Böses Netz: Steiners vierter Fall
Von Martin Olden
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Über dieses E-Book
Der vierte Fall des streitbaren Ermittlers Steiner ist ein Psycho-Thriller, der in die Abgründe der menschlichen Seele blickt - bis zum bitterbösen Finale ohne Happy End-Garantie.
"Böses Netz" ist der vierte Band der Krimi-Reihe mit Kommissar Steiner. Der erste Band "Gekreuzigt", der zweite Band "Der 7. Patient" und der dritte Band "Wo bist du?" sind ebenfalls bei mainbook erschienen.
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Böses Netz - Martin Olden
43
1
Montag, 8. September 2014, 20:00 Uhr
Kriminaloberrat Laurenz Grün verließ den Verhörraum des Präsidiums und schloss für einen Moment die Augen. Er überlegte sich, was im Kopf jenes Menschen vorging, mit dem er gerade gesprochen hatte. Konnte man dieses Subjekt überhaupt noch als Mensch bezeichnen? Nach all diesen grässlichen Morden?
Grün nahm auf dem Gang eine schlanke, hochgewachsene Gestalt wahr, die mit schnellen Schritten auf ihn zulief. Karol Makourek. Das Gesicht des Hauptkommissars war gerötet. Offenbar hatte er geweint.
„Haben Sie ein Geständnis bekommen?", fragte Makourek. Seine Stimme klang heiser, als habe er minutenlang geschrien.
„Umfassend. Kommen Sie aus dem Krankenhaus? Wie steht es?", fragte Grün.
„Die Ärzte operieren noch. Keiner kann sagen, ob Steiner durchkommt."
Der Dezernatsleiter atmete tief durch. „Ich habe von dieser ... dieser Person mehr Details erfahren, als mir lieb war. Aber eine Frage blieb unbeantwortet. Die Frage nach dem Motiv."
Der Tscheche ging auf die Tür des Verhörraums zu.
„Was wollen Sie da drin? Für uns ist der Fall abgeschlossen. Um den Rest sollen sich die Psychologen kümmern."
„Nein!, brüllte Makourek, das Gesicht von Schmerz verzerrt. „Ich muss wissen, warum es passiert ist. Ob ich es hätte verhindern können.
2
Vier Tage zuvor
Donnerstag, 4. September 2014, 20:05 Uhr
Christina Cardoso schaltete den Computer ein. Ihre künstlich verlängerten Fingernägel klapperten über die Tastatur. Sie surfte auf die Webseite ‚gute-frage.net‘. Gestern hatte sie dort die Nachricht eingestellt: „Ich wißen will kann ich gutes Beruf kriegen mit eine Hauptschulezeugnis?"
Ihre großen kastanienbraunen Augen weiteten sich erwartungsfroh. Drei User hatten ihr Antworten geschickt. Ob gute Tipps dabei waren? Voller Hoffnung begann sie zu lesen. Eine Person namens Joe Sixpack schrieb: „Frag mal bei 9Live nach! Da sind primitive Ausdrucksformen sehr gefragt. Die BILD ist auch immer auf der Suche nach Menschen mit Rechtschreibschwäche."
Der zweite, Cool Hand Luke, meinte: „Als Statist in privaten TV-Gerichts- oder Talkshows ist ein mieser Hauptschulabschluss unabdingbar!"
Der dritte nannte sich J.R. und kommentierte: „Bei deinen Deutsch-Kenntnissen und mit einem Hauptschulabschluss ... ich würd` mal sagen: Pfandflaschen sammeln wäre was für dich. Viel Glügg! :-)"
Am liebsten hätte Christina Cardoso losgeheult. Als ob ihre Lage nicht mies genug wäre. Sie brauchte nicht auch noch die Häme und Gehässigkeit dieser gesichtslosen Witzereißer. Christina biss sich auf die volle Unterlippe, um die Tränen zurückzuhalten. Andernfalls würden sie ihr Make-up verwischen und es blieb kaum mehr Zeit, neuen Eyeliner, Wimperntusche und Wangenrouge aufzutragen. Christina warf einen raschen Blick auf die Uhr ihres Handys. Schon zwanzig Uhr durch. Sie musste gleich los. Christina schaltete den Computer aus, der in einer Nische ihres kleinen Schlafzimmers stand, und überprüfte den Sitz ihres schwarzen Schlauchkleides im Spiegel. Zufrieden strich sie über ihren flachen Bauch, den strammen Po und die ausladenden Brüste, deren Ansatz aus dem tiefen Dekolleté lugte. Christina Cardoso wischte das lange schwarze Haar aus der schokoladenbraunen Stirn und lächelte ihr Spiegelbild an. Sie liebte ihren Körper. Alles an ihm war straff, aufregend und herrlich jung. So sollte es sein mit sechsundzwanzig Jahren. Und doch fühlte sie sich an solchen Abenden innerlich wie eine alte ausgebrannte Frau. Während Christina Handy, Lippenstift und eine Packung Präservative in ihre Handtasche packte, klangen ihr die Worte ihres Vaters in den Ohren. „Komm zurück nach Peru!"
Was sollte sie dort? Sicher, die Zustände hatten sich geändert seit den 80er Jahren, als Guzmáns linksradikale Guerilla einen Bürgerkrieg mit der Regierung führte und ihre Eltern vor der Gewalt nach Deutschland geflohen waren. Doch eine rauschende Fiesta war das Leben in Lima oder Ayacucho trotzdem nicht. Die Demokratie Perus war instabil, die Korruption blühte, der Hunger stieg genau wie die Kinderarbeit. Rund 54 Prozent der Peruaner lebten am Rande des Existenzminimums, nahezu 20 Prozent in absoluter Armut. Weshalb also dorthin ziehen? Wegen des gesunden Klimas in den Anden? Sollten sie etwa auf dem Fischmarkt schuften wie ihr Vater? Oder Obst verkaufen auf der Straße? „Peru ist unsere Heimat, pflegte ihr Vater zu sagen. Aber nicht für Christina. Ihre Heimat war Frankfurt. In dieser Stadt war sie geboren und aufgewachsen und hier wollte sie ihren Traum verwirklichen. Den Traum von einer Karriere als Foto-Model. Die Hartz IV-Bezüge ließen ihr wenig finanziellen Spielraum. Jeden Cent, der nicht für Essen und Miete drauf ging, investierte sie in Mode und Schminke. Ihr Aussehen war ihr Kapital. Noch hatte sie keine Einladung zu einem Casting bekommen von den Model-Agenturen, an die sie Bewerbungen verschickt hatte. Aber das konnte nur eine Frage der Zeit sein. Christina wusste, dass sie hübsch genug war für den Job. Nicht nur hübsch, sondern sogar „heiß
, wie viele Männer ihr sagten. Männer! Schon als Teenager umschwärmten sie die Kerle. Ihre Aufmerksamkeit zu erregen fiel Christina wesentlich leichter als eine gut bezahlte Arbeit zu finden, die die Löcher in der Kasse bis zum Durchbruch als Cover-Girl stopfen sollte. Was hatte ein Typ neulich zu ihr gesagt? „Du siehst aus wie ein Bounty-Riegel – und schmeckst auch genauso. Christina ließ sich gerne vernaschen – im Austausch gegen Bargeld. Manchmal ließ einer sogar ein kleines Extra springen. Ein paar Dessous oder neue Schuhe. Die Zeiten, in denen sie Sex nur zum Spaß hatte, waren vorbei. Vor acht Jahren war Christina noch für einen kostenlosen One-Night-Stand zu haben gewesen. Das Resultat saß im Wohnzimmer vor dem Fernseher und sah sich eine neue Folge der Show „Germany‘s Next Topmodel
an. Elena Cardoso. Christinas Tochter.
„Zeit fürs Bett, Schatz", sagte Christina auf Spanisch. Auch wenn die Kleine ihre Großeltern nur einmal im Jahr zu Gesicht bekam, so sollte sie wenigstens mit deren Sprache vertraut sein. Elena drehte sich zu ihrer Mutter um, die im Türrahmen stand, und schaute sie mit braunen Kulleraugen an.
„Bitte noch ein paar Minuten. Ist gerade so spannend. Die sind alle voll hübsch. Models wie du, Mami", meinte Elena und strich dabei über die blonden Haare ihrer Barbie-Puppe, die sie überallhin mitnahm, sogar in die Schule.
Christina hob die Fernbedienung vom Boden auf und drückte auf den „Aus-Knopf. „Du kennst unsere Abmachung. Kein Fernsehen und ab ins Bett, wenn ich zu einem Foto-Shooting gehe.
„Okay", sagte das Mädchen enttäuscht.
Foto-Shooting ... von wegen, dachte Christina. Aber es war einfacher, Elena anzulügen, als ihr zu erklären, dass ihre Mutter nicht wie Heidi Klum war. Die musste nicht die Beine breit machen, um an Geld zu kommen. Na ja, vielleicht hatte sie es früher auch getan. Aber jetzt brauchte die Klum es nicht mehr. Christina schon. Sie musste sich an Sex-Hungrige verkaufen, die sie wie eine Sklavin im Internet ersteigerten, um eine Nacht mit ihr tun zu können, was ihnen vorschwebte. Ihr blieb nichts anderes übrig, damit sie und Elena auf einem anständigen Niveau leben konnten. Für einen Halbtags-Bürojob war Christinas Hauptschulabschluss wohl zu schlecht. Kein einziger Personalmanager lud sie zu einem Vorstellungsgespräch ein, obwohl sie ihr schönstes Foto an die Bewerbung geheftet hatte. Nichts als Absagen! Charme und Ausstrahlung allein zählten anscheinend im Business nicht. Zeugnisse waren wichtig. In Supermärkten und Fast-Food-Ketten stellte man weniger Ansprüche an das Personal, wie Christina von einer Mutter gehört hatte, deren Tochter mit Elena in die gleiche Schulklasse ging. Dafür war die Bezahlung schlecht und außerdem musste man im Schichtdienst arbeiten. Das wollte sie auf keinen Fall. Sie wollte zu Hause sein, wenn Elena aus der Schule kam, ihr ein vernünftiges Mittagessen kochen und ihr, soweit es ging, bei den Hausaufgaben helfen. Elena sollte anders aufwachsen als sie. Nicht als Schlüsselkind, das sich Ravioli aus der Dose warm machen musste und das stundenlang vor dem Fernseher hocken konnte, ohne dass sich jemand nach den Schularbeiten erkundigte. Die gemeinen Internet-Schreiber hatten bei ihr auch keine Zuversicht auf eine gute Arbeit verbreitet. Pfandflaschen sammeln. Haha – irre lustig. Also hieß es weiter Schwänze lutschen, Eier lecken und den Arsch hinhalten für ein paar Hunderter. Oder ihr würde, mitten in ihrem geliebten Frankfurt, das gleiche Schicksal blühen wie in Peru. Armut. Im Radio hatte Christina gehört, dass Frauen, Alleinerziehende und Migranten ohne deutschen Pass das höchste Armutsrisiko in Deutschland tragen. Sie gehörte zu allen drei gefährdeten Gruppen. Nein, sagte sie sich. Soweit würde es bei ihr nicht kommen. Nicht solange sie einen Körper hatte, der bis zu fünfhundert Euro in einer Nacht brachte.
„Ziehst du wieder viele schicke Sachen an?", fragte Elena und grinste, so dass die Lücke in ihrem Milchzahngebiss entblößt wurde. Der mittlere Schneidezahn fehlte.
„Was?", fragte Christina, in Gedanken versunken.
„Ob du schicke Sachen anziehen musst? Für den Fotografen?"
Nein, ich muss sie ausziehen, dachte Christina, sagte aber: „Ja, das mache ich."
„Ist der Fotograf nett zu dir?"
„Manche sind es. Und manche sind ... na ja, mit anderen ist es eben schwieriger."
„Ich finde, du siehst toll aus", strahlte Elena.
Lächelnd strich Christina über das braune Kraushaar ihrer Tochter, das sie zu zwei Pippi-Langstrumpf-Zöpfen geflochten trug. „Danke, Schatz. Nun lauf ins Schlafzimmer. Es wird spät sein, wenn ich wiederkomme. Ich werde versuchen, dich nicht aufzuwecken."
„Okay. Gute Nacht, Mami!", rief Elena und watschelte los, die Barbie-Puppe unter den Arm geklemmt. Christina sah ihrem Kind seufzend nach. Dann zog sie den Saum ihres Mini-Kleides ein Stück nach unten, das dadurch kaum züchtiger wirkte, und ging mit klappernden Absätzen hinaus auf die Straße.
3
Donnerstag, 4. September 2014, 20:15 Uhr
Sie hatten ihn eingesperrt. Ganz allein. Im Dunkeln. Wie ein Tier im Käfig. Weil er anders war als sie. Seine Peiniger hielten sich für etwas Besseres. Die schielten ja nicht und trugen keine Brille mit Gläsern so dick wie der Boden eines Marmeladenglases. Mussten auch keine Pillen schlucken gegen neurologische Störungen als Folge eines Sauerstoffmangels bei der Geburt. Sie lebten nicht in einer Wohnanlage für sogenannte Behinderte. Sie waren nicht auf eine Schule für Lernhilfe gegangen und fingen nicht jeden Satz dreimal von vorne an, weil sie Hemmungen beim Sprechen hatten. Sie wohnten ohne Betreuung durch das Sozialamt, fuhren Autos und hatten Freundinnen. Aber machte sie das zu besseren Menschen? Nein! Sie sollten sich auf ihre Statussymbole bloß nicht zu viel einbilden. Vor allem nicht auf ihre Mädels. Oh ja! Er, Jakob Schäfer, hatte in seinem Leben bestimmt schon mehr Frauen glücklich gemacht als sie. Er wusste, was die Ladies brauchten. Wie man mit ihnen umzugehen hatte. Seine aktuelle Eroberung wartete auf ihn. Er musste so schnell wie möglich raus. Raus aus diesem dämlichen Keller der Pressmann Kelterei, bei der er seit zwei Wochen als Aushilfe arbeitete. Zum wiederholten Mal in der vergangenen Stunde stemmte Jakob seinen untersetzten Körper gegen die Tür, trommelte mit den Fäusten dagegen.
„Lasst mich raus! Hallo! Hört ihr mich?!"
Keine Antwort.
Vermutlich waren sie längst nach Hause gegangen und feixten auf dem Heimweg miteinander über den „Mongo, der eingesperrt im Keller vor sich hin schmorte. „Mongo
, so nannten ihn Kevin, Emre und Marvin. Drei Burschen, die auch bei Pressmann jobbten und ihn vom ersten Tag an auf dem Kieker hatten. Der Schimpfname leitete sich von „mongoloid" ab, eine veraltete Bezeichnung für Menschen mit Down-Syndrom.
„Ich habe von Geburt an einen Sehfehler, aber ich bin kein Downie , versuchte Jakob den Dreien immer wieder zu erklären. Sinnlos. Sie riefen weiter „Mongo
, rissen faule Witze, stießen ihn mit den Ellenbogen in die Seite oder klauten sein Pausenbrot. Heute Nachmittag hatte Jakob wie jeden Tag Adress-Etiketten auf die Kartons mit Apfelsaft und Apfelwein geklebt, die von der Eschborner Landstraße aus zu Großkunden und Privatkäufern im gesamten Rhein-Main-Gebiet versandt wurden, als Marvin, Emre und Kevin nach ihm gerufen hatten. Angeblich brauchten sie im Keller seine Hilfe, um gemeinsam ein besonders schweres Fass anzuheben. Kaum war Jakob in den großen, kühlen Lagerraum geschlurft, packten ihn Marvin und Emre links und rechts an den Ärmeln seines „Star Wars"-T-Shirts, das sich eng über seinen Kugelbauch spannte. Wie ein Fisch im Netz zappelte Jakob in ihren kräftigen Armen, während Kevin ausholte und ihm die geballte Faust in den Magen donnerte. Jakob sah Sterne vor seinen Augen tanzen. Aus seinem Innern strömte ein Würgereiz bis hinauf in die Kehle. Um ein Haar hätte er Kevin vor die Füße gekotzt. Dann ließen sie ihn wie einen nassen Sack auf den kalten Steinboden fallen, zogen die schwere Eisentür zu und drehten von außen das Licht aus.
„Schlaf gut, Mongo!", hatte Marvin gerufen und die anderen stimmten in sein gehässiges Lachen ein.
Jakob Schäfer befürchtete, dass er womöglich die ganze Nacht in seinem düsteren Verließ bleiben musste. Sein Date würde er dann verpassen. So ein Mist! Dabei hatte sich das Profil dieser jungen Dame im Internet so vielversprechend gelesen. Ob sie sich noch einmal mit ihm verabreden würde,