteren Songs war es – das war auch ihnen klar –, Geld für das WM-Organisationskomitee (WM-OK) zu verdienen (Körner 2006, S. 180). Mit Vicky Leandros’ Hit aus demselben Jahr, »Theo, wir fahr’n nach Lodz«, konnte man zwar nicht mithalten, aber mit fast einer halben Million verkauften Exemplaren hätte es beinahe zu einer Goldenen Schallplatte gereicht.

    Der WM-Song von 1974 verweist auf eines der Hauptthemen dieses Buches, die zunehmende Kommerzialisierung des Fußballs in den 1960er und 70er Jahren und seinen Aufstieg zu einem wichtigen Teil der Unterhaltungsindustrie. Der Fußball wurde in der Tat modern. Nachdem Spieler wie Beckenbauer und Gerd Müller schon in den Sechzigern Schlager eingespielt hatten, war es 1974 bezeichnenderweise das erste Mal, dass die deutsche Fußballnationalmannschaft ein WM-Lied aufnahm. Aber auch andere damit zusammenhängende und mit Blick auf die Zukunft für den Fußball und sein wichtigstes Turnier bedeutende Aspekte lassen sich anhand der WM 1974 gut beobachten: etwa die zunehmende Rolle, die der Fußball für das Fernsehen spielte. Wer 1974 keine Lust auf den Besuch eines der Turnierstadien in Hamburg, Westberlin, Hannover, Gelsenkirchen, Dortmund, Düsseldorf, Frankfurt, Stuttgart und München hatte, konnte die WM ausführlich wechselweise in der ARD oder im ZDF sowie in den dritten Programmen verfolgen. Nie zuvor wurde so ausgiebig live und in Zusammenfassungen über ein Sportereignis berichtet, nicht einmal während der Olympischen Spiele 1972. Seit 1974 nahm dann die Sendezeit für den Fußball auch auf Kosten anderer Sportarten beständig zu, eine Entwicklung, die durch das Privatfernsehen seit den 1980er Jahren noch beschleunigt wurde.

    Im Umkehrschluss steht die WM 1974 zudem für die steigende Bedeutung, die das Fernsehen für den Fußball spielte, sowie die immer größere Rolle, die Werbung, Sponsoring und Merchandising einnahmen. Dem Verkauf der Übertragungsrechte für Liga-, Pokal- und Länderspiele durch den DFB und bei der WM durch die FIFA kam seitdem eine enorme und stets wachsende wirtschaftliche Bedeutung zu. Das Gleiche gilt für Werbung und Sponsoring. Zwar verfügte der DFB 1974 noch nicht über einen Sponsorenpool wie heute, aber eine Firma wie Adidas war schon damals eng mit dem Verband verbunden. Und das Merchandising mittels einer von der Nationalmannschaft aufgenommenen Polydor-Schallplatte oder der WM-Maskottchen Tip und Tap spülte in der Tat bereits 1974 viel Geld in die Kassen des DFB.

    Auch die Wahl eines smarten Geschäftsmanns zum Präsidenten des Fußballweltverbands FIFA am Vorabend der WM 1974 ist hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Kommerzialisierung des Fußballs kaum zu überschätzen. Während fast eines Vierteljahrhunderts an der Spitze der FIFA gelang es dem brasilianischen Anwalt und Transportunternehmer João Havelange, das Männer-WM-Turnier mittels Fernsehen und Sponsoren zum globalen »Mega-Event« (Roche 2000) und lukrativsten Sportereignis überhaupt zu machen (s. Kap. 4). Selbst die Olympischen Spiele müssen da inzwischen hintanstehen. Sein Nachfolger Sepp Blatter verfolgt bis heute die gleiche Strategie der Globalisierung und Kommerzialisierung. Die FIFA hat heute 209 Mitglieder, mehr als die Vereinten Nationen. Sie ist in den letzten 40 Jahren steinreich geworden und verfügte Anfang 2013 über Kapitalreserven von etwa 1,4 Milliarden US-Dollar (FIFA 2013). Und dies, obgleich sie einen Großteil ihres durch die WM erzielten Gewinnes an ihre Mitgliedsverbände ausschüttet sowie eine ganze Reihe von sport- und entwicklungspolitischen Initiativen und weiteren Wettbewerben finanziert – von der WM der Computerspieler über den FIFA Interactive World Cup bis zur immer populärer werdenden Frauen-WM. Allerdings ist der Weltverband in den letzten 40 Jahren auch immer unbeliebter und umstrittener geworden, nicht nur in England und Europa, von wo aus der Fußball seit dem 19. Jahrhundert seinen globalen Siegeszug antrat, sondern – das Beispiel der WM 2014 in Brasilien zeigt es – zunehmend auch in Schwellen- und Entwicklungsländern.

    Das große Geld machte seit den Siebzigern auch nicht vor den Spielern in der Bundesliga halt, denn 1972 fielen dort die letzten Gehaltsschranken. Zwar war im deutschen Fußball, wie man von Nils Havemann (2013) und Ronald Reng (2013) weiß, schon seit den 1950er Jahren unter der Hand viel Bares geflossen, jedoch stieg in den Siebzigern im Zuge der WM eine ganze Generation von Spielern zu Großverdienern auf. Und der Fußball etablierte sich zudem als Berufsfeld, das auch nach dem Ende der aktiven Karriere gute Einkünfte und Beschäftigungsmöglichkeiten bot. Die meisten Weltmeister von 1974, Franz Beckenbauer, Uli Hoeneß, Paul Breitner, Sepp Maier, Jupp Heynckes, Berti Vogts, Günter Netzer, Rainer Bonhof, Bernd Hölzenbein und Wolfgang Overath, sind heute mindestens Millionäre und spielen auch 40 Jahre nach dem Turnier noch herausragende Rollen im deutschen und internationalen Fußball. Sie wirken (oder wirkten bis vor kurzem) als Manager, Trainer, Vereinspräsidenten, Verbandsfunktionäre, Rechtehändler und TV-Kommentatoren, wenn nicht als Multitalent und »Lichtgestalt« wie »Kaiser« Franz Beckenbauer, der Kapitän der siegreichen WM-Elf.

    Zugleich erlebte in den 1970er Jahren der Typus des mündigen Fußballsportlers seinen Durchbruch. In »Rebellen« (Böttiger 1994) wie Netzer, Breitner und anderen bildeten sich die Liberalisierungs- und Demokratisierungstendenzen der Bundesrepublik der 1960er Jahre ab, die zugleich vorbildhaft auf die Gesellschaft zurückwirkten (s. Kap. 6). Ohne diese Spielerpersönlichkeiten wäre das selbstbewusste Auftreten der Generation der heutigen Profis und Nationalspieler in der Öffentlichkeit kaum denkbar.

    Das WM-Turnier 1974 war auch in anderer Hinsicht stilbildend. Nach dem Schock des Terroranschlags auf die israelische Mannschaft während der Olympischen Spiele 1972 war es das erste überhaupt, das von umfassenden Sicherheitsmaßnahmen begleitet war. Zumindest bis zur WM 1998 in Frankreich orientierte man sich an 1974. Seit dem 11. September 2001 bewegt man sich wiederum in ganz neuen Dimensionen (s. Kap. 4). Überhaupt befand sich die WM in einem vielfältigen Abhängigkeits- und Spannungsverhältnis zu den Olympischen Spielen in München (s. Kap. 3). In der Erinnerung der meisten Zeitgenossen fließen die beiden Großereignisse nahezu nahtlos ineinander. Allerdings trügt die Erinnerung mitunter. Zwar schloss die WM 1974 an die Erfahrungen an, die man mit Olympia 1972 gemacht hatte, aber in vielem war sie das Gegenstück zu den Spielen in München. War Olympia von sehr viel Idealismus begleitet und diente unter anderem als symbolische Bestätigung der gleichberechtigten Rückkehr Deutschlands in die internationale Gemeinschaft, belud man die Fußball-WM in der Bundesrepublik, anders als in Lateinamerika, über den Sport hinaus mit wenig Bedeutung (s. Kap. 2).

    Dem gewandelten Zeitgeist folgend, traten an die Stelle der optimistischen Münchner Visionen von Heiterkeit und Völkerfreundschaft nun Sachlichkeit und Nüchternheit. Der »kurze Sommer der konkreten Utopie« (Ruck 2000) der Sechziger mit seinem optimistischen Zukunftsglauben und seiner Planungs- und Modernisierungseuphorie war im Weltmeisterschaftsjahr definitiv zu Ende. Die Bundesrepublik war mit der Ölkrise von 1973 in eine neue historische Epoche »nach dem Boom« (Doering-Manteuffel und Raphael 2008) eingetreten. Ab jetzt hatte man es mit deutlich niedrigeren Wachstumsraten, starken Konjunkturschwankungen und struktureller Arbeitslosigkeit zu tun. 1974 verdoppelte sich die Arbeitslosigkeit gegenüber dem Vorjahr auf 582 000 Menschen ohne Job und wurde seit den 1930er Jahren erstmals wieder zu einem bedeutenden Problem für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in der Bundesrepublik. Die Zeit des stabilen Wachstums und der Vollbeschäftigung war vorbei. Zur Charakterisierung der jetzt beginnenden Post-Boom-Epoche sprechen Historiker von einer Zeit der »großen Ernüchterung« (Schanetzky 2007) und dem »Ende der Zuversicht« (Jarausch 2008). Die WM spiegelte diesen nüchternen, skeptischen Blick auf die Dinge wider.

    Dementsprechend wurde der WM seitens der bundesdeutschen Politik auch kaum Relevanz für das Deutschlandbild im Ausland beigemessen – außer freilich, dass man ein Debakel wie die gescheiterte Geiselbefreiung unter allen Umständen verhindern wollte. Dies führte dazu, dass man mehr Mittel für Sicherheitsmaßnahmen aufwandte und sich auch nicht scheute, durch sichtbare Polizeipräsenz das 1972 intendierte Bild vom friedlichen und gewaltfreien Deutschland zu konterkarieren (Pfeil 2006, S. 420). Anders als die Olympischen Spiele stand die WM trotz der damit verbundenen Mehrausgaben aber unter dem Vorzeichen der Sparsamkeit. Die Baumaßnahmen an allen WM-Stadien zusammengenommen kosteten nur einen Bruchteil der Summe, die die Olympiabauten verschlungen hatten. Wo München, das selbst auch WM-Spielort war, durch die olympische Architektur beeindruckte, strahlten die übrigen Stadien vor allem Sachlichkeit und Funktionalität aus.

    Andere Unterschiede stechen ebenfalls ins Auge. Dem erstmaligen Auftreten einer DDR-Mannschaft in München 1972 unter eigener Flagge und mit eigener Hymne hatte man nach langen Jahren der deutsch-deutschen Querelen mit Spannung entgegengesehen. Er wurde zum symbolischen Ausdruck des Durchbruchs der Entspannungspolitik der sozialliberalen Koalition unter Kanzler Willy Brandt. Im Vergleich dazu umgab das legendäre Spiel zwischen DDR und Bundesrepublik während der ersten Finalrunde der WM trotz seiner politischen Brisanz fast schon so etwas wie Normalität (s. Kap. 5). Die Spieler der DDR-Elf schienen sich von ihren Kollegen im Westen kaum zu unterscheiden und wurden in der Bundesrepublik mit großer Sympathie aufgenommen. Auch in anderer Hinsicht war die WM politisch kaum bedeutsam. An die internationale Ausrichtung der Münchner Spiele anknüpfend und diese fortsetzend, spielte das Turnier keine Rolle für die Stärkung des deutschen Nationalgefühls. Als man im Finale die Holländer schlug, gab es in der Bundesrepublik anders als in den Niederlanden keine großen nationalen Gefühlsausbrüche. An die Welle der nationalen Euphorie anlässlich des »Wunders von Bern« 1954 erinnerte nichts, und auch vom »Patriotismus light« des »Sommermärchens« von 2006 war man noch meilenweit entfernt (s. Kap. 6).

    Wie die nachfolgenden Ausführungen zur WM 1974 verdeutlichen, sind die Verbindungen von Geschichte und Sportgeschichte vielfältig und aufschlussreich. Daran, dass die Sportgeschichte inzwischen ein »legitimes Kind der Geschichtswissenschaft« ist, hat der Fußball einen großen Anteil (Pyta 2010, S. 380). Dies gilt nicht nur, weil der Autor dieser Zeilen wie die anderen gegenwärtigen deutschen Sporthistoriker ein »Kind der Bundesliga« ist und in einer Epoche der stets expandierenden Sportberichterstattung aufgewachsen ist, sondern auch deshalb, weil sich anhand der Geschichte des Fußballs und seines wichtigsten Turniers auch andere Veränderungen in der modernen Welt gut darstellen lassen. So soll dieses Buch zeigen, dass David Goldblatt recht hat mit seiner Beobachtung, dass die Geschichte der modernen Welt sich in die Geschichte des Fußballs eingeschrieben hat, mitunter sprunghaft und ungleichmäßig, aber immer klar erkennbar. Ebenso stimmt umgekehrt, dass man den Fußball nicht aus der Geschichte der modernen Welt herauslösen kann.

    Kapitel 2

    WM und Politik

    Hochrangige Gäste

    Auf nationaler Ebene war die politische Situation in der Bundesrepublik im Frühjahr 1974 vor allem durch den Rücktritt von Bundeskanzler Willy Brandt geprägt. Seines Amtes schon seit geraumer Zeit müde, trat Brandt am 7. Mai zurück, weil er glaubte, infolge der Affäre um den vom DDR-Auslandsgeheimdienst im Bundeskanzleramt platzierten Spion Günter Guillaume aus persönlichen Gründen erpressbar geworden zu sein. Auch wenn er noch im März 1974 gemeinsam mit seinem damals zwölfjährigen Sohn, dem heutigen Schauspieler Matthias Brandt, ins »Aktuelle Sportstudio« kam, interessierte sich der Kanzler nicht sonderlich für Fußball und verstand auch nicht viel davon (11 FREUNDE, 5/2012). Sein Nachfolger Helmut Schmidt im Übrigen auch nicht.

    Bedeutsam für die WM war der Kanzlerwechsel in zweifacher Hinsicht. Zum einen wurde die Begegnung zwischen den beiden deutschen Staaten in der Gruppenphase in der Wahrnehmung des Publikums nun nicht mehr von der Guillaume-Affäre überschattet, zum anderen passte der Wechsel vom politischen Visionär und Idealisten Brandt zum Pragmatiker und Krisenmanager Schmidt gut zum allgemeinen Stimmungswandel in der Bundesrepublik. Aber nicht nur der Kanzler wurde ausgetauscht, sondern turnusgemäß auch der Bundespräsident, immerhin Schirmherr des WM-Turniers. Auch dies verweist auf den bereits erwähnten vergleichsweise geringen politischen Stellenwert der WM in der Bundesrepublik. Es ergab sich die kuriose Situation, dass Bundespräsident Gustav Heinemann die WM als Staatsoberhaupt am 13. Juni eröffnete, der WM-Pokal an den Kapitän der bundesdeutschen Mannschaft Franz Beckenbauer drei Wochen später jedoch von Walter Scheel übergeben wurde.

    Der in jenen Jahren neben Willy Brandt auch in den Medien der Bundesrepublik am stärksten präsente Politiker war Henry Kissinger, heute eine der umstrittensten Persönlichkeiten des Kalten Kriegs. Als US-Außenminister war Kissinger permanent unterwegs und stellte im Rahmen der »Shuttle-Diplomatie« die Weichen für den globalen politischen Dialog und die Entspannungspolitik. Der Friedensnobelpreisträger von 1973, in Franken geboren und während der NS-Zeit als Kind jüdischer Eltern in die Vereinigten Staaten emigriert, war Fan der SpVgg Fürth, einer der herausragenden deutschen Mannschaften der Zwischenkriegszeit. Als großer Fußballliebhaber ließ sich der »Popstar der Politik« während seiner Jahre im State Department jeden Samstag die Bundesligaergebnisse von der Deutschen Botschaft in Washington durchgeben. Obgleich ein enormes Arbeitspensum abspulend, nahm der Lebemann Kissinger jede sich ihm bietende Gelegenheit wahr, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden, so auch bei der WM 1974. Die Arbeit waren in der Hauptsache Gespräche mit seinem westdeutschen Gegenüber Hans-Dietrich Genscher, der vom Innenressort als Nachfolger Scheels ins Außenamt gewechselt war. Am 3. Juli besuchte Kissinger das für den Einzug ins Finale entscheidende Spiel zwischen den Niederlanden und Brasilien in der zweiten Finalrunde in Dortmund, und am darauffolgenden Wochenende war er Gast beim Spiel um den dritten Platz und beim Finale.

    Wie die bereits vor der Veröffentlichung durch WikiLeaks 2011 nicht mehr geheimen Botschaftsdepeschen des US-Außenministeriums zeigen, ging es in den Gesprächen mit Genscher um eine ganze Palette von Politikfeldern: von der Energiepolitik über Kissingers Anstrengungen um den Frieden in Nahost nach dem Jom-Kippur-Krieg zwischen Israel und den arabischen Staaten im Oktober 1973 bis hin zur Entspannungspolitik mit dem Ostblock. Schließlich fiel das Jahr 1974 in die Hochphase der Entspannung zwischen den globalen Machtblöcken. Kurz vor der Weltmeisterschaft und nicht lange vor seinem Rücktritt wegen des Watergate-Skandals im August 1974 kam Richard Nixon mit Leonid Breschnew zu einem Gipfeltreffen im Kreml und auf der Krim zusammen. Zugleich liefen bei der NASA und der sowjetischen Raumfahrtbehörde die Planungen für eine weitere, ebenfalls nicht fußballerische Begegnung auf Hochtouren: das im Juli 1975 stattfindende Rendezvous im All zwischen Apollo- und Sojus-Kapseln.

    Inzwischen aus dem Amt geschieden, hatte Kissinger vier Jahre später bei der WM 1978 wesentlich mehr Zeit, um Spiele zu besuchen. Als Ehrengast der argentinischen Militärjunta trug er entscheidend dazu bei, den Generälen einen internationalen Propagandaerfolg und einen kurzen Moment der Legitimität im eigenen Land zu verschaffen. Angeblich soll er auch gemeinsam mit Juntachef General Jorge Videla die Kabine der Peruaner beim verschobenen Spiel in der zweiten Finalrunde zwischen Argentinien und Peru (6:0) besucht haben, das die Argentinier unbedingt mit vier Toren Unterschied gewinnen mussten, um ins Finale zu kommen (Kistner 2012, S. 322 f.). Als Kolumbien, das 1974 als Ausrichterland der WM 1986 ausgewählt worden war, aufgrund einer schweren Wirtschaftskrise 1982 seinen Verzicht erklären musste, bewarb sich der US-Fußballverband mit tatkräftiger Unterstützung Kissingers sowie auch der früheren Spieler von New York Cosmos Pelé und Franz Beckenbauer um die Ausrichtung. Dazu kam es jedoch nicht. Die WM 1986 ging, wie schon das Turnier von 1970, an Mexiko, während sich die USA noch bis 1994 gedulden mussten. In den Vereinigten Staaten konnte Kissinger mangels Popularität des Fußballs aus seinem Besuch von WM-Spielen kein politisches Kapital ziehen. Als ernannter und daher nicht dem Wählerwillen ausgesetzter Minister musste er das allerdings auch nicht. Die North American Soccer League (NASL), in der im Laufe der Siebziger auch prominente europäische Profis und Spieler bei der WM 1974 wie Gerd Müller, der Holländer Johan Cruyff und der Italiener Giorgio Chinaglia eine neue Heimat finden sollten, war erst 1968 gegründet worden. Und auch im Jugendbereich war Fußball in den 1970er Jahren in den USA im Gegensatz zu heute nach wie vor Randsportart.

    Nimmt man Kissinger aus, fällt auf, wie wenige hochrangige ausländische Politiker zur WM in die Bundesrepublik kamen. Die Zurückhaltung der Bundesregierung, anlässlich dieses Ereignisses überhaupt Einladungen auszusprechen, zeigte, wie wenig Bedeutung man ihm anders als den Olympischen Spielen zwei Jahre zuvor beimaß. Ein Runderlass des Auswärtigen Amts unterstrich bereits am 12. März 1973, »daß die Bundesregierung hochrangige Besucher aus dem Ausland aus Anlass der Fußballweltmeisterschaft 1974 weder einlädt noch betreut« (BAK B145 10187). Lediglich zwei weitere Besuche sind neben dem des US-Außenministers überhaupt aktenkundig geworden: eine Stippvisite des britischen Premierministers Harold Wilson beim neuen Kanzler Schmidt und ein bereits langfristig geplanter Empfang des Staatsoberhaupts Jugoslawiens, Marschall Tito. Bei beiden gehörte der Besuch der WM dann ins Rahmenprogramm der politischen Konsultationen. Im Gegensatz hierzu war bei den Olympischen Spielen 1972 zahlreiche politische Prominenz gesichtet worden, die eigens wegen der Spiele angereist war. Neben mehreren gekrönten Häuptern (Haile Selassie, Elizabeth II. und Prinz Philip, Carl Gustav von Schweden, Konstantin von Griechenland), die das gesellschaftliche Ereignis nicht missen wollten, war in München ein Großteil der Elite der westlichen Politik (Kissinger, Ted Heath, Georges Pompidou, Olof Palme, Bruno Kreisky, Kurt Waldheim) anwesend (Schiller und Young 2012, S. 309).

    Der britische Premier Wilson war im Februar 1974 wiedergewählt worden, führte eine Labour-Minderheitsregierung und hatte bereits während seiner ersten Amtsperiode die WM 1966 im eigenen Land und später die von 1970 in Mexiko für publikumswirksame Auftritte zu nutzen versucht – Letztere jedoch mit wenig Erfolg. Es ist sicher übertrieben, seine Niederlage gegen den Konservativen Heath bei den

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