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Amberlough – Stadt der Sünde
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eBook499 Seiten6 Stunden

Amberlough – Stadt der Sünde

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Über dieses E-Book

In Lara Elena Donnellys glamourösem Spionagethriller opfert ein Doppelagent all seine Ideale, um seinen Schmuggler-Geliebten zu retten, bevor ein Regierungsputsch ihre dekadente Stadt übernehmen kann. Inmitten wachsender politischer Spannungen verflechten sich in Amberlough drei Leben mit dem Schicksal der Stadt selbst. Der Schmuggler: Tagsüber ist Aristide Makricosta Conférencier des exklusivsten Nachtclub in Amberlough. Nachts hingegen schmuggelt er Drogen und Flüchtlinge direkt unter der Nase korrupter Polizisten. Der Spion: Geheimagent Cyril DePaul denkt, er könne Geheimnisse gut bewahren, doch nach einem katastrophalen Einsatz im Ausland trifft er eine gefährliche Entscheidung, um sich zu schützen … und Aristide hoffentlich ebenfalls. Die Tänzerin: Cordelia Lehane, eine gewiefte Burlesque-Tänzerin im Bumble Bee Cabaret und Aristides' Mädchen für alles, könnte der Schlüssel zu Cyrils Plan sein … wenn ihr zu trauen ist. Während die strahlenden Neonlichter von den wachsenden Flammen einer faschistischen Revolution abgelöst werden, müssen diese drei alles und jeden benutzen, um zu überleben, einschließlich einander. Eine großartige Mischung aus Kabarett und John Le Carré.
SpracheDeutsch
HerausgeberCross Cult
Erscheinungsdatum1. Aug. 2023
ISBN9783986663292
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    Buchvorschau

    Amberlough – Stadt der Sünde - Lara Elena Donnelly

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    KAPITEL

    1

    Zu Beginn der Arbeitswoche krochen die meisten Lohnempfänger in Amberlough nur zögerlich aus ihren Betten – oder denen von jemand anderem – und ließen sich, verkatert und verschlafen, von den Straßenbahnwagen ins Büro schleppen. In Amberlough-Stadt, der Hauptstadt des gleichnamigen Staates, waren nur wenige Frühaufsteher beheimatet.

    Im angesagten Teil der Baldwin Street – nah genug am Fluss, dass der Duft des Geldes noch die Luft parfümierte, und nahe genug am Hafen, um gute Straßenimbisse und radikale Gespräche zu genießen – schälte sich Cyril DePaul in einer Wohnung in der zweiten Etage aus einer schweren Moiré-Seidenbettdecke. Außerhalb seines Deckennests roch es intensiv nach Kaffee. Ein frühes Frühlingsgewitter besprenkelte die Schlafzimmerfenster mit Regentropfen.

    Obwohl es nicht Cyrils Wohnung war, stand er auf und ging, ohne zu zögern, ins Badezimmer. Er fuhr sich mit einem nassen Kamm durch die Haare, putzte sich mit süßer Zahncreme mit Veilchengeschmack die Zähne und lieh sich den Morgenmantel aus, der an der Stange über der Badewanne hing. Obwohl Aristide dazu tendierte, seine Räumlichkeiten eher zu stark zu beheizen, war auf dem gefliesten Bodenmosaik ein letzter Hauch des Winters zu spüren. Cyril verließ das Badezimmer und trat dankbar auf den dicken Teppich, der im gesamten Flur ausgelegt war. Der mit Troddeln gesäumte Läufer reichte bis in den Salon hinein, aus dem ihm das Dienstmädchen mit einem leeren Tablett entgegenkam.

    »Er sitzt am Tischchen, Mr. DePaul«, sagte sie, ohne mit der Wimper zu zucken.

    »Vielen Dank, Ilse.« Wenn sie lächelte, bildeten sich zauberhafte Grübchen auf ihren Wangen.

    Am anderen Ende des Salons, dort, wo dieser ins Esszimmer überging, öffnete der Flur sich zu einem von Fenstern eingefassten Frühstückserker. Dort saß ein eleganter Mann mit ockerfarbener Haut entspannt auf einem der vergoldeten Stühle. Er trug eine Lesebrille mittig auf der dramatisch geformten Nase, oben schmal, unten breit, stark geschwungen: als hätte eine Bildhauerin ihm den Daumen zwischen die Augen gedrückt und fest nach unten gezogen. Die schmalen Lippen waren zu einem Schmollmund verzogen, den er so oft im Spiegel geübt hatte, dass er zur Gewohnheit geworden war.

    Auf einem Knie balancierte er die Gesellschaftssparte der Amberlough Clarion. Der Rest der Zeitung, noch feucht vom Gewitter, lag zwischen zwei silbernen Kaffeegedecken und kleinen Tellerchen mit Mandelgebäck verstreut. Als Cyril sich neben die unbenutzte Kaffeetasse setzte, zog Aristide mit lautem Rascheln die Zeitung auseinander und sagte, ohne ihn anzusehen: »Endlich. Ich habe mich schon gefragt, ob du im Schlaf g… g… gestorben bist.«

    »Und mir die Freude deiner Gesellschaft beim Frühstück entgehen lassen? Niemals.« Cyril goss sich Kaffee ein, genoss Aristides gekünsteltes Stottern und das leise Säuseln, mit dem der Kaffee in die glänzende Tasse floss. »Bist du mit der Titelseite fertig?«

    »Schon seit einer Ewigkeit

    Cyril griff nach der Zeitung und verzog das Gesicht, da die feuchte Tinte auf seine Handfläche abfärbte. »Schon lange wach?« Die Frage stellte er beiläufig, doch während er ihn über die verwaschenen Schlagzeilen hinweg musterte, ordnete er Aristides Aussehen haargenau ein: Satinpyjama unter einem gestepptem Morgenmantel, dieselbe Kleidung, die er beim Zubettgehen getragen hatte – zumindest beinahe. Seine vollen dunklen Locken hatte er locker über die Schulter geworfen, allerdings glänzte nach wie vor etwas Feuchtigkeit darauf. Seine Wangen waren leicht gerötet. An diesem Morgen hatte er die Wohnung bereits verlassen, sich aber wieder umgezogen. Also hatte er bei seinem Ausflug etwas Unerlaubtes getan und Cyril sollte davon nichts bemerken. Folgsam ignorierte er es, genau wie Aristide seinen eindringlichen Blick und seine Frage ignorierte.

    »Iss.« Aristide schob etwas von dem Gebäck über den Tisch. »Sonst kommst du zu spät zur Arbeit. Beim Gedanken daran, wie C… C… Culpepper wütend wird, kommt mir das Grausen. Sie ist unter normalen Umständen schon zum Fürchten.«

    »Ari …«

    »Ich weiß, ich weiß. Ich sollte es gar nicht wissen.« Er steckte zwei knöchrige Fingern in die Brusttasche seines Morgenmantels und holte einen Zettel heraus, der in der Mitte gefaltet war. »Und sie auch nicht, oder?« Ohne Cyril anzusehen, gab er ihm den Scheck. »Wie sagt man so schön? Diskretion ist u… u… unbezahlbar.«

    Cyril ließ das Schmiergeld im Ärmel verschwinden. »Daran musst du mich nicht erinnern.« Das Geld war eine symbolische Geste, damit sie alles glaubhaft abstreiten konnten. »Aber es freut mich, wenn du es tust.« Er ignorierte das Gebäck, trank seinen Kaffee aus und erhob sich. »Kleidung?«

    »Ilse hat sie g… g… gebügelt. Hängt im Kleiderschrank.«

    Cyril beugte sich hinunter und drückte Aristide einen Kuss auf den Scheitel. Seine Haare rochen nach Regen, Salz und Rauch. Also hatte er sich irgendwo am Hafen herumgetrieben. Wahrscheinlich am Südende, bei den Sandbänken. Der miese Teil der Stadt – dort legten in den frühen Morgenstunden Schmuggler an.

    Aristide packte Cyril an seinem Fuchspelzrevers und zog daran, zwang ihn dazu, sich tiefer hinabzubeugen, bis sie sich in die Augen sahen. »Cyril«, säuselte er, die Drohung war nicht zu überhören. »Du hast doch keine Z… Z… Zeit.«

    »Ach ja«, sagte Cyril, »aber wünschst du dir nicht, dass das der Fall wäre?« Wieder küsste er Aristide, diesmal auf die gespitzten, unzufriedenen Lippen. Nach kurzem Widerstand gab Ari nach und lächelte.

    Als der Straßenbahnwagen, in den er in der Baldwin Street gestiegen war, in der Talbert Row anhielt, hatte sich der Regen verzogen. Cyril stieg aus und schloss sich einer nassen Welle spät ankommender Pendler an, die alle denselben Anschluss erreichen wollten.

    Am vorderen Ende des Wagens, eingeklemmt zwischen der Fahrerkabine und einer Frau im auffällig karierten Anzug, zog Cyril seine eigene Ausgabe der Clarion unter dem Arm hervor, die er sich an der Bahnhaltestelle Heynsgate gekauft hatte, und ließ sie auf dem Bein ruhen. Den Aufmacher bildete die Geschichte über einen Bombenanschlag auf einen Bahnhof in Totrajov, eine umstrittene Siedlung an der Grenze von Tatié.

    Von den vier Staaten im lockeren Gedda-Bund war Tatié der aufsässigste. Im Gegensatz zu den anderen Nationen unterhielt man dort ein stehendes Heer, außerdem herrschte seit Generationen ein bitterer Konflikt mit der Nachbarrepublik Tzieta, bei dem es um den Anspruch auf ein bestimmtes Territorium ging. Zum Glück für den Rest des Landes durften Subventionen und Energie des Bundes nur für Projekte des Allgemeinwohls wie Infrastruktur und Außenpolitik und – für Cyril besonders relevant – nationale Sicherheit eingesetzt werden, deshalb hatten die jahrzehntelangen Auseinandersetzungen die Bundeskasse nicht geleert, sondern lediglich ein wirtschaftlich angeschlagenes Tatié beinahe in den Bankrott getrieben.

    Im Großen und Ganzen ignorierten die Amberliner ihren östlichen Verwandten, außer um sich über ihn lustig zu machen; ab und an schlich sich angesichts der tatienischen Schlagkraft auch ein wenig Nervosität ein. Obwohl dies eigentlich nicht den guten Sitten entsprach, behielten die amberlinischen Geheimagenten Tatié genau im Auge. Selbst die beste Marine brachte nichts, wenn man es mit einem militarisierten Binnenstaat zu tun hatte, und sie waren nicht gerade die besten Nachbarn.

    Direkt unter dem schrecklichen Bericht über den Bombenanschlag war eine kleinere Schlagzeile zur anstehenden Westwahl platziert worden. Die Parlamentswahlen der einzelnen Länder fanden abwechselnd jeweils im Abstand von zwei Jahren statt und in diesem Jahr war Nuesklend an der Reihe. Das dazugehörige Foto zeigte die scheidende Erste Repräsentantin Annike Staetler an der Seite einer jungen Frau mit gewellten Haaren und tiefliegenden Augen. Die Bildunterschrift lautete: Staetler unterstützt Stellvertreterin Kit Riedlions, Süd-Gestraacht. Darunter ein weiteres Foto, ein Mann mit blassem, plattem Gesicht und randloser Brille, der von einem mit Wimpeln verkleideten Podium herunterschaute. Caleb Acherby tritt in Nuesklend für die One State Party an.

    Die arme Staetler. Sie hatte ihre Wähler gut behandelt und diese hätten sie weitere acht Jahre behalten, wenn sie zugelassen hätte, dass die Staatsversammlung Nuesklends Begrenzung der Amtszeit aufhob. An dem Lunch, bei dem Director Culpepper und der Erste Repräsentant von Amberloughs Parlament, Josiah Hebrides, sie bearbeitet hatten, hatte Cyril nicht teilgenommen, allerdings war Culpepper schlecht gelaunt und in Endzeitstimmung zurückgekehrt. Staetler war eine standhafte Verbündete gegen den schleichenden Einfluss der One State Party – OSP oder von der Bevölkerung auch Ospies genannt – im Parlament. Solange die Regionalisten Amberlough und Nuesklend den Unionisten Farbourgh und Tatié gegenüberstanden, blieb es bei einem Patt. Doch wenn Acherby zum Ersten Repräsentanten wurde … nun ja, er war stets der Kopf hinter der Ospie-Bewegung gewesen. Zwei Wahlperioden hatte er abwarten müssen, da er nicht außerhalb seines Geburtsstaates kandidieren konnte. Nun war er an der Reihe und er hatte sicher viel vor.

    Wahrscheinlich würde er die Situation im Osten beruhigen und die hungernden Waisen in Farbourgh versorgen, allerdings zu einem schrecklichen Preis für ganz Gedda. Acherbys Ziel lautete Vereinigung: Er wollte den lockeren Bund zu einer streng überwachten Einheit machen, die schillernde Vielfalt von Geddas Bevölkerung zu einer homogenen Kultur.

    Seufzend schlug Cyril die Zeitung in der Mitte auf und klappte sie nach hinten um, sodass Acherbys strenge Miene unter billigem Papier verborgen lag.

    Gerade als er in einen konservativen Kommentar vertieft war, der sich für die weitere Erhöhung der innerstaatlichen Grenzzölle aussprach, ebenjener Zölle, die Aristide in den frühen Morgenstunden geschickt umgangen hatte, da packte das Kabel der Bahn und der Gripman rief laut: »Station Way!«

    Cyril stieg aus und legte den restlichen Weg zu Fuß zurück. Die Rinnsteine quollen über, Radfahrer und Automobile spritzten im Vorbeifahren öliges Wasser auf den Gehsteig. Hinter dem marmornen Kapitol stachen Masten und Schlote in den Hafenhimmel. Meeresvögel zogen schreiend ihre Kreise und übersäten die grüne Kupferkuppel des Regierungssitzes mit ihrem Mist.

    Amberloughs Zweigstelle des Federal Office of Central Intelligence Services verbarg sich in den obersten drei Etagen eines unscheinbaren Bürogebäudes, auf der anderen Seite des Station Way gegenüber den von Gärten überzogenen Hängen des Kapitols. Wie alles beim FOCIS besaß sie ihren eigenen spöttischen Spitznamen: der Fuchsbau.

    »Morgen, Mr. DePaul«, grüßte Foyles, als er an ihm vorbeieilte. Foyles bewachte die Empfangshalle bereits, seit Cyril seine Stelle im Fuchsbau angetreten hatte, und arbeitete wahrscheinlich schon doppelt so lange hier wie er. Sein Gesicht war von tiefen Falten durchzogen und die dichten Spiralen seiner weißen Haare setzten sich deutlich von der schieferfarbenen Haut ab.

    Cyril winkte ihm im Vorbeigehen zu, betrat den Fahrstuhl und stellte sich an die Rückwand, während die Fahrstuhlführerin das Gitter schloss. Seine Etage musste er ihr nicht nennen.

    Einmal hielt der Fahrstuhl an, in der dritten Etage, wo die Buchhalter und Rechnungsprüfer inmitten der Kakofonie klingelnder Lacktelefone Hof hielten, die Köpfe über Bleistifte und Rechenmaschinen gesenkt. In der vierten und fünften Etage ging es um Spionage zum Schutz der Sicherheit des Staatenbundes Gedda, doch in der dritten fand die wahre Magie statt. Die Finanzabteilung verwandelte die Veruntreuung unglaublicher Summen in unbedeutende Abrechnungsfehler. Schmier- und Bestechungsgelder verschwanden in endlosen Zahlen- und Namenreihen. Agenten wurden im Geheimen bezahlt, wobei die Feinheiten dieser Geschäfte manchmal sogar dem genehmigenden Abteilungsleiter entgingen. Die Buchhalter waren ausnahmslos diskret, adrett und die Höflichkeit in Person. Sie versetzten alle anderen in der Zentrale in Angst und Schrecken.

    Die Fahrstuhlführerin schob das Gitter auseinander und trat zurück, um einen weiteren Passagier hereinzulassen. Ein junger Mann im abgetragenen grauen Anzug und mit hellroten Haaren, er senkte den Blick. Cyril lächelte er an, ohne ihm in die Augen zu sehen. Gegen die Brust gedrückt hielt er einen Stapel Dokumente unter einem dicken Lederkalender, die Arme hatte er schützend darüber verschränkt. Cyril ging in Gedanken Namen und Gesichter, Geschichten und Fakten durch.

    Junger Rechnungsprüfer. Seit zwei Jahren im Büro. Für einen Amberliner ungewöhnlich geradlinig: Er hatte es noch nie mit Erpressung versucht. Sein Gesicht war so blass, dass es schmerzte, mit der liebenswürdigen Angewohnheit, zu erröten, wenn ihm etwas peinlich war. Was sehr schnell passierte. Wie hieß er noch gleich? Lourdes. Genau. Finn Lourdes.

    Sie hatten sich nur ein- oder zweimal unterhalten – Finn hatte Cyril besucht, als er gerade aus dem Krankenhaus entlassen worden war, um ihm im Namen der Zentrale sein Mitgefühl auszusprechen und persönlich einen großzügigen Bonus und ein Beförderungsversprechen zu überbringen: Culpeppers Blutgeld.

    Manchmal begegneten sie sich auf dem Flur, nun, da Cyril hinter einem Schreibtisch eingesetzt worden war. Wie dem auch sei … Cyril würde nicht in der fünften Etage arbeiten, wenn er nicht ein solches Auge für Details besessen hätte.

    KAPITEL

    2

    Auf der anderen Seite der Stadt, in der Nähe des Güterbahnhofs, stahl sich eine Handvoll dünner Strahlen der Morgensonne durch die Wolken und schien in ein offenes Fenster; sie wärmten die sommersprossigen Arme von Cordelia Lehane.

    Mit den Händen fuhr sie Malcolm durch die Haare. Normalerweise kämmte er sie in einem Ducktail glatt nach hinten, doch nun standen sie in alle Richtungen ab. Die Pomade vom Vorabend ließ ihre ohnehin klebrigen Finger fettig werden. Malcolm wandte ihr das Gesicht zu, dunkel auf ihrer schneeweißen Haut, und seine Bartstoppeln rieben ihr über den Bauch. Das Sonnenlicht verfing sich in den grauen Strähnen an seinen Schläfen. Cordelia folgte einer davon mit den Fingern und rieb über den Schweiß, der sich auf seiner Stirn gesammelt hatte.

    »Du bist das Beste, was mir seit Ewigkeiten passiert ist«, sagte er.

    Sie lächelte schwach und schob seinen Kopf von sich weg. »Ach, komm schon«, sagte sie.

    Erneut presste Malcolm das Gesicht an Cordelias weichen Körper, zwischen Beckenknochen und Nabel. Dadurch drückte er ihr auf die Blase, doch sie sagte ihm nicht, dass er es lassen sollte. Der Schmerz mischte sich mit dem schwindenden Kribbeln, das sie immer nach dem Sex empfand.

    »Ich beweise es dir«, sagte er und schob ihre Schenkel auseinander.

    »Mal.«

    Sein Kopf blieb gesenkt. Sie packte ihn an den Haaren und zog ihn hoch. »Ich muss dringend auf die Toilette. Gib mir einen Augenblick.«

    Lachend ließ er sie los und rollte sich auf den Rücken, bis er an der Stelle lag, wo sie gerade noch gelegen hatte. »Du bist ein Schatz.«

    »Sogar Schätze müssen ab und zu pissen.«

    Als sie abzog, ächzten und zitterten die Rohre. »Zur Königin noch mal. Wann rufst du endlich einen Klempner?« Sie wusch sich die Hände mit rostrotem Wasser.

    »Kann ich mir nicht leisten. Die Toiletten im Theater müssen diesen Monat renoviert werden.«

    »Vielleicht solltest du da einziehen.« Sie kam wieder ins Bett und warf sich auf die Laken. Durch den Raum zog eine frische Brise, erfüllt vom Salzduft, den die Flut mit sich brachte. Zitternd schmiegte Cordelia sich an Malcolms warmen Körper.

    »Du achtest nicht auf dich«, sagte sie, allerdings ohne dabei sonderlich vorwurfsvoll zu klingen. Ein kurzes Kopfschütteln, ein mattes Lächeln. »Du würdest selbst deine Ma verkaufen, wenn das mehr Zuschauer bringen würde.«

    Sanft stieß Malcolm ihr mit der Faust gegen den Kopf. »Vielleicht meinen alten Herrn. Aber nie Ma. Sie war …«

    »Das Juwel der Halbinsel, ich weiß.« Cordelia ließ den Kopf auf seinem harten Bizeps ruhen und blickte hinauf in sein von Bartstoppeln gesäumtes Gesicht. »Die beste Tänzerin in Hyrosia.«

    »Sie hätte dich liebend gern kennengelernt«, murmelte er, fuhr ihr mit der schwieligen Hand durch die Haare. Das ziepte etwas, doch sie beschwerte sich nicht. Wenn Malcolm über seine Mutter sprach, veränderte sich sein Blick: Die Härte verschwand. »Meine Mutter hätte dich geliebt« – näher kam er nie an ein »Ich liebe dich« heran.

    Alle wussten jedoch, besonders Cordelia, dass Malcolm nur das Bee liebte.

    Seine Mutter hatte ihre Bühnenkarriere aufgegeben, um in den Norden zu ziehen und zu heiraten. Und das hatte ihr nichts weiter eingebracht als Rechnungsbücher und zwei Söhne, die auf See gestorben waren, umgebracht von lisoanischen Piraten irgendwo südlich ihres Heimatlands. Den Jüngsten, Malcolm, hatte sie trotz des Geschreis ihres Mannes zu Hause behalten. Malcolm hörte alle ihre Geschichten, sah alle ihre Ferrotypien und Souvenirs. Versprach ihr, dass sie eines Tages wieder über eine Bühne schreiten würde.

    Als sie an einem Fieber starb, nahm er, was sie ihm hinterlassen hatte, und verließ das Schifffahrtsunternehmen seines Vaters für die Bretter, die die Welt bedeuteten. Seine ganze Liebe zu Inita Sailer steckte er in den Erfolg des Bumble Bee Cabaret & Nachtclub.

    »Wie läuft die neue Nummer?«, fragte Malcolm. »Wenn wir schon vom Tanzen sprechen.«

    Cordelia schüttelte den Kopf. »Ich habe sie drauf, aber das Orchester hat Probleme.«

    Malcolm setzte sich auf und schwang die Beine über die Bettkante. »Ich werde Liesl danach fragen.« Er nahm seine Taschenuhr vom Nachttisch und klappte sie auf. »Sollte langsam mal rübergehen. Gleich kommt eine Lieferung für die Bar.«

    »Um die kann Ytzak sich kümmern«, erwiderte Cordelia, schlang die Arme um Malcolm und spielte mit den dunklen Haaren auf seiner Brust. Sie versuchte, ihn zurück ins Bett zu ziehen, doch er wehrte sich.

    »Nein, der hat heute Morgen frei – hat gesagt, seine Ma wäre krank, aber du weißt, dass er diese Rasierklinge umwirbt, die in Cantys Band Bass spielt, und gestern hatte er es etwas zu eilig, Feierabend zu machen.«

    »Dann zwing ihn doch einfach, zur Arbeit zu kommen«, sagte Cordelia und hakte Malcolm ein Bein um den Schenkel.

    Er lachte, zwickte sie, stand aber trotzdem auf. Schmollend ließ sie von ihm ab und sank zurück auf die Tagesdecke.

    »Das hast du dir bei Makricosta abgeschaut. Du weißt, dass das bei mir nicht funktioniert.« Er zog sich ein fadenscheiniges Baumwollunterhemd über den Kopf und fügte hinzu: »Wenn du willst, kannst du gern hierbleiben. Aber ich komme höchstwahrscheinlich nicht zurück, bevor der Vorhang fällt.«

    Cordelia seufzte. »Soll ich wegen deinen Klamotten wieder bei der Wäscherei vorbeischauen?«

    »Wärst du so lieb?« Er beugte sich zu ihr herunter und küsste sie auf die Wange. »Sag Kieran, dass er es anschreiben soll.«

    »Du schuldest ihm diesen Monat schon ein kleines Vermögen.«

    »Er weiß, dass ich meine Schulden immer begleiche, sobald ich wieder flüssig bin. Und das wird der Fall sein, sobald diese neue Show erst mal läuft.« Malcolm zog sich die Hosenträger über die Schultern und nahm Jackett und Hut von den Haken an der Schlafzimmertür. »Bis später, Gewürztörtchen.«

    »Vergiss nicht, mit Liesl zu sprechen!«, rief sie ihm hinterher. Unten knallte die Tür, sodass die Flaschen mit Haartonikum und billigem Eau de Cologne auf Malcolms Nachttisch wackelten.

    Cordelia schüttelte ein löchriges Kissen auf, lehnte sich zurück und betrachtete die Risse im Deckenputz. Das Bee war gut im Geschäft. Malcolm lebte nur deshalb in solch ärmlichen Verhältnissen, weil er alles, was er mit dem Betrieb des Theaters verdiente, sofort wieder hineinsteckte.

    Nicht, dass sie sich beschweren würde. Jedes Bühnentalent in Amberlough wollte einen Platz auf den Kieferbrettern des Bee. Malcolm zahlte seinen Künstlern mehr als alle anderen Clubs der Stadt – verglichen mit Büroangestellten zwar immer noch ein Hungerlohn, aber Cordelia verdiente sich noch etwas dazu, indem sie nebenher ein wenig mit Teer dealte. Das war keine schöne Arbeit, dafür allerdings profitabel und brachte ihr regelmäßig etwas ein.

    Apropos, sie musste an diesem Nachmittag bei ihrem Kontaktmann am Hafen etwas abholen. Malcolm schnallte nicht, dass sie einen Nebenverdienst hatte, und wäre damit auch nicht einverstanden gewesen. Doch er würde nichts davon spitzkriegen, solange sie ihm seine Klamotten rechtzeitig und in gutem Zustand mitbrachte.

    Malcolms Abendgarderobe hing von der Gepäckstange, schwang sanft im Takt des ratternden Straßenbahnwagens hin und her. Gegen die Fenster prasselte Regen. Alles roch nach Wolle und Feuchtigkeit. Cordelia war spät dran, aber in der Bahn war es so gemütlich, dass ihr das egal war. Sie hatte einen guten Nachmittag gehabt – die Übernahme war glattgelaufen und danach hatte sie bei Tory vorbeigeschaut.

    Der saß nun an ihre Seite geschmiegt, warm und laut wie immer; er quatschte über … tja, wer wusste das schon? Dieser Kerl redete einfach pausenlos. Für gewöhnlich verstand sie nicht mal die Hälfte seines Geplappers, doch es klang nett. Er bemühte sich, seinen currinischen Akzent abzumildern, doch der setzte sich immer durch, wenn er stocksauer wurde oder, und das hatte sie mit Freude herausgefunden, im Bett.

    Tory zog an ihrem Mantelärmel. »Unser Halt.« Die Passagiere standen im Gang, holten Pakete und Handtaschen von der Gepäckablage herunter, banden ihre Schals enger und klappten gegen den Regen ihren Kragen nach oben. »Komm schon«, rief Tory und hüpfte von seinem Sitz. Mit dem Kopf reichte er den anderen Passagieren bis zum Bauch, doch angesichts der Art, wie sie ihm Platz machten, hätte man das nie vermutet.

    Sie traten in den Rinnstein und Cordelia schrie auf, als das kalte Wasser ihr die Schuhe durchweichte. Tory dirigierte sie über den Bordstein zu zwei Metallstühlen unter der Markise eines Cafés. An der Ecke hatte ein Herder-Prediger eine Seifenkiste aufgestellt, um seine Straßenpredigt zu halten. Er war nun seit bald zwei Jahren ein fester Bestandteil der Temple Street, bemühte sich, abgehalfterte Schauspieler und die Kavaliere, die ihnen zujubelten, zu konvertieren. In letzter Zeit trug er eine grau-weiße Ospie-Schärpe. Die meisten Herder-Gemeinden der Stadt unterstützten die Ospies. Damit hatte Cordelia kein Problem. Sollten die Spießer sich ruhig zusammentun und miteinander Spaß haben, wie auch immer sie wollten. Die Menschen im Theaterbezirk hatten Wichtigeres zu tun.

    Dem Prediger gegenüber auf der anderen Straßenseite stand das Bee und überragte die Weinbar und das Casino neben ihm, es leuchtete heller als alle anderen Theater auf der Baldwin Street. In Schnörkeln angeordnete blendend weiße Glühbirnen, die an diesem grauen Nachmittag eingeschaltet worden waren, ließen den goldenen Stuck des Vordaches doppelt so hell glänzen. Bunt illustrierte Plakate strahlten in ihren beleuchteten Rahmen entlang der Gebäudefassade – gleich links neben dem Eingang entdeckte Cordelia sich selbst, rote Locken und schwarze Rosen, die Lippen geschwollen dank der Stiche des Schwarms vergoldeter Bienen, die sich an dem Plakatrand entlangwanden.

    »Schau noch mal nach«, bat Cordelia und zog den Kragen ihres Kleides hinunter. »Keine Flecken?«

    Tory spähte konspirativ bis zu ihren Schultern hinauf, musterte erst die eine Seite und dann die andere, bevor er das Gesicht in ihrer Brust vergrub. »Keine Flecken.« Seine Stimme klang gedämpft.

    Der Prediger sah sie, hob drohend den Finger und begann einen strengen Vortrag über Sittsamkeit, Anstand und gute, ehrbare Bürger.

    Cordelia machte eine unhöfliche Geste in seine Richtung, dann packte sie Tory an den Ohren und zerrte ihn aus ihren Brüsten. »Hör auf damit! Ernsthaft.«

    »Keine Flecken«, wiederholte er und fuhr ihr mit dem Daumen über das Brustbein. »Ich weiß, dass Malcolm sich redlich bemüht, diese wunderhübsche helle Haut nicht zu beflecken …«

    »Manchmal ist redlich aber nicht redlich genug.«

    »… und auch ich würde sie nicht verderben wollen. Außerdem könnte er die Bissspuren erkennen.« Tory grinste so breit wie ein Nussknacker. »Und das würde der eifersüchtige alte Sailer niemals hinnehmen.«

    Cordelia strich die feuchte Kleiderhülle über Malcolms Frack glatt. »Gehen wir rein. Bevor wir uns noch mehr verspäten.«

    Tory stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihr einen schnellen Kuss, dann rannte er über die Straße, während der Prediger hinter ihm herschrie. Unter dem Vordach fing er ihren Blick auf. Er stellte sich direkt unter die illustrierte Cordelia in ihrem Ring aus schwarzen Rosen, hob die Hände und tat so, als würde er sie in die unter der Blumengirlande verborgenen Brustwarzen zwicken. Sie bedachte ihn mit der gleichen unhöflichen Geste wie vorhin den Herder. Lachend zog Tory die schweren schwarz-goldenen Türen auf und verschwand stolpernd über die Schwelle.

    Eigentlich sollten sie nicht durch die Vordertür gehen, doch Malcolm mochte Tory sehr und ließ ihm einigen Unsinn durchgehen. Dass er ihr unter den Rock krabbelte, würde er ihm nicht verzeihen, da war Cordelia sich sicher, dachte allerdings bei sich: Was er nicht weiß, macht ihn nicht heiß.

    Einen Augenblick wartete sie noch ab und zupfte gedankenverloren am tropfenden Saum des Kleidersacks herum. Der Regen ließ nach, aber ein plötzlicher Windstoß vom Hafen schüttelte Tropfen von den knospenden Pflaumenbäumen und bespritzte die Markise des Restaurants. Sie drückte sich ihre Handtasche und Malcolms Klamotten eng an die Brust, wartete, bis die Straße frei war, eilte dann hinüber, wobei sie den Pfützen auswich, und schlüpfte in eine Gasse, die an einer Seite des Bee entlangführte.

    Der Bühneneingang wurde mit einem Stuhl offen gehalten, damit wenigstens ein bisschen frische Luft in die stickigen Flure hinter der Bühne dringen konnte. Stella, einer der beiden Zwillinge, die als Akrobaten und Schlangenmenschen auftraten, saß auf dem Stuhl und rauchte eine selbst gedrehte Zigarette. Cordelia roch das süße Aroma von Haschisch. Stella bekam schlimmes Lampenfieber – ihre Schwester Garlande war die Rampensau.

    »’tschuldigung«, murmelte die Akrobatin und trat zur Seite, damit Cordelia an ihr vorbeigehen konnte. Der Flur bestand hauptsächlich aus unverkleideten Balken, hier und da etwas Putz, sowie einer Treppe, die ins Dachgeschoss mit den Kostümen führte. Ein Bühnentechniker saß unten auf der Treppe, umwickelte Garlandes Trapez neu und flirtete mit einer Näherin, die kurzfristige Reparaturen durchführte. Irgendwo lief eine Schallplatte. Die dünnen Wände dämpften und verzerrten die Klänge eines Schnulzensängers mit Samtstimme. Der Staub von Sägespänen und der Geruch nach Theaterschminke hingen in der Luft.

    Auf dem Weg zu ihrer Garderobe musste Cordelia an Malcolms Büro vorbeigehen, und als sie sich der offenen Tür näherte, stellte sie sich auf eine Abreibung ein. Doch er schrie schon jemand anderen an. Die neue Revuesängerin, Thea Marlow, stand vor Malcolms großem zerkratzten Holztisch und hatte den Kopf eingezogen wie ein ungezogenes Schulmädchen, das auf den Stock wartete. Also hatte Malcolm anscheinend mit Liesl gesprochen und die Dirigentin hatte die verpatzte Nummer auf Thea geschoben. Ehrlicherweise hatte sie große Probleme mit den Tonartwechseln. Revuegesang war ein schweres Geschäft, wenn man sich auch nur ansatzweise für halbnackte Mädchen interessierte, und wenn man bedachte, was für große Augen Thea jedes Mal machte, wenn Cordelia die Bühne betrat, war sie der Aufgabe ganz offensichtlich nicht gewachsen.

    Cordelia hängte Malcolms Klamotten an den Türknauf und wollte sich schon davonschleichen, doch er erwischte sie. Allerdings schimpfte er sie nicht aus, sondern sagte lediglich: »Delia, heute Abend im Antinou’s? Tory zahlt – er schuldet mir was.«

    An die dreckigen Witze, die der kleinwüchsige Komiker daraus basteln würde, wollte sie gar nicht denken. Sie nickte und warf Mal eine Kusshand zu.

    Gerade als Cyril Feierabend machen wollte, schrillte sein Telefon und schreckte ihn aus seinem jüngsten Bericht auf, der vom Güterbahnhof gekommen war.

    Es meldete sich ein junges Ding von der Vermittlung, ein Mädchen mit leichtem Lispeln. »Mr. DePaul? Der Schädel will Sie sprechen.«

    »Vielen Dank, Vermittlerin.« Traditionell wurden alle jungen Dinger, die in die Vermittlungszentrale gepfercht wurden, Vermittlerin genannt. Cyril schob die Seiten des Berichts in seine Aktentasche und schloss diese ab, dann legte er sich den Mantel über den Arm und ging in den Flur.

    Culpeppers Sekretär, Vasily Memmediv, war Ende vierzig oder Anfang fünfzig, seine dichten schwarzen Haare zeigten allerdings bisher kaum eine Spur von Grau. Die Falten in seinem Raubvogelgesicht bildeten tiefe und ausdrucksstarke Furchen neben seiner Nase und zogen sich unter seinen tiefliegenden Augen entlang. Cyril hatte eine kurze, schreckliche Leidenschaft für Memmediv gehegt, doch die Gerüchteküche besagte, dass er Culpepper treu ergeben war – in mehrfacher Hinsicht.

    Cyril ließ den Ellenbogen auf der Kante von Memmedivs Schreibtisch ruhen. »Die Vermittlerin hat gesagt, dass der Schädel mich sehen will.«

    »Ja, Director Culpepper hat darum gebeten, Sie zu sehen, bevor Sie das Haus verlassen.« Sein tatienischer Akzent war im Laufe der Jahre, die er hier im Süden verbracht hatte, schwächer geworden, färbte seine Sprache jedoch bis heute mit überbetonten Vokalen und verschluckten, fließenden Konsonanten.

    Als wäre Culpepper durch die Nennung ihres Namens herbeigezaubert worden, schallte ihre Stimme durch die halb offene Tür aus ihrem Büro. »Ist das DePaul?«

    Bevor Memmediv antworten konnte, rief Cyril: »Sieht ganz so aus, aber man weiß ja nie.« Er umrundete den finster dreinblickenden Sekretär und betrat Culpeppers Höhle.

    Sie schaute nicht auf. »Nicht so vorlaut, DePaul. Das ziemt sich nicht.«

    »Tatsächlich?« Er ließ sich ihr gegenüber auf den Stuhl fallen. Zwischen ihnen erstreckte sich die breite, unaufgeräumte Platte ihres Schreibtisches. »Normalerweise finden die Leute das charmant. Vielleicht solltest du dich mal untersuchen lassen.«

    Im Fuchsbau nannte man sie »den Schädel«, weil sie die Haare kurz rasiert trug. Unter ihrer dunklen Gesichtshaut zeichneten sich scharf die Knochen und Muskeln ab. Wenn sie mit den Zähnen knirschte, so wie in diesem Augenblick, zuckten ihre Kiefermuskeln unter dem zarten Schatten geschorener Locken. Für Frauen wie sie hatte man in der Stadt einen besonderen Namen: Rasierklingen. Damen in elegant geschnittenen Anzügen mit abrasierten Haaren, die mit je einem ihrer Bewunderer am Arm posierten und sich gegenseitig wie Raubkatzen anfauchten. Vasily beneidete er nicht, Rasierklingen besaßen meist ein genauso messerscharfes Temperament, wie ihr Name andeutete.

    »Du musst dich bald untersuchen lassen, wenn du nicht das Maul hältst und zuhörst«, drohte Culpepper. »Die Beulen verpasse ich dir persönlich.«

    Ein Musterbeispiel. »Ach, Ada. Ich liebe es, wenn du grausam wirst.«

    Sie verschränkte die Arme. »Weniger Zuckerbrot, mehr Peitsche? Ist das etwa das Geheimnis, das mir all die Jahre entgangen ist?«

    »Schon seit den Anfängen ist eine sanfte Hand nichts mehr für mich. Meine Premiere war ein Einpeitscher bei der Carmody-Jagd.«

    »Erspare mir die Details«, knurrte Culpepper und ließ sich gegen die hohe Lehne ihres Sessels sinken. Der Lederbezug der Polsterung knarzte. »Du sagst also, wenn ich dich ein bisschen herumschubse, würde deine Brut sich endlich zusammenreißen und Makricostas Netzwerk auffliegen lassen?«

    »Sei nicht albern. Bei derart hohen Grenzzöllen sind Leute wie er das Einzige, was uns vor einem Bürgerkrieg schützt.« Außerdem hatten Aristides Schmugglermannschaften zusätzliche Arbeit angenommen und schafften Flüchtlinge in die Stadt. Ospie-Unterstützer, Schwarzstiefel genannt, zogen in Farbourgh und Tatié durch die Straßen und machten Einwanderern, Schriftstellern, Radikalen, Windverehrern und Anhänger des Kultes der wandernden Königin … das Leben schwer. Auch in Amberlough hatten die Schwarzstiefel eigene kleine Straßen in Beschlag genommen, doch das ACPD – das Amberlough City Police Department – mochte sie nicht, und das wussten sie.

    »Ich möchte gern glauben«, sagte Culpepper mit an die Schläfen gepressten Fingern, »dass die Stabilität Geddas nicht nur von illegalem Handel abhängt.«

    »Ada, wenn der Nordosten nichts mehr über die Schmuggler verkaufen könnte, würde er …«

    »Sich auf die Seite der Ospies schlagen? Vielleicht hast du es, mit dem Gesicht zwischen Makricostas Schenkeln, nicht bemerkt, DePaul, aber wir haben diesen Punkt längst überschritten. Pinegrove und Moritz sind jeweils mit überwältigender Mehrheit gewählt worden und die Ospies stellen immer wieder den zweiten Repräsentanten.«

    Ihre sexuelle Anspielung ließ er unkommentiert. »Ich wollte sagen, dass sie sich möglicherweise abspalten könnten. Oder schlimmer noch, sie könnten sich zusammentun, um das Parlament zu stürzen.«

    »Abspalten? Die brauchen unseren Hafen. Bis Moritz eine wie auch immer geartete Vereinbarung mit den Tzietanern trifft, ist der Hafen in Dastya Kriegsgebiet. Den Exportweg über Land kann man vergessen. Du hast die heutigen Schlagzeilen gelesen: Züge in Richtung Westen werden von tzietanischen Terroristen angegriffen. Und Farbourgh ist nichts weiter als ein tragischer Roman in drei Bänden. Berge, Felsen und aufgedunsene Schafe. Was würden sie ohne Hilfe vom Bund tun? Nein, eine Abspaltung steht nicht an.«

    »Dann bleibt also nur ein Staatsstreich.« Er wollte sie zum Lachen bringen, hatte jedoch keinen Erfolg.

    »Du hast recht, weißt du?« Sie seufzte. »Wegen Makricosta würde ich dir liebend gern den Arsch aufreißen – sieh mich nicht so an. Wie viel zahlt er dir dafür, dass du seine Geschäfte nicht in deinen Berichten erwähnst? Oder geht es nur um Sex? Oder … Mutter und all ihre Söhne, sag nicht, dass du dich verliebt hast.«

    Cyril schnaubte verächtlich. »Ada.«

    »Er hat schon dickere Stangen gebogen, das kannst du mir glauben.«

    »Du solltest über solche Sachen wirklich nachdenken, bevor du sie aussprichst.«

    »Eigentlich solltest du noch nicht mal Kontakt zu ihm haben … Cyril, ich meine das ernst, lach nicht. Abteilungsleiter führen Agenten, sie tun nicht so, als wären sie welche.«

    »Das habe ich! D… das tue ich ja. Ada, niemand wusste, wie tief er in den Markt verstrickt ist, und das hätten wir nicht herausgefunden, wenn … Sein Name ist immer wieder in den Meldungen aufgetaucht, verstehst du? Und keiner meiner Füchse kam an ihn heran. Oder er hat sie dafür belohnt, es nicht zu tun.«

    »Aber du bist ihm wirklich nahegekommen. Gute Arbeit.«

    »Was war damit, dass du mir den Arsch aufreißen wolltest?«

    »Oh, ich bin deswegen stocksauer, glaub’s mir. Aber damit hast du bewiesen, dass du dich im Einsatz noch immer zurechtfindest.«

    Cyrils Hand zuckte. Er überspielte es, indem er nach seinem Zigarettenetui griff. Culpepper tat, als fiele ihr nichts auf, doch ihn konnte sie nicht täuschen. Sie kannten sich zu gut. Bevor Culpepper zum Schädel geworden war, zur unerbittlichen Königin des Fuchsbaus, war sie als Agentenführerin für Cyrils Einsätze zuständig gewesen. Durch gute Arbeit war sie zum Assistent Director und dann zum Director der FOCIS-Zweigstelle in Amberlough befördert worden, als er noch unter einem Decknamen im Einsatz gewesen war.

    »Hör zu, Cyril.« Seufzend legte Culpepper sich die Hand über die Augen. »So, wie du in letzter Zeit gearbeitet … oder eher nicht gearbeitet hast, wissen wir beide, dass du zum Abteilungsleiter nicht geeignet bist. Dafür hast du nicht das richtige Temperament. Ich will dich wieder in den Einsatz schicken.«

    Er war kurz davor, sich zu übergeben, spürte bereits, wie ihm die Galle in die Kehle stieg.

    »Wie alt bist du, fünfunddreißig?« Culpepper, vielleicht zwanzig Jahre älter als er, musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Du bist zu jung, um hinterm Schreibtisch zu sitzen. Du solltest dir da draußen deine Sporen verdienen, nicht an deinem Platz versauern. Kennst du Yeffa, aus der Personalabteilung? Wir haben sie im Einsatz gehabt, bis sie über sechzig war.«

    Cyril klemmte sich eine Kippe zwischen die Lippen, zündete sie aber nicht an, denn er traute seinen verräterischen Händen nicht. Sein aktueller Titel – Meister der Jagdhunde, Zentralen-Jargon für den Abteilungsleiter, der den Polizei-Marionettenspieler mimte – war eine nach Schuldgefühlen stinkende Entschädigung, eine Gefälligkeit, die Culpepper ihm erwiesen hatte, nachdem sein letzter Einsatz schiefgegangen war.

    »Außerdem«, fuhr sie

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