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Buchstabe und Geist: Eine Spukgeschichte
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eBook135 Seiten1 Stunde

Buchstabe und Geist: Eine Spukgeschichte

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Über dieses E-Book

Kurz vor seinem dreißigsten Geburtstag beendet Felix Mandaat sein bisheriges verträumt-zurückgezogenes Leben, um sich endlich unter Menschen zu mischen. Als Vertretung für einen verschwundenen Kollegen tritt er eine Stelle als Bibliothekar in einer Universitätsbibliothek an und will versuchen, sich der hier arbeitenden Gemeinschaft anzupassen, was ihm nicht leichtfällt. Im Magazin der Bibliothek gehen zudem vor Mandaats Augen sehr merkwürdige Dinge vor sich, und bei der Frage, was es mit dem geheimnisvollen Verschwundenen auf sich hat, ob er krank ist oder ihm sogar etwas zugestoßen ist, hüllen sich alle – bei sonst auffälliger Mitteilsamkeit – in ein seltsam eisiges Schweigen. "Buchstabe und Geist" gehört durch den kühl observierenden Stil, den genauen Blick fürs Detail, die subtile Ironie und die teilweise urkomischen Szenen mit den lieben Kollegen und auch den Benutzern der Bibliothek zu den typischen Werken, die Frans Kellendonk in seinem kurzen Leben zu einem der wichtigen, bleibenden Autoren der niederländischen Moderne gemacht haben.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum8. Aug. 2016
ISBN9783940357540
Buchstabe und Geist: Eine Spukgeschichte

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    Buchvorschau

    Buchstabe und Geist - Frans Kellendonk

    Kersten

    KAPELLE

    Ein gelehrter Mann namens van den Kerckhove hat einmal behauptet, die Gracht, an der unser Gebäude liegt, sei die längste der Welt, denn etwas weiter unten ändere sie ihren Namen, fließe weiter durch bis zum Rhein und der, wie bekannt, in das unendliche Meer. Auch sei sie die schönste Gracht der Welt, denn sie sei die vollendetste Gracht in der prächtigsten Stadt der herrlichsten Provinz der Niederlande – und die gelten gemeinhin als die Perle Europas, das sich seinerseits die Kaiserin der Kontinente nennen darf. Leider kann unser Gebäude selbst auf keinen dieser Superlative Anspruch erheben.

    Die Front ist aus ganz gewöhnlichem Backstein und stammt aus dem Ersten Weltkrieg. Sie versucht sich den Anschein einer Fassade aus nobleren Zeiten zu geben, was dazu führt, dass die hohen Fenster unter den Girlandenornamenten einen anstarren wie Damen, die an der Wirkung ihrer Toilette zweifeln, angegriffen und angriffslustig zugleich. Sie folgt einem klassisch symmetrischen Aufbau, und auch die geräumige Eingangshalle verspricht Ordnung und Übersichtlichkeit, jedenfalls in der Früh um halb neun, wenn gerade gewischt wurde und die Putzfrauen auf ihre Schrubber gestützt noch ein wenig an der Pförtnerloge schwatzen und den hereinkommenden Mitarbeitern einen guten Morgen wünschen.

    Es ist noch ein ganzes Stück vor halb neun, als Mandaat sich vor dem Eingang zu unserem Gebäude die neuen Schuhe abtritt. Gut zwei Stunden vorher ist er aufgestanden und hat sich auf der Stelle in seine Kleidung geworfen. Untadlige Kleidung: schlichte graue Hose, Jackett mit Fischgrätmuster, Pullover mit V-Ausschnitt, darunter ein hellblaues Hemd zu grauer Krawatte. In wenigen Monaten wird Mandaat dreißig. Der Schock, der damit einhergeht, kann einen hart ankommen, das weiß er, und so hat er beschlossen, sein Leben von nun an mit anderen zu teilen. Der Zug hat ihn durch eine Niederlande geführt, die er bisher noch nicht kannte, eine Finsternis mit ihm durchmessen, der sich Fabriken und Bürogebäude mit ihren Lichtern tapfer entgegenzustemmen versuchten. Scharen von Menschen, von nun an Schicksalsgenossen, sind, noch benommen vom Schlaf, zugestiegen. Er hat gesehen, wie die Fenster des Zuges von der mitgebrachten Nestwärme beschlugen. Die arbeitenden Niederlande! Jeder dieser Mitreisenden hat seinen eigenen Beruf. Der eine fräst, dreht und schleift, der andere gibt Unterricht und konferiert, einer weiß alles vom Vulkanisieren, Amalgamieren, Sherardisieren, Silikonieren und Eloxieren, ein anderer verwaltet und leitet, und wieder ein anderer stempelt und stanzt. Wie seine eigene Arbeit genau aussehen wird, weiß Mandaat noch nicht. Auf dem Bahnsteig hat er nochmals – völlig überflüssigerweise – den kleinen Stadtplan studiert, bevor er sich auf seinen von nun an täglichen Weg gemacht hat. Bald schon werden seine Füße jede Unebenheit der Route genau kennen, die Namen der Straßen und der in ihnen befindlichen Geschäftsschilder sich zu einer Litanei aneinandergereiht haben, die er abends auch rückwärts wird aufsagen können.

    Dies ist der erste Werktag des neuen Kalenderjahres, der erste Tag seines öffentlichen Lebens.

    (Das heißt …)

    Jemand kommt ihm mit offenen Armen entgegen. „Da ist ja der Vertreter für unseren Meneer Brugman! Kommen Sie herein – setzen Sie sich."

    Die große Liebe seiner Mutter ist bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Sein Vater war ihre zweite Wahl. Ihr erstes Kind kam tot auf die Welt. Danach kam er. Jetzt kommt er als Stellvertreter für Meneer Brugman. Übrigens ist dies nicht sein erster Besuch in unserem Gebäude. Ein paar Tage zuvor hat er hier ein Bewerbungsgespräch mit einem Herrn geführt, der sich derartige Mühe gab, keinen uninteressierten Eindruck zu machen, dass Mandaat das Gefühl bekam, aus reiner Höflichkeit eingeladen worden zu sein. Inzwischen vermutet er, dass er der einzige Bewerber war.

    „Wir sind ja so froh, dass Sie einspringen wollten. Und so kurzfristig auch noch – sehr freundlich von Ihnen. Die Arbeit darf nicht zu lang ins Stocken geraten. In der Sammlung könnten nie wiedergutzumachende Lücken entstehen … Angesichts dieser Option driften die Gedanken des anderen einen Moment ab, allem Anschein nach nicht einmal unangenehm. „Das ist Ihre erste Stellung, nicht wahr? Er lacht entschuldigend. „Na ja, Stellung …"

    Mandaat antwortet, dass er schon mal eine andere Arbeit ausgeübt hat.

    „Als Freiberufler? Amüsiertes Erstaunen. „Bei Ihrer philologischen Ausbildung?

    Organisatoren von Veranstaltungen. Ein siamesisches „Wir", an dem er stur festgehalten hatte und das Angebote erstellte, sie zu übermitteln versprach und Vereinbarungen unterschrieb, das alles unter einem goldverzierten Briefkopf in Reliefdruck. Er habe Kongresse organisiert.

    „Ach …!"

    Reservieren und besprechen, darauf lief die Arbeit im Grunde hinaus. Er reservierte Säle, Hotelzimmer, besprach Pläne und Probleme, buchte Künstler, sogar manche Redner. Für jede Übernachtung, Buchung, jedes Gedeck kassierte er eine Provision von fünfzehn Prozent. Er organisierte Programme für die mitreisenden Damen. Die Juweliere, Glas- und Porzellanhändler, bei denen er sie vorbeischickte, bezahlten ihn großzügig für diese Kundinnen. Massenhaft Geld hat er mit seinen Kuppeleidiensten verdient. Er hat Reisen davon unternommen und den Rest nicht besonders abenteuerlich in Immobilien und Sparbriefe investiert, aus denen er jetzt ein kleines Einkommen bezieht.

    „Der Traum eines jeden Dichters! Und ein Dichter müssen Sie ja fast sein, wenn Sie solch segensreiche Arbeit einfach aufgegeben haben …"

    Es war eine Arbeit, die er nach einem halben Jahr vom Bett aus erledigen konnte; die er nach einem Jahr tatsächlich von seinem Bett aus erledigte. Neben ihm auf einem kleinen Tisch ein Telefon, ein Diktiergerät, ein Terminkalender und eine Teekanne. Er wartete auf die Post. Er wartete darauf, dass man ihn anrief. Er wartete auf den Abend. In der Ferne das Hämmern von Metall auf Beton, Bodenbefestigungsarbeiten für einen Neubau. Jeden ersten Montag im Monat mittags um zwölf die Sirene. Von seinem Bett aus, das mehr und mehr einem Krankenlager glich, hatte er Aussicht auf einen Lichtschacht: drei Wände aus geborstenem Zement, eine davon weiß gestrichen. Rostige Maueranker. Auf dem Boden des Schachts Kies, darüber der Himmel, mit etwas Glück vorüberziehende Wolken; bei jedem Wechsel des Wetters änderte der Kies seine Farbe. Ab und zu verirrte sich ein Spatz oder eine Amsel zu ihm nach unten. Nur zu Mittag verließ er hin und wieder die Wohnung. Nie kaufte er beim Metzger weniger als zwei Steaks, beim Bäcker jedes Mal mindestens zwei Brötchen, aus Scham wegen seiner Einsamkeit. In der Nacht hielt Herzklopfen ihn vom Schlaf ab, und wenn er seine Gedanken endlich loslassen konnte, überkam ihn Panik und er zwang sich, die Augen zu öffnen, wollte er sehen, um sicher zu sein, dass er nicht tot war.

    Dieser Schacht ist auch jetzt da, wenn er ihn auch nicht sieht. Alles Mögliche geschieht bei ihm zu Hause. Post fällt durch den Briefschlitz. Eine Maus kommt hinter einer Scheuerleiste hervor und huscht schnüffelnd über den Boden. Die Zeiger der Uhr, die Drehscheibe des Stromzählers, das Licht des Tages wandern, wandern in einem fort weiter. Der Gaszähler tickt. Staub fällt zu Boden. Mandaat sieht es nicht. Denn nun muss es endlich beginnen.

    Jetzt sitzt er hier, in einem unserer Direktionszimmer, dieses Produkt gesunder Ernährung, medizinischer und zahnärztlicher Versorgung, schulischer und akademischer Bildung. Innerhalb weniger Jahrzehnte haben die Niederlande der Nachkriegszeit etwas geschaffen, das in früheren Zeiten Generationen gedauert und ein Vermögen gekostet hätte: einen Herrn vom Scheitel bis zur Sohle. Dieser Herr schaut aus dem Fenster. Im Vergleich zu seinem Lichtschacht ist die Aussicht hier kaum ein Fortschritt zu nennen. Dieselbe minimalistische, beißende Schönheit: Backstein und Grau, vornehmlich das alltäglicher Verzweiflung, doch hier und da auch ein lichtgraues Funkeln.

    „Über Ihre Bezüge wissen Sie Bescheid?, fragt der andere. „Urlaub, Krankenversicherung, Betriebsrente, Aufgabenbereich?

    „Nun ja, Letzteres …"

    „Kommen wir gleich drauf. Der andere lächelt. „Tja. Sie hatten vielleicht erwartet, der leitende Bibliotheksdirektor selbst würde Sie empfangen, aber Sie werden mit mir vorliebnehmen müssen. Wir bekommen ihn selten zu sehen, und, lassen Sie mich das hinzufügen, je seltener, desto besser, denn jedes Mal, wenn er erscheint, verkündet er uns einen Todesfall. Vorigen Monat noch den der alten Frau Pelkmans …

    Dem nun eintretenden amüsierten Schweigen glaubt Mandaat entnehmen zu können, dass besagte Mitteilung eine eher lustige Angelegenheit war. Der andere schlägt auf seine Stuhllehne und ruft sich zur Ordnung.

    „Merkwürdiger Mann, unser Direktor. Mit keiner Macht aus seinem Büro zu kriegen. Ich wollte, ich könnte es Ihnen mal zeigen. Die Einrichtung wurde seit über hundert Jahren nicht erneuert. Die untröstliche Witwe eines Vorgängers hat das testamentarisch so festlegen lassen. Aus den Polstern quillt an allen Ecken und Enden das Stroh. Auf dem Schreibtisch stehen Miniaturporträts von Leuten, die kein Mensch mehr kennt. In einem bestickten Zeitungshalter an der Wand steckt eine Zeitung von genau dem Tag, als der angebetete Gatte verschieden ist. Dort schreibt unser Direktor seine Bücher. Er beherrscht fast fünfzig Sprachen, von einigen davon haben Sie bestimmt noch nie was gehört: Oriya, Cebuano, Hiligaynon, Telalog, Ilokano, Kannada, Paschtu, Telugu, Tamil. Sein Deutsch und sein Englisch sind übrigens eher mäßig, aber das werden Sie noch merken. Niemand weiß besser als er, was für Unmengen Bücher schon geschrieben wurden; dass er trotzdem meint, dem noch etwas hinzufügen zu müssen, ist entweder ein Zeichen tiefen Glaubens oder geistiger Umnachtung. Unser Direktor ist ein Mensch der, nun ja, etwas … – ach nein, ich sollte Ihnen nicht schon alles im Voraus verraten."

    Der andere beugt sich zu Mandaat vor, ein Geheimnis liegt ihm auf der Zunge. „Wenn Sie irgendwann mal einen Moment Zeit haben, machen Sie sich das Vergnügen und schauen Sie im Katalog unter den Namen Ihrer lieben Kollegen nach. Sie werden sehen, fast alle tauchen darin auf – mit einem Sonderdruck, einem Gedichtband im Selbstverlag, egal was, wenn nur Jansen neben Joyce stehen darf und Pietersen neben Proust. Mit einer Ausnahme: Ihrem ergebenen Diener, mir. Triumphierend lehnt er sich zurück. „Von mir ist noch kein Buchstabe veröffentlicht worden!

    Dieser andere ist B. C. Latour van Uffel, Mitglied

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