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Ungelesene Briefe: Einblicke in das menschliche Leben
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Ungelesene Briefe: Einblicke in das menschliche Leben
eBook250 Seiten3 Stunden

Ungelesene Briefe: Einblicke in das menschliche Leben

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Über dieses E-Book

Die in diesem Buch zusammengefassten fiktiven Briefe sind nichts anderes als persönliche Gespräche mit Menschen, die mit Problemen konfrontiert werden, die trotz des oft individuellen Charakters dieser Probleme Allgemeingültigkeit haben. Die behandelten Themen resultieren aus einer vieljährigen ärztlichen Erfahrung, nicht weniger aber aus der Wahrnehmung zeittypischer politischer, gesellschaftlicher und religiöser Entwicklungen, die oftmals den einzelnen Menschen ins Abseits geraten lassen. Es werden Themen erörtert, denen eine zentrale Bedeutung für die Sinnfrage des Lebens zukommt (Krankheit, Sterben, Tod, Freiheit, Wahrheit, Sterbetestament).
SpracheDeutsch
HerausgeberKaden Verlag
Erscheinungsdatum9. Juli 2014
ISBN9783942825276
Ungelesene Briefe: Einblicke in das menschliche Leben
Autor

Johannes Horn

Johannes Horn, geboren am 23. März 1943 in Wüstegiersdorf bei Waldenburg in Schlesien. Schon während der Schulzeit interessiert er sich für Literatur und Malerei. In dieser Zeit entstehen erste Gedichte. Während seines Medizinstudiums befasst er sich intensiv mit psychologischen und philosophischen Fragestellungen. Es entstehen erste Abhandlungen und essayistische Schriften. Er versteht das Malen und Schreiben nicht als Ausgleich zu seinen beruflichen Ambitionen – er sieht sie als wesentliche Voraussetzung für die Verstehbarkeit des Lebens. Immer wieder beschäftigt er sich mit den Randbereichen der Medizin. So entstehen neben einer Vielzahl von wissenschaftlichen Publikationen umfangreiche Abhandlungen über gesellschaftliche Probleme und ethische Fragen in der Medizin („Alle Zeit der Welt“, „Stille, du bleibende Sprache“, „Der mündige Patient“, „Goethe, der größte Chirurg“). Johannes Horn war von 1987 bis 2008 Chefarzt der Abteilung für Allgemein- und Visceral­chirurgie des Städtischen Krankenhauses München-Harlaching.

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    Buchvorschau

    Ungelesene Briefe - Johannes Horn

    Leben

    Vorwort

    Die Erde, auf der wir leben, haben wir uns verfügbar gemacht. Die Kommunikationsmöglichkeiten sind unbegrenzt, jeder noch so entlegene Winkel ist uns zugänglich und wir sind dabei, uns diese Erde nach unserem Willen und nach unseren Vorstellungen einzurichten. Gleichzeitig setzen wir alles daran, ihre Regeln, Ordnungen und Gesetze zu enträtseln; der Blick in die kleinsten wie in die größten Dimensionen weitet sich.

    Wir sprechen von Globalisierung und Vernetzung, wir rücken zusammen und wir befleißigen uns, alles, was dieser Erde eigen ist, für unser Dasein in Anspruch zu nehmen. So war es wohl gedacht und in der Tat könnte man meinen, dass alles gut und für die Menschen von Vorteil und Nutzen wäre.

    Doch wir erleben anderes. Immer wieder zerbricht das Bewusstsein des Menschen an der Verschiedenartigkeit seiner Werte- und Gottesvorstellungen. Immer tiefer geraten die Menschen in die sozialen Konflikte. Immer verletzender gebärden sich die hegemonialen Ansprüche. Immer mehr vereinnahmt ein materielles Denken die Lebens­inhalte und die Zielsetzungen des Menschen.

    Mit der Globalisierung und der Materialisierung geht eine unwiderstehliche Kraft zur Uniformierung einher. Die weltlichen Güter verlieren ihren Wert in dem Bewusstsein des Selbstverständlichen. Die Fülle der auf den Menschen ruhelos einwirkenden Reize, Signale, Zeichen und banalen Informationen lassen ihn gesättigt sein und hindern ihn an jeder geistigen Erfahrung. Die Individualität verliert sich in der Masse. Die sich wandelnden Begriffe von Kunst und Kultur erschöpfen sich in dem Versuch, die Identität der menschlichen Existenz in den Tiefen ihrer Trostlosigkeit und Vereinsamung, ihrer Verletzbarkeit und Selbstzerstörung zu beschwören. Kunst und Kultur spiegeln die Dissonanz des im Diesseitigen verlorenen Menschen.

    Dann aber, wenn der Mensch in existenzielle Nöte gerät, wenn er an seine Grenzen stößt und ihm seine Vergänglichkeit bewusst wird, wenn er mit Krankheit, Sterben und Tod konfrontiert wird, wenn er das Schicksal des Scheiterns und des Verlustes zu tragen hat, dann, stellen sich Fragen, die oft unbeantwortet bleiben, dann und eben dann wird ihm bewusst, wie weit sich seine Wirklichkeit von seinem Ursprung, seiner Wahrheit, seinem eigentlichen Lebenssinn entfernt hat.

    Mit meiner beruflichen Tätigkeit als Arzt stellt sich immer wieder die Aufgabe, solchen Menschen ein beratender und helfender Partner zu sein. Es dauerte Jahre, bis ich erkannte, dass es dabei nicht der Kunst der Rede bedarf, vielmehr der Kunst des verstehenden Hörens; dass es nicht darum geht, mit vielen Worten etwas zu beschönigen sondern darum, eine Einstellung, eine Überzeugung, ein Bewusstsein glaubhaft zu vermitteln.

    So mancher Vortrag und manche Publikation, so sehr sie auch mit Mühe und Hingabe erarbeitet waren, konnten schließlich dem eigentlich ärztlichen Anliegen nicht gerecht werden. Erst im persönlichen Gespräch, im unmittelbaren Gegenüber ließ sich etwas konkretisieren und glaubhaft vermitteln, was dem in Not geratenen Menschen Halt und Hilfe sein konnte. So wählte ich die literarische Form des fiktiven Briefes um das, was zu sagen ist, was gesagt werden kann, zum persönlichen Wort werden zu lassen.

    Danken möchte ich Frau Hannelore Adam, Herrn Norbert Krämer und Herrn Christian Molter, die die Publikation dieser Briefe ermöglicht haben.

    Lieber Theophil!

    (Leben und Tod im Bewusstsein Gottes)

    Was waren das für Tage! Eigentlich doch nur von kurzer Dauer und doch war dieser Aufenthalt in Rom wie eine Zeit des Erwachens, des Innehaltens und der unerwarteten Wahrnehmung, herausgenommen aus der bleiernen Stumpfheit des Alltäglichen, als hätten wir für wenige aber eben doch unverwechselbare Augenblicke das Abgetragene des Gewohnten verlassen, um uns im Brennpunkt des Zeitlosen aufzuhalten.

    Und schon hat uns die Zeit wieder im Griff, was mir besonders deutlich wurde, als der Wecker, der mich heute zu früh aus den nachklingenden Träumen riss, an Normalität und Pflicht mahnte. Es war klug von Dir, noch einige Urlaubstage anzufügen und Dich nicht gleich wieder den Zwängen alltäglicher Verrichtungen auszusetzen und Dir damit die Möglichkeit zu geben, die eben gemachten Erfahrungen in der Ruhe des Häuslichen zu verinnerlichen.

    Mich dagegen traf gleich am ersten Tag die

    volle Wucht der beruflichen Probleme mit der Vielgestaltigkeit unseres menschlichen Lebens. Eigentlich war es ein ganz normaler Kliniktag. Am Morgen schon Operationen, mittags Sprechstunden mit den sich anschließenden Visiten und am späten Nachmittag die eher lästige Schreibtischbürokratie.

    Den ganzen Tag über Patienten; in jedem vorgetragenen Anliegen, in jedem offenkundig werdenden Schmerz, in all den Leiden und Beschwernissen verbarg sich ein jeweils eigenes Bedürfnis, eine Unruhe im Hoffen und Zweifeln, ein Berührt-Sein in den Grundfesten des Selbstverständlichen. Jedem der Patienten stellten sich eigene Fragen und jeder von ihnen war auf der Suche nach einer ihn zufriedenstellenden Antwort.

    Mitten in diesem bewegten Gleichmaß des Tages traf ich in einem der Krankenzimmer auf eine Frau, nicht älter als vierzig Jahre, die, von einer auffälligen Unruhe gezeichnet, in abweisender Zurückhaltung im Bett lag. In dem sich erst verhalten, dann lebhafter entwickelnden Gespräch über die Unheilbarkeit ihrer Krankheit tauchten immer wieder Gedanken auf, die uns auch in Rom so intensiv beschäftigten: Wie mag das sein, wenn mit dem Tod das offensichtliche oder scheinbare Ende des Lebens erreicht ist? Der Tod als das offensichtliche und damit endgültige Ende oder der Tod als ein Übergang, ein Anfang mit allen Möglichkeiten des Werdens?

    Ich erinnerte mich dabei an den ersten Abend unseres fünftägigen Aufenthaltes in Rom. In der anfangs kaum wahrgenommenen Dämmerung zogen wir durch die Straßen und Gassen, das südliche Lebensgefühl in vollen Zügen aufnehmend. Wir überquerten Plätze, auf denen sich Kinder ausgelassen die Zeit vertrieben (ich bewunderte übrigens Deine Spontaneität und eben Dein Geschick bei der Rettungsaktion eines ins Abseits geratenen Fußballes; Du hast den Kindern sehr imponiert!).

    Wir passierten Auslagen von angebotenen Früchten, von Kleidungsstücken, von Dessous und allerlei Antiquitäten. Zwischen den alten, zeitgeschundenen und verblassten Häuserfassaden wechselte ständig der Geruch von geröstetem Kaffee und aufdringlichen Auspuffgasen. Wir überquerten den Tiber, schlenderten durch die via della Lungaretta in Richtung Santa Maria Trastevere. Wie oft hattest Du mir vor unserer gemeinsamen Reise von Deinen früheren Romaufenthalten berichtet, mich mit Deinen Erfahrungen neugierig gemacht.

    So war es die Neugier, die mich zu dieser Reise veranlasste. Erst dann, im Augenblick des eigenen Erlebens, wurden die mitgeteilten Erfahrungen konkret und nachvollziehbar. So wurde mir klar, dass eine Erfahrung stets etwas Persönliches ist. Und nur im Bereich dieser persönlichen Erfahrung wird angesichts der sich lebensfroh gebärdenden Vergänglichkeit dieser Stadt das Attribut, ewig zu sein, erlebbar.

    Auf unserem Rundgang durch Trastevere erreichten wir schließlich den Platz, von dem Du schon immer geschwärmt hast: Piazza Santa Maria. Wie fast alle Plätze in Rom, ja in Italien, fügt auch er sich in die pulsierenden Abläufe des Alltäglichen ein. Während ich großes Verlangen verspürte, auf den Stufen des achteckigen Brunnens Rast zu machen, drängtest Du zum Besuch der Kirche. Selten, lieber Freund, selten habe ich einen so kunstvoll ausgestatteten, von Demut und Hingabe erfüllten sakralen Raum gesehen. Nein, Du hattest mir nicht zu viel versprochen.

    An der Ausführlichkeit meiner Schilderung, mit der ich Dich hoffentlich nicht langweile, siehst Du, wie beeindruckt ich heute noch bin und wie sehr mich die zurückliegenden Erfahrungen auch nach Rückkehr in den beruflichen Alltag beschäftigen. Vor allem bei dem heutigen Gespräch mit der unheilbar kranken Frau wurde mir klar, dass die Annäherungen an das Sakrale, die Berührungen des Ewigen, die Augenblicke des tiefen Empfindens nicht herausgehobene, ephemere Dekorationen, nicht kurze Befriedigungen religiöser Bedürfnisse sein dürfen, sie müssen in unserer gedanklichen Welt zu Plätzen werden, auf denen sich das Alltägliche lebendig entfaltet.

    Lange saßen wir ergriffen vor den leuchtenden Mosaiken mit der Darstellung christologischer Themen und Szenen aus dem Leben der Maria. Oben, im Scheitel des Triumphbogens, das Medaillon des Kreuzes, welches mit den Buchstaben Alpha und Omega Gott in seiner Endgültigkeit und Ewigkeit symbolisiert. Wenn ich dies besonders hervorhebe, so deshalb, weil ich Dir meine Ergriffenheit angesichts der so bewegenden und mein Innerstes berührenden Eindrücke während des Aufenthaltes in dieser Kirche vermitteln möchte. Nicht zuletzt aber auch deshalb, weil ich vorhabe, noch einige Gedanken an jenes Gespräch anzufügen, welches nach dem Besuch der Santa Maria in Trastevere den ganzen restlichen Abend in Anspruch nahm.

    Auf dem Platz, in dessen Mitte der Brunnen mit seinem Fließen und Strömen das Leben ständig in Bewegung hielt, fanden wir einen letzten noch freien Tisch. Er gehörte zu einer Trattoria, deren Ober mit emsiger Aufmerksamkeit ihre Gäste zufrieden stellten. Du wirst Dich erinnern, dass es eigentlich nur eine kleine Bemerkung von Dir war, die das abendfüllende Gespräch auslöste – ganz beiläufig, der Ober arrangierte gerade den lang ersehnten Rotwein mit Gläsern und Karaffe, neben Mineralwasser, Weißbrot und Oliven auf dem für ein italienisches Abendessen zu eng bemessenen Tisch, ganz beiläufig also sagtest Du: „Haben die Menschen früher das mit dem Alpha und dem Omega, dass also Gott den Anfang und das Ende bedeute, haben sie das wirklich geglaubt? „Was heißt früher, erwiderte ich, worauf Du nach einigem Zögern nachdenklich feststelltest: „Du bist also gläubig?!".

    So begann das Gespräch über die Existenz Gottes, welches zwei so unterschiedliche Weltanschauungen, so verschiedene persönliche Erfahrungsinhalte deutlich machte, welches aber auch zeigte, dass die Frage nach der Existenz Gottes nicht in einem Gespräch geklärt werden kann.

    Nach diesem anregenden und mitunter heftigen Gedankenaustausch und nach der inzwischen erreichten Distanz, die so vieles zu beruhigen und zu ordnen vermochte, will ich noch einmal mir wesentlich erscheinende Argumente und Denkpositionen aufgreifen, mit denen ich versuchen will, zu jener gedanklichen Klarheit beizutragen, ohne die nach meinem Dafürhalten Einsicht und Verstehen nicht möglich sind. Mehr noch: Ohne die man leicht der Gefahr erliegt, sich von Vorurteilen oder aber von Fiktionen und eigenwilligen Bewertungen der jeweils wahrgenommenen Wirklichkeit verführen und verwirren zu lassen.

    Bei dem Gespräch mit der vom Tode gezeichneten Patientin fiel mir auf, dass sie ihre drängenden und unausweichlichen Probleme so ganz ohne die Erwähnung Gottes anzugehen versuchte. Sie erzählte von ihrer Welt, in der sie manch Schweres erlebt, vieles aber auch zu schätzen gelernt habe. Ihr Leben sei noch bis vor kurzem voller Energie und Zuversicht gewesen, vieles sei angedacht, manches begonnen worden, um dem Leben Inhalt und Sinn zu geben. Von den beiden Kindern sei die Kleine eben zur Schule gekommen. Zusammen mit ihrem Mann dachte sie daran, den lang gehegten Wunsch einer eigenen Wohnung zu verwirklichen. Sie habe immer gearbeitet, ihren Mann spät kennengelernt, und jetzt … alles so plötzlich, unerwartet und … endgültig. Gerade gestern hätte man ihr mitgeteilt, dass eine Therapie nicht mehr möglich sei. „Warum nur, ich verstehe es nicht! „Meine Kinder! „Warum nur? Nach jedem Gedanken dieses schmerzliche und sich auflehnende „Warum?

    Es gibt wohl niemanden, der dieses Schicksal nicht nachempfinden könnte, der nicht sein Inneres berührt sähe angesichts dieser scheinbaren Lebenswillkür und dieser so tief empfundenen Ungerechtigkeit.

    Sie zeichnete ein Bild von ihrem Leben voll Farbigkeit und Sehensfreude. Es schien gar, als ob die verzagte Bitterkeit manche der Farben erst richtig zum Leuchten gebracht hätte. So erschien das Bild bunt doch auch so, als ob es haltlos geworden wäre, als ob es ohne Sinn und Orientierung in einem bloßen Farbenmeer unterzugehen drohte.

    Lieber Theophil, hast Du die Leuchtkraft und die bezwingende Schönheit der Mosaiken noch vor Augen? Ist Dir erinnerlich, mit welcher Erhabenheit und Größe aber auch mit welcher Gelassenheit Jesus und die rechts von ihm thronende Maria das Zentrum dieser Lichtkomposition bilden, wie sich Figur für Figur, Symbol für Symbol, Zeichen für Zeichen zu einer Harmonie der Ordnung und der Ruhe fügen und zielstrebig auf das Gottes Symbol des Kreuzes hinweisen?

    Rechts und links die großen Verkünder, die Propheten Jesaja und Jeremia, jeweils den Blick zum Betrachter gerichtet, ihre Verkündigung aber zu Gott gewandt. Am Ende ihrer auf Spruchbändern festgehaltenen Weissagung steht nicht ein Punkt, kein Doppelpunkt und kein Ausrufezeichen, nein, wir sehen jeweils einen Vogel im Käfig! Welch feinsinnige und treffsichere Symbolik für das ungehörte, das im Nicht-Verstehen gefangene Wort! Welch ein Unterschied zu der heute frivol vorgetragenen Feststellung: „Wir waren im Weltall und haben Gott nicht gefunden!"

    Wir begnügen uns so oft mit der Aussage, dass Gottes Existenz nicht zu beweisen sei, so, als ob die Beweisbarkeit ein Kriterium für die Entscheidung für oder gegen seine Existenz sein könnte. Wir sind gewohnt, die sichtbare Welt mit Maßstab und Winkel zu vermessen, die wirksamen Kräfte zu tarieren und die feinsten und gröbsten Strukturen zu analysieren. Mit unserem Wissen und Verstehen vollziehen wir das nach, was vorgegeben und existent ist. Glauben wir wirklich, dass sich Gott in diesem Bereich des Wissens aufhält, dass er dort dingfest zu machen sei, dass er überhaupt messbar, ja ermessbar sei?

    Können wir uns schon dadurch ein Bild vom Töpfer machen, wenn wir den Krug ausmessen, tarieren und analysieren?

    Beweise sind doch nur möglich, wo es um Wissen geht, nicht dort, wo Überzeugungen notwendig sind. Denke doch daran, lieber Theophil, wie genau wir heute die Abfolge genetischer Informationen definieren können. Haben wir damit auch schon das Leben verstanden?

    Ich gestehe, dass ich bei dem Gespräch mit der kranken Frau lange Zeit ratlos war und angesichts der Klage und der sich auflehnenden Zweifel nichts zu entgegnen wusste. Hinter der äußeren Ruhe des Zuhörens verbargen sich bei mir all die unfertigen Gedanken, die der Vorstellung, in dieser scheinbaren Ausweglosigkeit hilfreich zu sein, nicht standhalten konnten. So schwieg ich aufmerksam, merkte aber, dass sich manche Erregung und manch Aufgebrachtes in ihren Worten im Fluss des Zuhörens langsam beruhigte.

    Mit der Ruhe trat Stille und eine gewisse Nachdenklichkeit ein. Während sie über all das sprach, was sie als bevorstehenden Verlust beunruhigen musste, fehlte mir jedes Argument. Schon gar nicht konnte ich ihre Befürchtungen zerstreuen bzw. das, was ihr aus weltlicher Sicht zur Realität geworden ist, ungeschehen machen. Erst, als sich der Schmerz über Vergänglichkeit und Verlust erschöpft hatte, wurde eine andere Wirklichkeit spürbar, den Schmerz nicht aufhebend, ihn aber haltend und lenkend. Nach längerem Stillhalten fragte ich sie, ob sie einmal in ihrer Kindheit an das Sterben oder den Tod gedacht hätte. „An den Tod? Ja!; „An das Sterben? Nein!

    Haben die Darstellungen der so eindrucksvollen Mosaiken nicht etwas überaus kindliches und unbefangenes, lieber Theophil? Sind sie nicht ebenso anrührend wie überzeugend? Ja, überzeugend, das ist es! Die Attribute der Empfindungen, die beim Anblick dieser Wand-Malerei ins Bewusstsein rücken, sind vielgestaltig: einfach, wahrhaftig, echt, kindlich, symbolkräftig, unverfälscht… Ist es nicht so, dass aus all dem jene Überzeugung resultiert, die das Werk so wertvoll macht, ein Werk, dessen Aussage über die Zeit hinaus reicht. Ich sagte: „Über die Zeit hinaus …" und ich meine damit, dass etwas über die an diese Welt gebundenen, in dieser Welt gefangenen Vorstellungen hinaus vermittelt wird: Eine Botschaft, ein Vermächtnis, ein Geheimnis!

    So erscheint Gott als Symbol, nicht als Bild und alles ist auf dieses Symbol hin ausgerichtet gleichsam an diesem Symbol orientiert (Orient als das Zeichen des Lebens). Das Symbol besagt, dass es mehr ist als es irgendein Bild sein kann, denn jedes Bild ist ja nur eine Projektion menschlicher Vorstellungen, ein Versuch, das Große und Unbegreifliche in den Koordinaten der eigenen Wirklichkeit abzubilden. Da nun der Mensch über seine Vorstellungen hinaus nicht denken kann, wird ihm Gott immer ein Verborgener und damit ein Geheimnis bleiben.

    Die Darstellung des Gottessymbols im Scheitel des Triumphbogens markiert mit dem Alpha und Omega nicht nur Ursprung und Ziel, sondern belegt auch die Präsenz Gottes in dieser Welt. Nur in der Unlösbarkeit dieses Geheimnisses, nur in der Distanz des nicht Erreichbaren ist Gott ein Gott, der allen ein Gott ist.

    Wie in dem leuchtenden Mosaik dargestellt, ist Gott ein über allem Thronender, er ist die Ganzheit des Seins, er ist nicht denkbar und nicht vorstellbar. Gott ist also nicht dadurch ein Gott, dass er vom Menschen gedacht und für existent gehalten wird, sondern allein dadurch, dass er dem Einzelnen undenkbar und unerreichbar bleibt.

    Immer wieder, lieber Theophil, ist der Mensch versucht, sich von Gott ein Bild zu machen, ja mehr noch, ihn für seine Sache zu vereinnahmen. So sagt er: „Ich stehe zu Gott, also stehe er auch zu mir! Ich bete zu Gott, also helfe er mir auch! Entscheidend ist dabei, dass die Hilfe in einer jeweils konkreten Weise erwartet wird, dass Gott quasi als „Polster dort gefordert wird, wo eigene Hilflosigkeit und Unzulänglichkeit festgestellt wird. Gott ist aber jedem und allen ein Gott, nicht ein Gott von jedem einzelnen. Er ist allein dadurch ein Gott, dass er sich der Vereinnahmung durch den Menschen entzieht und nicht in die Einzelteile bildhafter Vorstellungen zerfällt. Gott ist nicht aufteilbar in die Summe menschlicher Gottesvorstellungen.

    Nur auf diese Weise kann eine Wirklichkeit konkret werden, die über unser begreifbares Dasein hinausreicht. Es wird für jeden einzelnen entscheidend sein, inwieweit er sich dieser Gotteswirklichkeit anvertrauen kann, inwieweit er sich selbst einordnen kann in eine Wirklichkeit, die von dem Willen und der Ganzheit Gottes geprägt ist.

    Nun hat der Mensch das Problem, nur schwer mit einem Geheimnis umgehen zu können. Es entspricht seinem Grundbedürfnis, alles enträtseln zu wollen; er will wissen, will verstehen und will entscheiden.

    Soweit, lieber Theophil, waren wir uns einig und während ich dieses schreibe, denke ich an den Abend zurück, denke an den mit Leben erfüllten Platz, das so anregend beruhigende Fließen des Brunnens und an den erlesenen Rotwein (weißt Du eigentlich noch, was für ein Wein das war?).

    Hinsichtlich der Konsequenzen, die sich aus dem Wissensanspruch des Menschen ergeben, waren wir uns uneins. Du argumentiertest, dass sich die Grenzen des Wissens und des Erkennens im Laufe der Geschichte immer weiter verschoben hätten; während man früher noch annahm, dass die Erde als Scheibe im Mittelpunkt des Weltgeschehens stünde, sei man doch heute im Großen wie im Kleinen so weit vorangekommen, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis die Welt völlig enträtselt und ein Verstehen auch der letzten Dinge möglich sei. Allein die Frage, ob auch die Liebe, die Freiheit, die Demut oder die Toleranz auf diese Weise erklärbar sein würden, brachte Dich ein wenig in Verlegenheit. Zumindest warst Du Dir diesbezüglich nicht sicher.

    Meinst Du nicht auch, lieber Theophil, dass die Bedeutung unseres menschlichen Daseins völlig unabhängig ist vom Potential des Wissens, dass es vielmehr von Kräften beeinflusst wird, die wir der geistigen Welt zuzuordnen haben? Ist es nicht der Geist, der uns bewegt, treibt und lenkt, der uns Einstellung und Orientierung gibt? Ist die Existenz dessen, was wir Geist und Seele nennen, allein deshalb schon in Frage zu stellen, weil wir sie nicht sehen oder gar messen können?

    Ich will Dir ein Beispiel geben: Einst trafen sich ein Ingenieur

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