Die Rampe: oder An der Lethe wachsen keine Bäume
Von Berndt Seite
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Buchvorschau
Die Rampe - Berndt Seite
Berndt Seite
Die Rampe
oder
An der Lethe wachsen keine Bäume
Theater der Zeit
Für meine Tochter Sibylle
1. Kapitel
Kramer bricht früh am Morgen auf. Die breit gefächerte Nacht vergeht. Der Nebel liegt starr auf den Wiesen, nur an seinen Rändern löst er sich auf und beginnt aufzusteigen, sobald sich Wind regt. Es ist kalt. Die Maulwurfshaufen haben scharfkantige Furchen, in denen der Frühjahrsfrost liegt. Der Winter war lang, und noch vor wenigen Wochen lag Froststarre über dem Land.
Als er das Haus verlässt, bleibt er auf der Treppe stehen, atmet die kalte Luft tief ein, die sich langsam in seiner Lunge verteilt und ein wohliges Gefühl erzeugt.
Erst kurz vor der Abreise teilte man ihm den Namen des Dorfes mit. Er suchte nach dem Ort auf der Karte und fand ihn nicht weit entfernt vom Meer. Die meisten dieser Dörfer verströmen eine in Lehm und Stein gehauene kleinbürgerliche Langeweile.
Kramer kennt die Menschen am Meer. Sie sind verschlossen, aber bodenständig, und besitzen eine Portion Sturheit, die an Selbstherrlichkeit grenzt. Das Leben mit der Gefahr, die vom Meer ausgeht, hat sie tatkräftig gemacht und der weite Blick freier; ob ihm diese Menschen dort begegnen werden, weiß er nicht.
Er geht freiwillig in das Dorf, er will etwas bewegen, etwas leisten, nicht dem Alltagstrott verfallen, er ist ein Getriebener, ein Macher, der nicht ruhen kann, ehe es vollbracht ist.
Zu neuen Aufgaben bricht er früh auf. Am Morgen, wenn das Land noch im Halbschlaf liegt, kann sich niemand verstellen. Die Häuser ruhen in sich, und ihre Bewohner sind so mit sich beschäftigt, dass sie keine Zeit haben, Schminke aufzulegen.
Er passiert die erste Absperrung einen Kilometer vor dem Dorf, nachdem ein Uniformierter seinen Ausweis und das Schreiben von der Behörde geprüft und nach Lebensmitteln und einer Waffe gefragt hat, die er möglicherweise bei sich habe. Der Mann verschwindet in einen Container, der als Aufenthaltsraum und Büro dient, hantiert auf dem Schreibtisch hinter der Fensterscheibe, so dass Kramer genau sehen kann, was er tut, nimmt einen Stempel und drückt ihn fest auf ein Stück Papier, prüft, schüttelt den Kopf, er haucht den Stempel an und drückt ihn noch einmal kräftig auf das Papier. Er kommt aus dem Container und händigt ihm das Papier aus, das nun mit zwei Stempeln versehen ist und ihn anglotzt wie ein Tier, aber doch nur ein Passierschein ist. Dann fährt Kramer auf einer von zerbeulten Leitplanken begrenzten Chaussee auf den Schlagbaum zu und parkt das Auto auf einem kleinen Stück Ödland neben der Straße. Er geht mit dem großen Koffer in der Hand Richtung Schlagbaum. Der liegt auf zwei in die Erde gerammten, grob gehauenen, eichenen Pfosten über einer großflächigen Desinfektionsmatte. Zu beiden Seiten der Matte hängen provisorisch an weiteren Pfosten Zaunfelder, die nach einigen Metern auf ein freies Feld führen, so, als ob sie ihre Aufgabe erfüllt hätten, kaum dass sie damit begonnen haben. Am Rand des Ackers stehen im Abstand von fünf Metern graue Betonpfähle mit eingeknickten Köpfen, die in einem weiten Bogen das Dorf einkreisen. Noch ist der Maschendraht zwischen ihnen nicht gespannt. Daneben verläuft ein unbefestigter Weg, den gerade ein Bagger planiert. Vor der Desinfektionsmatte, die mit Brettern eingefasst und mit einer dicken Schicht Sägespäne ausgepolstert ist, befindet sich ein Eisentor, durch dessen Stäbe kein Kopf hindurchpasst. Rechts und links davon zwei Container, die als Personenschleuse dienen. Hinter dem Tor steht ein ausrangiertes verblichenes Militärzelt, dessen Seitenwände aufgerollt und mit Lederschlaufen an der Zeltoberkante befestigt sind, so dass man in das Zeltinnere sehen kann. Um einen langen Tisch herum stehen mehrere Stühle, eine Lampe mit großem Schirm und zwei Liegen mit zerschlissenen Bezügen, durch die das Metallgestell durchscheint. Ein Wasserkocher, ein Stapel Tassen, Aluminiumbesteck und ein graues Telefon mit roter Wählscheibe stehen auf einem kleinen Tisch. Aus dem rissigen Lehmboden steigt feiner Staub auf. Vor dem Zelt sitzt eine schwangere Frau auf einem Sessel, aus dessen Sitzfläche Rosshaar und Seegras quillt. In der rechten Hand hält sie eine Zigarette, zieht zweimal an ihr und bläst kleine Rauchringe in die Luft. Ihr Gesicht ist blass und grau, gezeichnet von den Jahren, nichtssagend und langweilig. Über ihren Bauch spannt sich ein ärmelloses, schwarzes T-Shirt mit einem zum Sprung bereiten Panther darauf. Ein kurzer Jeansrock bedeckt ihre Schenkel. An den Füßen trägt sie schwarze Strümpfe und rote Badelatschen mit einer dicken, grünen Sohle.
Kramer geht auf sie zu, mustert sie kurz verwundert und stellt sich dann rasch vor. Er zeigt ihr das Schreiben von der Behörde, ohne es aus der Hand zu geben, und bittet sie, ihn beim Bürgermeister zu melden.
Sie sieht ihn an, wobei ihre großen Augen wenig Interesse zeigen, nur ihre leicht geöffneten Lippen verraten eine Spur von Neugier. Sie sagt kein Wort, dreht sich um und geht in das Innere des Zeltes. Sie tritt an den kleinen Tisch, drückt eine Taste auf dem Telefon, hebt ab und horcht in den Hörer. Dabei zieht sie an ihrer Zigarette, spitzt den Mund und formt wieder kleine Ringe. Nach einer Weile sagt sie: »Hier ist einer, der rein will.« Sie nimmt noch einen Zug. Nachdem sie den Hörer aufgelegt hat, kommt sie aus dem Zelt, stolpert über eine kleine Unebenheit im Boden und sagt: »Sie möchten bitte warten, man holt Sie ab.« Sie geht zum Sessel zurück, wischt mit der Hand über die ausgesessene Sitzfläche und setzt sich vorsichtig.
Die Frau raucht weiter und wirft ihre roten Latschen mit einem Ruck von den Füßen. Sie bleiben wie zwei gestrandete Feuerlöschboote im kurzen Gras liegen.
Kramer verlässt die Matte, denn er spürt, wie das Wasser langsam in seine Schuhe eindringt. Das aggressive Desinfektionsmittel darin würde sie bald zerstören. Er geht zum Auto, öffnet den Kofferraum und tauscht sie gegen ein Paar Gummistiefel. Die hätte er gleich anziehen sollen, denkt er, statt wie ein Tourist hier anzukommen. Die Sonne bricht zögernd durch die Wolkendecke.
Ein Polizist nähert sich vom Dorf her dem Schlagbaum. Noch im Gehen nimmt er die Schirmmütze ab, öffnet den oberen Uniformknopf und wischt sich mit dem Taschentuch den Schweiß aus dem Nacken. Als er nur noch wenige Meter von Kramer entfernt ist, sagt er: »So warm schon, und das in dieser Jahreszeit! Schön, dass Sie da sind. Wir haben Sie schon erwartet. Der Bürgermeister ist krank und seit Wochen nicht mehr im Dorf gewesen. Für Sie liegt ein Brief in Ihrer Wohnung. Deswegen spar ich mir alle weiteren Erklärungen. Fahren Sie Ihr Auto doch ins Dorf, dann haben Sie alles bei sich. Den Wagen brauchen Sie bestimmt in der nächsten Zeit nicht. Entschuldigen Sie, ich habe mich noch nicht vorgestellt, Schöning ist mein Name. Polizeiwachtmeister von der Dienststelle in der Stadt.«
Dann hält er inne, als ob er schon zuviel geredet hätte und sich dafür entschuldigen müsste. Sein Lächeln hat etwas Devotes.
Schöning ist um die vierzig, schätzt Kramer. Er ist etwa einsfünfundsiebzig groß und von untersetzter Gestalt. Den Bauchansatz versucht er mühsam unter der zugeknöpften Uniformjacke zu verbergen. Er hat ein offenes Gesicht und seine blauen Augen sehen neugierig in die Welt. Schultern, Arme und Hände sind muskulös. Schöning ist von Beruf Maurer und geht nach einer weiteren Ausbildung zur Polizei. Im Dorf ist er seit Beginn der Krankheit stationiert, als klar war, dass die Aktion länger dauern würde. Die Dorfbewohner schätzen ihn, lässt er Kramer später stolz wissen. Nachdem der Bürgermeister wegen einer Krankheit ausgefallen ist, organisiert er die Versorgung des Dorfes. Seine Aufsichtspflicht vernachlässigt er etwas, wie Kramer bald feststellen wird.
»Danke«, sagt Kramer kurz, den halbmilitärischen Rapport des Polizisten erwidernd. Am liebsten würde er noch hinzufügen: »Rühren – auf gute Zusammenarbeit!« Stattdessen gibt er ihm die Hand. Kramer mag es, anderen die Hand zu geben, obwohl der Händedruck etwas aus der Mode gekommen ist. Hier aber leuchtet es ihm ein wegen der Infektionsgefahr. Im täglichen Leben unterstreicht es eine Distanz, die er für den Umgang der Menschen miteinander abträglich findet. Mit dem ersten Händedruck, findet er, spürt man, mit welchem Menschen man es zu tun hat.
Kramer geht wieder zum Auto, verstaut den Koffer, den er am Schlagbaum zurückgelassen hatte, auf der Rückbank und fährt langsam über die Desinfektionsmatte unter dem geöffneten Schlagbaum hindurch. Das Ende des Schlagbaums zeigt wie ein ausgestreckter Finger in den Himmel, als wolle es einen Befehl erteilen, beugt sich aber dann schnell wieder, als der Wachtmeister den Schlagbaum sinken lässt, wobei der Balken wippt, als ob er sich wehren wolle, angeschlossen zu werden.
Die junge Frau sitzt noch immer im Sessel, nickt dem Polizisten zu und zieht an ihrer Zigarette. Jetzt hat sie ein freundlicheres Gesicht aufgesetzt. Schöning sieht sie an und schüttelt unmerklich den Kopf. Die Frau lacht. Dann steigt er zu Kramer ins Auto, und sie fahren auf einer leicht abschüssigen Straße ins Dorf hinein. Die Sonne lässt das weiße Desinfektionspulver auf dem Asphalt glänzen.
»Unser Schneemann ist wieder unterwegs«, sagt der Polizist, als er Kramers fragenden Blick bemerkt. »Der Wasserwagen kommt in einer Stunde. Ich bin kein Fachmann, aber das habe ich inzwischen gelernt: Ohne Wasser wirkt das Zeug nicht.« Kramer antwortet nicht. Reine Beschäftigungstherapie, denkt er. Viel hilft das Zeug nicht, und was um Himmelswillen soll hier desinfiziert werden? Es ist wie beim Militär, der Soldat muss in Bewegung bleiben, sonst glaubt er noch, er sei zum Spaß dort.
Die Häuser rechts und links der Straße scheinen sich neben den angrenzenden Scheunen zu ducken.
»Fahren Sie bitte langsamer«, sagt der Polizist und zeigt auf ein kleines Haus mit einem spitzen Giebel und zwei Fenstern, zwischen denen sich eine schmale Tür befindet. »Dort wohnt Tina Maurer, ein Original des Dorfes mit siebtem Sinn. Sie ist Handauflegerin, Beichtmutter und Intrigantin in einer Person. Den Bürgermeister hat sie schon eingewickelt und bestimmt versucht sie es bei Ihnen auch.«
Kramer antwortet nicht; er nimmt eine Hand vom Lenkrad, fingert in den Taschen seiner Hose und dann in seiner Jacke nach der Zigarettenschachtel, öffnet die Packung mit zwei Fingern, ohne die Straße aus dem Blick zu lassen, steckt die Zigarette in den Mund und zündet sie an der großen Flamme seines Feuerzeugs an. Kramers Freunde kennen diese Reaktion. Es ist ein Ablenkungsmanöver, um sich vor eigenen unvorsichtigen Kommentaren zu schützen. Er antwortet nicht, um den Redefluss des Polizisten nicht unnötig anzuregen. Lange Reden und Erklärungen sind ihm zuwider, ja er hasst sie sogar, besonders dann, wenn sie in allgemeinem Geschwafel und in Gemeinplätzen enden.
Kramer dreht das Autofenster herunter und der Geruch, der aus den Gärten aufsteigt, erinnert ihn an seine Kindheit. Er war an der Seite des Großvaters mit dem Ochsengespann über die Kompost gedüngte Wiese gefahren. Der »Handochse« blieb oft einen Schritt zurück. Erst verwarnte Großvater ihn und rief: »Ho,ho«, dann nahm er die Peitsche, ließ die Lederschnur auf seinem Hüfthöcker tanzen und schickte einen Strahl Priemsaft hinterher. Half das nicht, zischte Großvater wie ein Storch, drehte die Peitsche um und ließ den Schaft auf den Ochsen niederfahren. Viel Wirkung zeigte das nicht, denn bald fiel der Ochse wieder in seinen Trott. Großvater philosophierte, Ochsen wären dem Menschen langfristig überlegen, weil ihre Gehirnbasis fester wäre. Nur der Schlachthof könne das Problem lösen, sagte er, lächelte verschmitzt und strich Kramer über das Haar. Jahre später nun beginnen die Bilder zu laufen, wenn er wieder Kompost und warme, feuchte Erde riecht, erst stockend, dann immer schneller, bis Großvater ihm über den Scheitel streicht. Dann verblassen die Bilder wieder. Was bleibt, ist die Hand des Großvaters. Die spürt er jetzt wieder. Oft sehnt er sich nach ihr, nach der Sicherheit, die ihm die Nähe des Großvaters gab.
Heinrich Kramer ist sechsundfünfzig Jahre alt, noch von athletischer Statur, obwohl er kaum Sport treibt. Er hat dunkles Haar, das an den Schläfen grau wird, einen Siebentagebart und große, kräftige Hände; ab und zu trägt er eine Brille mit großen Gläsern, die in ein dünnes Gestell eingefasst sind und seine Augen größer erscheinen lassen. Seit einigen Wochen sitzt er nun in diesem Ort fest, wie er seinen Freunden am Telefon erklärt, und es gibt auch keine Aussicht, sich von hier zu lösen. Er muss lachen, wenn er an seine geschwollene Rede denkt, von wegen »lösen«. Er kann sich nicht einfach lösen wie beim Fußballspiel von seinem Gegner. Hier wird man höchstens abgelöst, und das sollte ihm nicht passieren. Natürlich kokettiert er auch mit seinen Erklärungen, denn er ist freiwillig hier, und das war bei früheren Einsätzen auch so, oft trieb ihn die Neugier und ein Hang zur Selbstbestätigung.
Seine Freunde versorgt er nur mit spärlichen Nachrichten, so dass seine Gesprächspartner bald einsilbig werden bei seinen Schilderungen über die Schönheit des Orts, das wunderbare Wetter und den dunklen, geheimnisvollen See. Über seine Arbeit verliert er kein Wort, so gut funktioniert seine Selbstzensur schon. Die privaten Telefongespräche werden immer seltener, und seine Freunde melden sich kaum noch. Der Regierungsvertreter riet ihm, er solle möglichst wenig telefonieren: »Das ist gut für Sie, so kommen Sie nicht in die Verlegenheit, sich möglicherweise zu widersprechen. Je weniger Sie erzählen umso besser«, sagt er und fügt hinzu, dass es sich dabei um einen rein privaten Hinweis handele.
Kramer bezeichnet die Methode der spärlichen Auskunft als die »Flachlandmethode«, die alles einebnet.
Er ist ein Getriebener. Unvorstellbar für ihn, nur dazusitzen und kein »Bestimmer« zu sein. Und dann wartet er auch noch auf die besonderen Tage, die aus dem Ei schlüpfen, ohne dass man ein Küken erwartet. Auf so einen Tag wartet er immer, um sein gesamtes Können zu zeigen, aber er weiß aus Erfahrung, dass die Einwohner des Ortes vielen Dingen des politischen Lebens gleichgültig gegenüberstehen. Was die Großen tun, interessiert sie