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Rahmat lebt: Als Rotkreuz-Arzt in den Krisengebieten dieser Erde
Rahmat lebt: Als Rotkreuz-Arzt in den Krisengebieten dieser Erde
Rahmat lebt: Als Rotkreuz-Arzt in den Krisengebieten dieser Erde
eBook566 Seiten7 Stunden

Rahmat lebt: Als Rotkreuz-Arzt in den Krisengebieten dieser Erde

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Über dieses E-Book

Rahmat war zwölf Jahre alt, als er 1990 in Kabul beim Spielen auf eine Mine trat und beide Beine verlor. Er steht hier für alle zivilen Opfer von Kriegen und Naturkatastrophen, die Dieter Jacobi während seiner chirurgischen Arbeit im Auftrag des Internationalen Roten Kreuzes anvertraut haben.
Die Aufzeichnungen aus seinem Einsatztagebuch lassen erkennen, dass die Fernsehbilder immer nur einen oft subjektiven Bruchteil der Wirklichkeit von Katastropheneinsätzen wiedergeben können. Unter welch schwierigen und oft lebensbedrohlichen Bedingungen die internationalen Hilfsorganisationen tatsächlich vor Ort arbeiten müssen, ist kaum bekannt. Das betrifft nicht nur die humanitäre Hilfe bei Naturkatastrophen, sondern auch die Nichteinhaltung der Genfer Konventionen und des Humanitären Völkerrechts bei Kriegseinsätzen. Auch wenn der Autor manchmal eine Ahnung von der Vergeblichkeit seines humanitären Engagements empfindet, lässt er sich nicht beirren. Die Passion für seinen Beruf, die Chirurgie, treibt ihn immer wieder in die Krisengebiete dieser Erde. Für sich selbst lehnt er die Bezeichnung Gutmensch ab, ihn interessiert die menschliche Dimension, die Begegnung mit den Opfern und mit denen, die, wie er, einfach helfen wollen. Er muss die Menschen lieben: Trotz aller Schrecknisse hat sich Dieter Jacobi seinen versöhnlichen Humor bewahrt.
SpracheDeutsch
HerausgeberWestkreuz-Verlag
Erscheinungsdatum28. März 2013
ISBN9783943755060
Rahmat lebt: Als Rotkreuz-Arzt in den Krisengebieten dieser Erde

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    Buchvorschau

    Rahmat lebt - Dieter Jacobi

    Dieter Jacobi

    Rahmat lebt

    Dieter Jacobi

    Rahmat lebt

    Als Rotkreuz-Arzt in den Krisengebieten

    dieser Erde

    Erfahrungen – Erlebnisse – Reflexionen

    Westkreuz-Verlag GmbH Berlin/Bonn

    Bibliographische Information Der Deutschen Bibliothek

    Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

    E-Book-Ausgabe:

    ISBN 978-3-929592-94-06-0

    © 2013 Westkreuz-Verlag GmbH Berlin/Bonn

    Herstellung: Westkreuz-Druckerei Ahrens KG Berlin/Bonn

    E-Book Umsetzung: KOMAG mbH Berlin/Brandenburg

    Zur Erinnerung

    an unsere toten Freunde

    aus Novye Atagi in Tschetschenien

    und Lugufu in Tansania

    Vorwort

    Wenn ich gelegentlich unter Freunden und Bekannten frage, was versteht ihr unter dem Roten Kreuz, folgt nach anfänglichem Schweigen schließlich stotternd... hm, ja, das Rote Kreuz ruft zum Blutspenden auf. Das Rote Kreuz besitzt Krankenhäuser und Altersheime. Es stellt Erste-Hilfe-Posten und organisiert Notarztdienste. Und was noch? Nun ja, was du so machst, Kriegsverwundete, Flüchtlinge und so...

    Es ist vielleicht nicht erstaunlich, nachdem wir hier seit über 60 Jahre im Frieden leben, dass die ursprüngliche Aufgabe, die originäre Rotkreuz-Idee, nämlich die Betreuung von Kriegsverletzten, in unserem Bewusstsein so weit in den Hintergrund getreten ist. Die Grundidee der Verwundetenversorgung wurde im Laufe der mehr als 140 Jahre, die das Rote Kreuz besteht, auf einen immer größeren Kreis von vom Krieg Betroffener ausgeweitet. Der internationale Einsatz für Opfer von bewaffneten Konflikten, der schließlich auch auf die Leidtragenden von anderen weltweiten Katastrophensituationen ausgedehnt wurde, bleibt das zentrale Anliegen der Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung.

    Dieses Buch erzählt zwar von dieser internationalen Rotkreuz-Arbeit und auch von der Geschichte und der Struktur der Bewegung, aber es ist kein Rotkreuz-Handbuch. Es ist ein persönlicher Bericht über meine Einsätze in den vergangenen 17 Jahren, über die Begegnung mit der manchmal unfassbar grausamen Wirklichkeit, mit der sich Opfer von Kriegen und anderen Katastrophen auseinandersetzen müssen und über unsere Bemühungen und Möglichkeiten, ihnen dabei unter die Arme zu greifen. Ich singe nicht „Das Lied vom braven Mann", sondern ich berichte von Menschen mit ihren Stärken und Schwächen, die Freude und Befriedigung darin finden, anderen, die in Not geraten sind, zu helfen.

    Bei der andauernden Konfrontation mit dem Leiden und Sterben der Opfer, wie es auch heute überall in der Welt stattfindet, bleiben kritische Fragen nicht aus: Können wir nicht noch besser, noch schneller sein? Und können wir nicht mehr tun, um solche entsetzlichen Gemetzel, wie es Kriege nun mal sind, zu verhindern? Ja, ich weiß, wir müssen neutral bleiben, und das Rote Kreuz ist keine pazifistische Organisation. Die Parole „Sei menschlich auch im Krieg" ist eine großartige Idee, aber wir hecheln damit immer nur hinterher. Wir verbinden den Verwundeten und sollten eigentlich bei dem weltweiten Ruf, mit dem Einfluss und mit der Stärke der Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung intensiver für den Frieden kämpfen, der Tod und Verwundung verhindert. Als Mediziner kann man mir nicht die Einstellung verübeln: Vorbeugen ist besser als Heilen.

    Und heißt es nicht im Originalwortlaut der Definitionen der sieben Grundsätze der Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung bei dem Prinzip Menschlichkeit: Sie (die Bewegung) fördert gegenseitiges Verständnis, Freundschaft, Zusammenarbeit und einen dauerhaften Frieden unter den Völkern. Rahmat lebt und die Rotkreuz-Idee lebt! Aber können wir nicht, müssen wir nicht noch besser, noch friedenskämpferischer sein?

    Doch hier ist erst eimal Rahmat, mit dessen Geschichte die Idee zu diesem Buch überhaupt entstand.

    Das Kreuz angefasst, ist halbe Last.

    Sprichwort

    Rahmat

    Kabul, im Oktober 1990. Auf den Gipfeln des Hindukusch, im Nordwesten, liegt bereits Schnee. Am Tag ist es noch sommerlich warm, aber nachts wird es schon empfindlich kühl. In unseren Zimmern werden Ölöfen aufgestellt. Auch die Mudschahedin in den Bergen, die seit Monaten die Stadt mit Raketen eindecken und damit für einen nicht endenden Zustrom von verstümmelten Patienten in unser Rotkreuz-Krankenhaus sorgen, beginnen wohl zu frieren. Der teuflische Lärm der explodierenden Geschosse um uns herum lässt deutlich nach.

    Im Krankenhaus ist es ungewöhnlich ruhig, als wir morgens unseren Dienst beginnen. Kerstin, unsere schwedische Anästhesistin, schlägt erst einmal einen Kaffee vor. OP-Schwester Aline und ich stellen Tassen auf den Tisch und nehmen die Kanne aus der Maschine. Sie ist Tag und Nacht in Betrieb. Kaffee ist unser Überlebenselixier. In diesem Moment fährt mit Blaulicht und Sirene ein schrottreifer Krankenwagen an der Aufnahme vor. Drei Krankenbahren werden ausgeladen. Eine junge Frau rennt schreiend hinter den Trägern her. Als wir in die Ambulanz kommen, mühen sich Schwestern bereits um drei verletzte Kinder. Sie werden entkleidet, Blutdruck gemessen, Blut abgenommen, Infusionen angeschlossen, hundertfach geübte Routine. Die beiden weinenden Mädchen haben anscheinend nur oberflächliche Verletzungen. Der Junge, etwa zwölf Jahre alt, ist bewusstlos. Beide Beine sind abgerissen, das rechte in Hüft-, das linke in Kniehöhe. Der Junge ist auf eine Mine getreten, während seine Schwestern in der Nähe spielten und nur von einigen Splittern getroffen wurden. Die Krankenschwester an der Untersuchungsliege schüttelt mit dem Kopf. Sie kann keinen Blutdruck messen. Kerstin geht hinüber. Auch sie hört nichts. Sie setzt das Stethoskop auf den Brustkorb. Herzaktion ist da, aber schwach und rasend, sagt sie, ohne aufzublicken. Ich kontrolliere die Pupillen. Sie sind mittelweit und reagieren nur träge auf Lichteinfall. Wir drei schauen uns an. Wir haben keine Chance. Über eine Dolmetscherin versuchen wir der Mutter zu erklären, dass wir nichts tun können. Die Frau hängt sich schreiend an uns. Das ist mein einziger Sohn. Sie zieht Kerstin und mich zurück an die Liege. Er darf nicht sterben. Während die Schwester eine Blutersatzlösung nachhängt, beraten wir uns noch einmal. Wir hätten genügend Zeit. Es warten keine anderen Patienten. Aber Blut? Der Junge braucht mindestens fünf oder sechs Konserven, aber mehr als drei für einen Patienten sind nicht erlaubt. Und was für ein Leben versuchen wir zu retten mit einer Amputation im Hüftgelenk und einer in Oberschenkelmitte? Wie weit ist das Gehirn durch den Schock bereits geschädigt? Die Mutter kniet laut flehend vor uns. Aline hebt sie auf die Füße und nimmt sie in ihre Arme. Lasst es uns versuchen, sage ich mit einem Kloß im Hals. Ich renne hinüber in die Blutbank.

    Jeder hat vor der norwegischen Laborantin und Blutbank-Chefin Johanna Respekt. Sie schafft es immer wieder bei Studenten, Soldaten, Teppichhändlern aus dem Basar und unter unseren eigenen Leuten genügend Spender für unsere vielen verwundeten Patienten aufzutreiben. Aber sie muss auch die Regeln einhalten, dass für einen Patienten nur so viel Blut verbraucht wird, damit andere, die mit weniger gerettet werden könnten, auch eine Chance bekommen. Ich nähere mich Johanna in demonstrativer Unterwürfigkeit und bettele demütig: Ausnahmsweise, Johanna, ich brauche mindestens fünf Konserven. Ich erzähle ihr den Fall. Gut, entscheidet sie, fünf und keine Einheit mehr. In wenigen Minuten ist die Blutgruppe bestimmt und das Blut gekreuzt. Ich packe die Blutbeutel und laufe zurück. Der Junge liegt bereits auf dem Operationstisch. Ich setze den rechten, zerfetzten Stumpf im Hüftgelenk ab und den linken in Oberschenkelmitte. Kerstin ist eine exzellente Narkoseärztin. Rahmat, Sohn des Abdul Ghias, überlebt. Das letzte Bild, das ich drei Wochen später von ihm mache, zeigt einen blassen Jungen mit scheuem Blick im Rollstuhl, der einen Rotkreuz-Flyer in die Kamera hält. Hinter ihm steht seine junge Mutter, lächelnd. Johanna hat übrigens am Ende zehn Konserven herausgerückt.

    Immer wieder denke ich in den folgenden Jahren an Rahmat. Immer wieder erzähle ich seine Geschichte in Seminaren, bei Fortbildungsvorträgen und bei der Einführung von jungen Kollegen in die Kriegschirurgie. Wenn er die nachfolgenden Schrecken, die über Kabul hinzogen, überlebt hat, den Einmarsch der Mudschahedin, die Machtergreifung durch die Taliban und schließlich die Eroberung der Stadt durch die westlichen Koalitionstruppen, müsste er heute Ende 20 sein. Freut er sich über jeden Tag, an dem er die Sonne sieht, oder verflucht er diejenigen, die ihn als Krüppel am Leben erhalten haben? Haben wir dem Jungen wirklich geholfen?

    Puthukkudiyiruppu/Sri Lanka, im Januar 2005. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz setzt das völlig heruntergekommene Krankenhaus dieser Stadt, in der Mitte des Tamilengebietes, mithilfe des Deutschen Roten Kreuzes wieder instand und verstärkt das einheimische Personal mit einem medizinischen Team. Das Hospital in Mullaitivu, der Stadt an der Küste, wurde durch den Tsunami im vergangenen Dezember zerstört. Viele obdachlose Menschen haben sich nach PTK, wie wir den unaussprechlichen Namen der Stadt abkürzen, gerettet und brauchen medizinische Hilfe. Außerdem versorgt ein deutsches Wasserteam zahlreiche Camps an der Küste mit Trinkwasser.

    Es ist schon spät. Die meisten unserer Leute haben sich in ihre Zimmer im Haus zurückgezogen. Nur Philip, ein junger Kollege, und ich hocken noch mit einem letzten Bier um die verlöschende Glut unseres Grillfeuers. Wir reden über Gott und die Welt. Ich erzähle ihm die Geschichte von Rahmat. Du bist doch ein antiquiertes Relikt, ein aussterbender Dinosaurier der Chirurgie, erklärt mir Philip freundlich. Verwundetensichtung, Triage, das kennen unsere Leute im Westen doch gar nicht. Sie meinen, jeder Mensch auf dieser Erde habe das gleiche Recht und die gleiche Chance, dass alles für ihn getan werde und für alles ein Spezialist bereitstehe. Transplantationschirurgie, Endoprothetik, Frakturenschmiederei, mikroinvasive Chirurgie und Hochspezialisierung, das sind die derzeitigen Leitsterne unserer Zunft. Ich habe zwar keine Ahnung, wie das Rote Kreuz auf dieser Grundlage in Zukunft seinen kriegschirurgischen Nachwuchs rekrutieren will, aber das ist die Realität, zumindest in den reichen Ländern. Du, Dieter, magst vielleicht ein Allrounder sein, der am ganzen Körper operieren kann, aber in unseren modernen Operationssälen stündest du heute wahrscheinlich hilflos auf verlorenem Posten. Was würdest du machen, wenn man dir zum Beispiel für eine Bruchoperation ein Endoskop in die Hand drückt. Bitte, mikroinvasiver Zugang und Bruchpfortenverschluss durch Netzimplantation, oder für eine Darmnaht einen Stapler? Was ist das, bitte? Ein Stapler ist ein Rundklammernahtgerät, hast du wohl noch nie gehört? Nee, ich kann nur mit Nadel und Faden nähen.

    Siehste! Philip nimmt einen Schluck aus der Bierflasche, beugt sich zu mir herüber und lächelt listig. Wir lesen doch immer wieder, wie schwierig die Dinosaurierforschung ist und wie mühsam man aus den verbliebenen Resten ihre Lebensweise nur erahnen kann. Mach es doch der Nachwelt einfacher. Schreib schlicht auf, wie man mit einer soliden handwerklichen Ausbildung, unkomplizierter Technik, beschränkten Mitteln und mit gesundem Menschenverstand ordentliche Arbeit leisten und einer Menge Menschen helfen kann. Du hast das doch lange genug gemacht. Versteh mich richtig. Die Menschen wollen keine Heldensagen hören und auch keine Geschichten von bravouröser Selbstlosigkeit. Wir vom Roten Kreuz sind schließlich keine Engel, keine erdfernen Dulder oder entsagungsvollen Gutmenschen. Erzähle einfach, was dich persönlich veranlasst hat, 17 Jahre immer wieder solche verrückten Einsätze zu machen. Du bist doch fast überall gewesen, wo es gebrannt hat, ein richtiger „Katastrophentramp".

    Die Stille wird unterbrochen durch unseren Lastwagen, der in den Hof einfährt. Claus, der Leiter des Wasserteams, musste noch den Trinkwassertank in einem der Küstencamps auffüllen. Na, ihr „Katastrophenurlauber", das habe ich gern. Während wir uns totschuften, lümmelt ihr euch hier vor dem Feuer. Und dann so eine jämmerliche Flamme. Er wirft ein paar Scheite auf die Glut und wedelt mit einem der Plastikstühle, bis das Feuer wieder hoch schlägt. Claus und Donata, die ihm geholfen hatte, setzen sich zu uns. Du kennst doch das Wort vom Abend, an dem die Faulen fleißig werden, entgegnet Philip trocken. Aber ihr seht ja richtig nach Arbeit aus, Indianer auf dem Kriegspfad. Auf ihren staubbedeckten Gesichtern haben Schweißrinnen ein wildes Muster gezeichnet. Ihr kommt gerade recht. Dieter und ich reden über Beweggründe, die uns veranlassen, solche Einsätze zu machen. Das ist doch klar, sagt Donata, wir sind vom Roten Kreuz, wir wollen helfen. O. k., Donata, Helfen ist ein Grund, unterbreche ich sie, aber wir sollten die Fahne der Menschlichkeit nicht zu weit aus dem Fenster hängen. Helfen kannst du auch zu Hause. Du kannst deine Mutter unterstützen, deine Nachbarin pflegen oder für das Rote Kreuz sammeln. Dafür brauchst du nicht so weit zu reisen und so verrückt zu schwitzen, wie wir das hier tun. Wir haben schon auch handfeste eigennützige Motive. Ich zum Beispiel betrachte jeden Einsatz als eine neue persönliche Herausforderung. Du musst eine schwierige Situation in den Griff kriegen, dich mit fremden Mitarbeitern arrangieren und am Ende soll etwas herauskommen, das die Lage der betroffenen Opfer verbessert. Ich hasse Routine. Da haben wir ja schon mal zwei Triebfedern, sagt Philip und fährt fort, reizvoll für mich ist auch das fremdartige, manchmal exotische Umfeld unserer Arbeit. Außerdem würde ich niemals zu Hause mit so viel Unbekanntem und Ungewöhnlichem konfrontiert werden. Jeder Einsatz ist neues Erleben und neues Erlernen. Und neue Menschen kennen lernen, ergänzt Donata. Ich genieße das Gemeinschaftsgefühl, die Sicherheit, dass sich einer auf den anderen verlassen kann. Es gibt nicht diese Ellenbogenspiele wie zu Hause. Jedenfalls habe ich es noch nicht erlebt, dass sich einer auf Kosten anderer zu profilieren versucht. Claus schaltet sich ein. Nein, wir wollen uns nicht als Helden aufspielen, wir wollen nur einen guten Job machen. Und je schwieriger die Aufgabe ist, desto besser. Darin steckt natürlich auch eine Portion Abenteuerlust, die Erwartung von etwas Aufregendem, etwas Überraschendem. Bei allem Respekt für die Rotkreuz-Idee, der wir uns verpflichtet fühlen, viele von uns sind schon so eine Art von Nomaden oder sagen wir Vagabunden der Katastrophenhilfe.

    Habe ich das nicht eben erwähnt, triumphiert Philip. Es gibt also eine Menge zu erzählen, Dieter. Mein beredter Kollege nimmt noch einen Schluck aus der Bierflasche und fährt fort. Wer weiß denn schon, dass wir bei allen spektakulären Fortschritten der Medizin, Kriegsverletzungen heute noch erfolgreich nach Prinzipien versorgen, die mehr als tausend Jahre alt sind. Die aber immer wieder vergessen werden. Oder nimm deine „Wasserspiele" bei chronischen Knochenentzündungen. Schon die Neandertaler haben von der heilenden Kraft des Wassers gewusst. Viele unserer lieben Kollegen betrachten das als primitiv und unwissenschaftlich, aber es hilft.

    Gut, Philip, unterbreche ich ihn, an Stoff mangelt es nicht. Nur habe ich meine leisen Zweifel, ob meine weisen kriegschirurgischen Belehrungen einen Leser in seinen Bann ziehen. Wenn ich denn schreibe, möchte ich etwas von der rauen Wirklichkeit vermitteln. Schließlich haben nur wenige Menschen in unserem friedlichen Europa eine Vorstellung davon, dass Kriege keine „chirurgisch präzise Ausschaltung" von militärischen Zielen sind, wie es uns die zensierten Fernsehbilder vorzugaukeln versuchen, sondern häufig ein unmenschliches Gemetzel an der Zivilbevölkerung. Und wer ahnt wirklich, dass die malerisch bunten Flüchtlingsströme auf unseren Bildschirmen keine folkloristischen Wanderbewegungen sind, sondern Folgen grausamer Vertreibung mit Verlust von Angehörigen, Heimat, Haus und Hof.

    Wer macht sich schon klar, dass vier Fünftel der Weltbevölkerung von den medizinischen Standards, die wir als selbstverständlich voraussetzen, und über deren Qualität wir immer wieder meckern, nur träumen können. Und wem ist bei uns wirklich bewusst, dass der Großteil der Menschheit für das tägliche Brot vom ersten bis zum letzten Licht hart schaffen muss, während wir im Westen streiken, wenn wir in der Woche nur eine Stunde länger arbeiten sollen.

    Sag ich es doch, fällt mir Philip ins Wort, dann geht vielleicht dem einen oder anderen unserer lieben Zeitgenossen mal ein Licht auf, in welch paradiesischem Frieden, auf welcher Insel der Seligen er leben darf.

    O. k., Philip, zum Kummer der Leute im Generalsekretariat habe ich zwar nie ein korrektes Einsatztagebuch geführt, aber ich habe mir regelmäßig Notizen gemacht und Berichte geschrieben. Doch ich kämpfe da noch mit einem anderen Problem. Ich erkenne ja an, wie das Rote Kreuz sich müht, die Zustände für die Unglücksopfer zu verbessern, aber bei den menschengemachten Katastrophen wie Krieg, Vertreibung oder Verelendung ganzer Völker durch Handelsblockaden sind wir zu zaghaft, zu zurückhaltend. Die Stimme des Roten Kreuzes ist zu leise.

    Ich hielt zum Beispiel die Bombardierung des Kosovo für völkerrechtswidrig. Die selbstherrliche Klassifizierung der Gefangenen in Camp X-Ray in Guantanamo Bay als unlawful combatants, gesetzlose Kämpfer, widerspricht eindeutig der Dritten Genfer Konvention. Und das lange Embargo gegen den Irak und auch heute noch gegen Kuba richtet sich vornehmlich gegen die Zivilbevölkerung. Das ist ein Bruch der Vierten Genfer Konvention, auch wenn dort zurzeit kein Krieg herrscht. Auch Hunger ist Krieg, hat Willy Brandt einmal gesagt.

    Philip schüttelt den Kopf. Das darfst du natürlich nicht schreiben. Du kennst doch die sieben Prinzipien der Rotkreuz-Bewegung: Humanität, Unabhängigkeit, Freiwilligkeit, Einigkeit, Universalität, Unparteilichkeit und Neutralität. Ich wiederhole Unparteilichkeit und Neutralität. Wir dürfen uns nicht auf eine Seite schlagen.

    Ich trinke mein Bier aus und schüttele den Kopf. Philip, mit einem Maulkorb kann ich kein Buch schreiben. Bei allem Verständnis für ein diplomatisches Vorgehen, wenn Humanität, also Menschlichkeit, unser oberstes Prinzip ist, dann müssen wir laut aufschreien, wenn wir Zeugen werden von Verstößen gegen das Humanitäre Völkerrecht und bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

    Au weia, sagt er und erhebt sich ächzend aus seinem Campingstuhl, das gibt Ärger. Aber vielleicht haben Dinosaurier, ein antikes Fossil wie du, ja einen Freibrief und das Generalsekretariat freut sich, wenn du ihnen jetzt dein Einsatztagebuch nachlieferst.

    Wenn du mit der Wahrheit zurückhältst,

    wenn du die Wahrheit verbirgst,

    wenn du in der Öffentlichkeit sprichst,

    ohne die ganze Wahrheit zu sagen,

    dann bist du weniger wahr als die Wahrheit.

    Jack London

    Lokichokio, Einsatzbeginn mit einem Heimspiel

    Zum Roten Kreuz, bitte, sage ich dem Taxifahrer am Flughafen in Genf. Quelle Croix Rouge? La Fédération ou le Comité International de la Croix Rouge? Jetzt wird es schwierig. Zum einen fehlen mir die Vokabeln für weitere Erklärungen, zum anderen die Kenntnis, dass es zwei Rotkreuz-Organisationen gibt. Das kommt davon, wenn man den Einführungskurs beim Roten Kreuz nicht mitgemacht hat. Es gibt tatsächlich zwei Rotkreuz-Gesellschaften in Genf. Dass es so ist, lernt man schnell. Warum das so ist, ist schon etwas schwieriger zu begreifen. Der Taxifahrer bringt mich glücklicherweise gleich zu dem richtigen Verein, dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz, IKRK, bei dem ich erwartet werde.

    Warum ich hier in Genf bin? Acht Jahre habe ich als Chirurg in Afrika gearbeitet, wohin mich meine Familie treu begleitet hat. Zunächst waren wir vier Jahre in einem Buschhospital in Togo und danach vier Jahre bei den Flying Doctors in Kenia. Aber nun will meine Frau nicht mehr. Acht Jahre in den Tropen sind genug, sagt Ille. Ich brauche keine exotischen Paradiese mehr, keine Traumstrände und die Tropenhitze geht mir auf den Geist. In Wirklichkeit hat sie eine unangenehm juckende Hitzeallergie entwickelt. Außerdem müssen die Kinder in einen geregelten Schulbetrieb. Der war in Kenia in der Deutschen Schule ja nicht schlecht, aber wo gibt es den sonst für eine Familie, deren Vater in der so genannten Dritten Welt an wechselnden Orten arbeitet.

    Aber was soll ich in Deutschland? Mich wieder in den bürokratischen Krankenhausbetrieb eingliedern? Mich gängeln lassen von selbst ernannten Gesundheitsexperten? Mich ärgern über Patienten, die meist nichts oder nur wenig haben, zumindest im Vergleich zu dem, was wir in den letzten acht Jahren erlebt haben? Mich wieder nur noch auf mein Fach beschränken? All das, was ich in den vergangenen Jahren dazugelernt habe, nicht mehr anwenden können? Nie und nimmer! Wir einigen uns auf einen Kompromiss: Die Hälfte des Jahres darf ich im Ausland arbeiten. Dazu ein paar gut bezahlte Krankenhausvertretungen in Deutschland und Illes Gartenerträge, das sollte reichen, um die Familie zu ernähren.

    Aber wie kommt man zu zeitlich begrenzten Auslandseinsätzen? Ich wende mich ans Deutsche Rote Kreuz und füge meinen Lebenslauf bei. Nach ein paar Wochen erhalte ich eine Larifari-Antwort. Meine Vita sähe ja ganz ordentlich aus. Man würde mich in den nächsten Monaten mal zu einem Einführungskurs einladen und dann sähe man weiter. Das wird wohl nichts, grüble ich beim abendlichen Rotwein. Aber was nun?

    Schon am nächsten Morgen kommt ein Anruf des Deutschen Roten Kreuzes aus Bonn. Ob ich, am besten gestern noch, als Chirurg für drei Monate nach Lokichokio in Nordkenia gehen könne? Loki, nichts lieber als das. Das wird ein Heimspiel. Aber so verpasse ich den Einführungskurs und habe ihn bis heute noch nicht nachgeholt.

    Das IKRK residiert in Genf in einer eindrucksvollen Villa und zahlreichen Nebengebäuden an der Avenue de la Paix, der Friedensallee. Nach der gestrigen ersten Einführung im Generalsekretariat des Deutschen Roten Kreuzes in Bonn folgt hier die nächste Ein-satzeinweisung. In der chirurgischen Sektion erzählt man mir, welche Chirurgie ich machen werde. In der nächsten Abteilung erfahre ich etwas über die politische Situation im Sudan, danach über die Lage in Kenia und in Lokichokio. Ich hetze atemlos meinem vollen Terminplan hinterher, Verhaltensregeln für Rotkreuz-Leute, Einhaltung der Sicherheitsbestimmungen, wie bleibe ich gesundheitlich fit, Umgang mit den Medien, Abrechnungsregelungen und noch einiges mehr, was ich vergessen habe. Aber dieser Tag geht auch vorüber.

    Beim letzten Termin erhalte ich schließlich mein Flugticket und nachts sitzen wir im Flieger nach Nairobi. Dazu gestoßen sind noch Marjalisa, die neue Oberschwester für Loki aus Finnland, und Margret, eine Krankenschwester aus Dänemark, die im Sudan arbeiten soll. Wir landen am frühen Morgen in Nairobi. Das ist fast wie Heimat. Wie habe ich den chaotischen Verkehr vermisst, die Schlaglöcher in den Straßen, die überfüllten Matatus (Sammeltaxis), das Dauerhupen, Rechts-Links-Überholen, Ampeln nicht beachten, der Verkehr fließt – allerdings zu welchem Preis? Mit gerade mal 30 Millionen Einwohnern hat Kenia viermal mehr Tote auf der Straße zu beklagen als Deutschland.

    Wir sind todmüde. Jetzt ins Hotel und schlafen. Das könnte uns so passen. Der IKRK-Fahrer, der uns am Flughafen abholt, bringt uns in die Delegation zur nächsten Einweisung. Es fängt an bei Patrick, dem Delegationsleiter, oder auf Englisch Head of Delegation (HoD), ein vornehmer Mensch, braun gebrannt mit Schlips und Kragen, Golfausrüstung neben dem Schreibtisch. HoDs sind kleine Könige in ihrem Revier, werde ich in den folgenden Jahren lernen, die sich wenig von Genf dreinreden lassen. Manche sind hervorragend und manche sind ziemliche Idioten, aber man muss mit ihnen leben. Er erzählt uns über die Politik im Sudan und in Kenia. Der Nächste spricht über Sicherheitsregeln, eine andere über Gesundheitsvorsorge... Nun, bitte, nicht noch einen Vortrag über Chirurgie. Ich kenne doch Loki viel besser als ihr alle zusammen. Nein, der Logistiker erzählt uns über die Schwierigkeit, das Krankenhaus und unsere Einsatzorte im Sudan zu versorgen. Ein Kilogramm Material, das schließlich im Sudan landet, hat fast 100 Dollar für den Transport gekostet. Das ist allerdings auch für mich neu. Das Korn, das wir dort an die hungernde Bevölkerung verteilen, kann man fast mit Gold aufwiegen.

    Gegen Mittag werden wir zum Wilson-Airport gefahren, um mit einer Rotkreuz-Maschine nach Loki zu fliegen. Viele Ruhepausen gibt man uns beim Roten Kreuz wahrlich nicht. Schließlich kann ich es doch nicht lassen, meinen Mitreisenden zu erzählen, warum mir Lokichokio so vertraut ist. 1983 hatten die Auseinandersetzungen zwischen der Zentralregierung in Khartum und den Rebellen John Garangs im Südsudan begonnen. Es ist ein Krieg zwischen den hellhäutigen Arabern im Norden und den Schwarzen im Süden, zwischen den Sklavenjägern und den Sklaven, zwischen denen, die sich täglich mehrmals nach Mekka verbeugen, und denen, die nach christlichem Glauben leben oder Naturgottheiten anbeten.

    Von der Weltpresse wird dieser Konflikt, der sich bald über den ganzen Süden ausweitete, als ein Kampf zwischen Islam und Christentum aufgebauscht. Und die Christen, massiv mit Geld und Waffen aus Amerika unterstützt, sind natürlich „die Guten". Aber es geht vor allem um die gewaltigen Ölvorkommen im Bahr el Gazal, im mittleren Sudan, von denen auch die Bewohner im Süden profitieren wollen. Die ersten Verwundeten retteten sich über die Grenze nach Nordkenia. Es wurden schließlich so viele, dass sich das IKRK, um seinem Mandat gerecht zu werden, um sie kümmern musste. Die Verletzten wurden in das staatliche Krankenhaus von Lodwar in Grenznähe gebracht, wo der englische Chirurg Don Gilchrist sich ihrer annahm. Don ist ein seltsamer Vogel, ein Asket, der nur von Tee, Brot und Honig mit Käse lebt und hier in dieser gottverlassenen Hitzehölle schon seit sieben Jahren arbeitet. Don ist ein guter Chirurg, aber manchmal rief er mich als Flying Doctor zu einem schwierigeren Fall, den wir dann gemeinsam zu meistern versuchten.

    Irgendwann im Sommer 1985 erhielten die Flying Doctors einen Anruf vom IKRK. Don Gilchrist musste aus familiären Gründen nach England zurück, ob ich mich in den nächsten Wochen um die Verwundeten in Lodwar kümmern könne. Ich flog mit meiner OP-Schwester nach Lodwar und fand etwa 25 Verwundete in miserablem Zustand in einem unerträglich stinkenden Raum, meist zu zweit in einem Bett, mit verschmutzten eitrigen Verbänden. Ich musste erst einmal hinaus an die frische Luft. Unter starken Schmerzmitteln, oder unter Narkose, säuberten wir die Wunden und wechselten die Verbände. Bei zwei septischen Patienten musste ich das Bein amputieren, in der Hoffnung, sie damit noch retten zu können. Zwei Tage später flogen wir wieder nach Lodwar, aber mir war klar, so ging das nicht weiter. Die Patienten mussten aus diesem dreckigen Krankenhaus heraus und brauchten vernünftige Pflege. Wir vereinbarten mit dem Roten Kreuz, dass wir die Verwundeten nach Wamba, einem hervorragenden Missionshospital italienischer Nonnen in Mittelkenia, fliegen und sie dort behandeln würden. Das geschah noch am gleichen Tag. Alles wäre gut gewesen, wenn Kenias Präsident Daniel arap Moi nicht die Angst vor sudanesischen Rebellen mitten in Kenia erfasst hätte. Die Flüge wurden verboten und das IKRK musste sich etwas einfallen lassen, um den Verwundeten, deren Zahl immer größer wurde, zu helfen. Wichtige Leute aus Genf sprachen bei AMREF vor. AMREF steht für African Medical and Research Foundation, Gesellschaft für Medizin und Forschung in Afrika. Die Flying Doctors sind nur eine kleine Sparte innerhalb von AMREF. Noch wichtigere Leute kamen aus Genf. Man traf sich, man diskutierte.

    Ich wusste, dass die African Inland Church an der Sudangrenze in Lokichokio ein kleines Krankenhaus unterhielt, vor allem für geburtshilfliche Fälle. Es gab auch einen Operationssaal, aber der war leer und unbenutzt. Warum nicht den OP ausrüsten, draußen ein paar Zelte aufstellen und schon hatte man ein Feldhospital. Man schüttelte den Kopf. Die Leute flogen wieder zurück. Andere Experten kamen. Wir diskutierten wieder. Schließlich fand man meine Idee doch nicht so abwegig. Die Mission erklärte sich bereit, dem Roten Kreuz den OP-Saal und Gelände für Patientenzelte im Krankenhausbereich zur Verfügung zu stellen. Die Ausrüstung des Operationsraums wurde vom IKRK bezahlt und sollte nach Beendigung des Einsatzes an die Mission übergehen. Gillian, eine unserer Operationsschwestern, half bei der Einrichtung. Das Material kam teils aus der Schweiz, teils wurde es in Nairobi besorgt. Neben dem Krankenhaus entstand eine Personalunterkunft mit Essraum, Küche und Schlafhütten. Nach zehn Tagen war das Feldhospital einsatzbereit. Sven, Chirurg aus Schweden, flog mit seinem Team ein und wollte anfangen zu operieren. Halt, stopp, sagte plötzlich der Bischof der African Inland Church, das Rote Kreuz ist ja gar keine christliche Organisation. Es kann deshalb selbstverständlich nicht in unserem christlichen Haus operieren. Sven flog mit seinen Leuten wieder nach Nairobi zurück und harrte frustriert im New Stanley Hotel auf die endgültige Entscheidung des frommen Mannes. Diese konnte er jedoch wegen des plötzlichen Todes eines seiner Söhne erst acht Tage später treffen. Abends traf ich den unglücklichen Sven gelegentlich zu einem Trostbier im Café unter der alten Schirm-akazie, die schon Karen Blixen und Dennis Finch Hatton Schatten gespendet hat. Die endgültige Entscheidung des Bischofs war Nein, definitiv Nein. Von der Bergpredigt, der Liebe zum Nächsten, zu seinen leidgeprüften, verwundeten christlichen Brüdern aus dem Südsudan, hatte der Mann wohl noch nichts gehört.

    Jetzt musste sich das IKRK schnell etwas Neues einfallen lassen. Diesmal wurde die Entscheidung rasch getroffen. Ein neues Krankenhaus sollte gebaut werden. Die Frage war nur, wo? In Loki gab es kein passendes Grundstück, auf dem man auch Wasser findet. AMREF, das auf einem Gelände, vier Kilometer von Lokichokio entfernt, ein Hundebandwurm-Forschungsprojekt betreibt, bot dem Roten Kreuz einen Teil dieses Areals an. Ein tüchtiger Baumeister schaffte in vier Monaten den Bau des Krankenhauses von Lopiding, so heißt das benachbarte Turkana-Dorf. Zu Anfang bestand das Hospital nur aus einem Bettenhaus und einem zweiten Längsbau mit Operationssaal, Sterilisationsraum, einem Vorraum für kleinere Eingriffe, einem Röntgenraum und einem Büro. Dumm nur, dass die Personalunterkünfte nun in vier Kilometer Entfernung liegen. Ein weiteres Ärgernis, aber das stellt sich erst später heraus, ist der Aman-Fluss vor dem Krankenhaus. Elf Monate lang liegt sein Bett trocken, aber wenn in den Uganda-Bergen der Regen einsetzt, füllt es sich in wenigen Stunden und wird zu einem reißenden Strom, der verhindert, dass die Leute zum Krankenhaus gelangen oder von der Arbeit zurückkommen können. Und das manchmal über mehrere Tage. Das Krankenhaus wuchs rasch. Auch die Personalunterkünfte wurden immer erträglicher, wie ich in den folgenden Jahren feststellte, wenn man die Flying Doctors gelegentlich rief, um das chirurgische Team bei einem Masseneinfall von Verwundeten zu unterstützen.Auch jetzt, bei unserer Ankunft, wird noch mächtig gebaut. Von Lokichokio aus wird auch der Einsatz von Schwestern und Pflegern in Gesundheitsstationen des IKRK im Sudan gesteuert.

    Todmüde warten wir über eine Stunde auf den medizinischen Koordinator Baptiste, der erstmal seine Siesta beenden muss. Als er schließlich ausgeschlafen erscheint, hängen wir drei Neuen völlig in den Seilen. Er will gleich mit einer weiteren Einweisung beginnen. Nee, Baptiste, für heute reichts. Auch die Information durch die medizinische Verwalterin und die politische und die Sicherheitseinführung des Leiters der Unterdelegation, die du da auf dem Zettel hast, können wir auf morgen verschieben.

    Diese Weigerung legt den Grundstein für eine gegenseitige Antipathie während meines ganzen Einsatzes.

    Ja, mir ist Loki vertraut, aber irgendetwas stimmt hier nicht. Die Leute laufen mit verkniffenem Gesichtern herum. Man spricht nicht miteinander. In der neuen, luxuriösen Cafeteria beansprucht das medizinische Team, in dem die Finnen den Ton angeben, den großen Tisch in der Mitte und lässt keinen anderen heran. Finnland hat vor drei Jahren die Einrichtung des Krankenhauses bezahlt. Eigentlich ist es also ihr Reich. Und nun kommen diese vielen arroganten Schweizer, die nicht mal richtiges Englisch sprechen. Franglais nennen sie es verächtlich. Markku, der junge Chirurg, Oliki, Anästhesistin, Margit, Operationsschwester, und Ilkka, Stationspfleger, sind ein verschworener Haufen. Finnen können ganz schön von sich überzeugt sein und wenn sie mürrisch sind, dann sind sie richtig mürrisch. Sie kriegen den Mund nicht auf und von Zuhören ist erst recht keine Rede. Gott sei Dank lässt sich Marjalisa, erfahrene IKRK-Schwester und unsere neue Chefin, nicht von diesem Isolationsvirus anstecken. Mit ihrer Hilfe gelingt es dann auch in den folgenden Wochen, das Eis zu brechen. Die Finnen werden richtig fröhlich.

    Als ich zum ersten Abendessen an den Medizinertisch komme, sitzt da ein Schwarzer. Ich weiß, dass wir den kenianischen Krankenpfleger Simon im Team haben. Stolz begrüße ich ihn mit Namen. Das ist ein Fehler. Es handelt sich nämlich um den tiefschwarzen venezuelanisch-schweizerischen Herzchirurgen Dr. Philip, den ich ablösen werde. Das ist peinlich, aber er nimmt es gelassen. Er hat sich damit abgefunden, wie ich später erfahre, dass man seine chirurgische Überqualifikation in diesem primitiven Feldhospital ohnehin nicht richtig zu würdigen weiß.

    Um 7 Uhr morgens sammeln sich die Wanderer, die den Weg ins Krankenhaus durch die Savanne zu Fuß zurücklegen wollen, vor der Cafeteria. Wir laufen der hochsteigenden Sonne entgegen und sind nach wenigen Minuten völlig durchgeschwitzt. Mein Gott, ist das heiß hier oben. Das hatten wir gestern in unserer Müdigkeit gar nicht bemerkt. Es hatte ein paar Tage vorher geregnet und nun ist der Boden bedeckt mit frischem Grün und gelben Blümchen. Hirten treiben ihre Herden aus den Krals, ihren von Dornhecken umgebenen Gehöften, in die Ebene. Der Wind bläst uns ins Gesicht. Als wir uns dem Krankenhaus nähern, fängt es bestialisch an zu stinken. Ich kann nicht glauben, dass der Gestank aus unserem Krankenhaus kommt. Die erste Visite bei den Patienten belehrt mich eines Besseren.

    Das Hospital wurde seit meinem letzten Besuch mit den Flying Doctors durch zahlreiche große Zelte erweitert und beherbergt jetzt 125 Verwundete.

    Nun wird es etwas medizinisch, kriegsmedizinisch: Verletzungen, ob durch Kugeln, Splitter, Minen, sind naturgemäß durch die hohe Energie, mit der sie in den Körper eindringen, und das Material, das sie in die Wunde hineinziehen, wie Stoff, Erde, Gras oder andere Fremdkörper, massiv verunreinigt. Ob sich diese Wunde nun entzündet, hängt davon ab, ob der Verwundete in den nächsten acht bis zehn Stunden in die Hände eines Arztes kommt, der sein Handwerk versteht. Das heißt, er muss das zerstörte Gewebe gründlich herausschneiden und alles Fremdmaterial und lose Knochensplitter entfernen. Damit die Wundschwellung zurückgehen kann, darf die Wunde zunächst nicht verschlossen, und auch der Verband sollte in dieser Zeit nicht gewechselt werden. Erst nach fünf bis sechs Tagen, wenn nach korrekter Wundausschneidung die Entzündungsgefahr vorbei ist, wird sie zugenäht. Das sind Regeln, die schon unsere Vorväter kannten, nur werden sie bedauerlicherweise immer wieder vergessen. Hier im Sudan, dem größten Land Afrikas, kommt hinzu, dass bei den verstreuten Gefechten, den großen Entfernungen und den miserablen Transportmöglichkeiten die Verwundeten niemals einen Doktor innerhalb von zehn Stunden nach der Verletzung sehen. Aus dem Grenzgebiet werden sie mit Lastwagen gebracht oder bei weiterer Entfernung mit Flugzeugen des IKRK nach Loki geflogen. Meist sind die Wunden mehrere Tage alt, manchmal auch Wochen und sie sind hochgradig infiziert. Oft ist auch schon der Knochen entzündet. Im Sudan wurde das Infektionsrisiko noch vergrößert durch eine Anordnung des Gesundheitsministeriums in Khartum, Schussverletzungen sofort zu verschließen. Für die erste Behandlung von alten entzündeten Verletzungen gelten die gleichen Spielregeln wie für frische Verwundungen: Alles geschädigte, das heißt, alles zerstörte und entzündete Gewebe muss entfernt werden. Das hatte bereits der persische Arzt und Philosoph Avicenna vor mehr als 1000 Jahren gelehrt.

    Ich muss die erste Visite mehrfach unterbrechen, um draußen frische Luft zu schnappen. Jede Wunde ist vereitert und stinkt zum Erbrechen. Die meisten Patienten leiden an einer chronischen Knochenmarksentzündung, bei der ein Schussbruch kaum heilen kann. Irgendetwas ist hier schief gelaufen. Klar, entzündete Knochenbrüche sind immer ein schwieriges Problem, aber so katastrophal muss das nicht aussehen. Das Krankenhaus hatte in den letzten Monaten viel zu wenig Fachpersonal. Es gab keine erfahrenen Krankenschwestern, die die Verbandswechsel durch die sudanesischen Helfer überwachen konnten. Eine Krankengymnastin fehlte. Als Chirurgen hatte man zunächst einen Gynäkologen, dann einen Urologen und schließlich den Herzchirurgen Dr. Philip aus Genf geschickt, den ich jetzt ablösen soll. Das sind ja alles nicht gerade Fachrichtungen, die sich mit septischer Chirurgie auskennen.

    Aber nun kann ja alles nur besser werden. Zum ersten Mal hat das Krankenhaus eine alles überwachende, erfahrene Oberschwester. Sie ist übrigens auch mein Chef, eine Spezialität in Feldkrankenhäusern des IKRK. Das habe ich allerdings nie bemerkt, so gut verstehen wir uns. Dann kommen Hedwig, eine Krankengymnastin aus Belgien, Wendy, Stationsschwester aus Australien, Olga aus Finnland, Jeremy, ein fröhlicher Narkosearzt aus England, und schließlich noch Tinneke aus Holland als zweite Operationsschwester. Wir werden ein tolles Team.

    Wir haben Glück. Zurzeit herrscht Waffenstillstand und Neuzugänge werden seltener. So können wir uns ganz auf diese jämmerlichen Patienten mit den alten vergammelten Wunden konzentrieren.Markku, der junge finnische Kollege, hatte bereits begonnen, die infizierten Wunden nach den Regeln auszuschneiden, aber auch mit breiter antibiotischer Abdeckung kann man diese Verletzungen nicht nach fünf Tagen schließen. Was tun?

    Acht Jahre Arbeit in Afrika mit den vielen Knochenmarks- und tropischen Muskelentzündungen hat septische Chirurgie zu einem meiner Steckenpferde werden lassen.

    Chronische Osteomyelitis, das heißt chronische Knochenmarksentzündung, war in der Vorantibiotikaära eine häufige Erkrankung und der Schrecken eines jeden Chirurgen, da sie fast allen Behandlungsbemühungen zu trotzen pflegte. Die Ursache war meist eine damals nicht behandelbare akute, auf dem Blutweg verbreitete Knocheninfektion. Sie führte zum Absterben ganzer Knochen, zur Bildung eitriger Fisteln und konnte schließlich den ganzen Körper vergiften. Wir haben auch im Westen heute noch viele Fälle von chronischer Knochenentzündung. Doch die sind meist Folge einer Infektion offener Knochenbrüche, oder häufiger noch, Folge operativer Knochenbruchbehandlung. Schamvoll – oder schamlos? – hat man sie deshalb umbenannt zu posttraumatischer Osteitis, Knochenentzündung nach Unfall.

    Als chirurgischer Lehrling war ich in einem Berufsgenossenschaftlichen Krankenhaus ein halbes Jahr verantwortlich für eine Station von Patienten mit posttraumatischer Osteitis. BG-Krankenhäuser sind oder waren zumindest damals reiche Einrichtungen, in denen an nichts gespart wurde. Wir operierten so radikal wie möglich, wir verordneten die neuesten und teuersten Antibiotika, spülten die Wunden 24 Stunden, sieben Tage die Woche mit Antibiotikainfusionen und wir brachten mit Antibiotika versetzten Knochenzement in die Knochenhöhle ein. Ich muss allerdings zugeben, viele Patienten habe ich in diesen sechs Monaten nicht als geheilt entlassen können. Ich traf und treffe auch heute immer wieder Chirurgen, die sagen: Einmal Osteomyelitis, immer Osteomyelitis! Das heißt, das Leiden ist nicht kurierbar. Diese resignative Haltung habe ich mir nie zu eigen gemacht.

    In Afrika grassiert noch immer die chronische Osteomyelitis als Folge nicht oder unzulänglich behandelter, auf dem Blutweg übertragener Knochenentzündung. Die Krankenhäuser, in denen ich nun arbeitete, waren nicht reich wie mein ehemaliges Unfallkrankenhaus. Ich konnte keine teuren Antibiotika einsetzen, die ohnehin dabei wenig helfen. Ich konnte auch keine Dauerspülung mit teuren sterilen Infusionslösungen machen. Da stand ich nun vor der Frage, was tun, nachdem man so radikal wie möglich das entzündete Gewebe und den abgestorbenen Knochen entfernt hatte? Das Wundbett ist ohnehin nicht sauber nach der Operation. Mit dem Skalpell allein kann man die Keime nicht entfernen. Warum muss ich dann eigentlich sterile Infusionslöungen benutzen? Normales Quell- oder Brunnenwasser enthält zwar ein paar Keime, aber die sind harmlos und fallen bei der ohnehin vorhandenen Keimbesiedlung der Wunde nicht ins Gewicht. Also begannen wir, die operierte Knochenwunde täglich zehn Minuten lang mit normalem Brunnenwasser zu spülen. In den ersten Tagen tut das weh und man muss ein kräftiges Schmerzmittel geben. Nach ein paar Tagen können die Patienten selber ihre Wunde duschen. Die Eiterung hört auf, die Wunde füllt sich aus der Tiefe mit Heilgewebe und kann geschlossen werden. Wenn der Eiterfluss anhält, dann hat man nicht sauber genug operiert und entzündetes Gewebe oder abgestorbenen Knochen zurückgelassen. Dann muss man eben noch mal ran. Aber die Erfolge sind verblüffend.

    Diese Methode führe ich nun in Loki ein. Aus Nairobi werden einige Meter Gartenschlauch besorgt und die beiden offenen Wasserstellen sind fortan besetzt mit Patienten auf Tragen oder in Rollstühlen, deren Wunden von den sudanesischen Hilfspflegern nach Anleitung durch unseren kenianischen Duschmeister Aduma sorgfältig und lange gespült werden. Markku und ich operieren von morgens bis abends und Aduma überwacht die Wasserspiele, auch „shower business" genannt. Und der Erfolg lässt nicht lange auf sich warten. Die Wunden hören auf zu eitern, die Knochenbrüche beginnen zu heilen und der Gestank auf den Krankenstationen verschwindet. Die parfümierten Gesichtsmasken, eine Erfindung unserer Schwester Cora aus Wien, mit denen wir anfänglich die Zelte betraten, werden überflüssig. Und mit der Besserung unserer Patienten verbessert sich auch die Stimmung im Team. Man freut sich richtig darauf, am nächsten Morgen wieder ins Krankenhaus zu gehen.

    Ille schreibt auf meine Schilderungen aus dem Krankenhaus, es ist doch sinnlos, was ihr da macht. Da flickt ihr die Leute zusammen, nur damit sie nach der Entlassung gleich wieder zu einer Waffe greifen, um sich erneut in die Schlacht zu stürzen. Abgesehen von Bauch- oder Brustschüssen, die überleben, kampffähig kommen die Patienten selten hier heraus. Entweder fehlt ihnen ein Arm oder Bein, Gelenke sind steif oder ganze Muskelbereiche sind weggeschossen. Das ist schon eher eine Armee von Krüppeln, die wir entlassen.

    Das Freizeitangebot in Lokichokio hält sich in Grenzen. Wir können in der Cafeteria gelegentlich einen Videofilm sehen. Das ist es auch schon. Halt nein, freudig begrüßt und von allen hoch geschätzt wird das kleine Schwimmbecken, etwa fünf mal zehn Meter groß, zwei Meter tief, das gleichzeitig mit dem Krankenhaus oben auf einer Felsnase gleich neben der Zisterne gebaut wurde. Es gibt wundersame Geschichten über seine Entstehung. Also AMREF habe die Arbeitskräfte geliefert und das IKRK Baumaterial, das übrig war. Und wie ist die Umwälzpumpe deklariert worden? Die passt selbst nicht zu einem Feuerlöschteich, zu dem man häufig solche Freizeitannehmlichkeiten in tropischen Projekten deklariert. Offiziell ist also niemand für den Bau verantwortlich. Einerlei, es ist ein Spaß, wenn im Krankenhaus nichts los ist, mal eben ins Becken zu springen. Außerdem ist das Schwimmbad ein idealer Platz für Partys.

    Endlich Wochenende. Hitze, Arbeit und Alter schlauchen doch ganz schön. Die Ankunft von fünf Schwestern aus dem Sudan ist angekündigt, die sich in unserer Luxusherberge ein wenig vom Feld erholen sollen. Tolle Frauen, raunt man unter der Hand. Gewiss, wir haben ja auch nette Schwestern um uns herum, aber die sind irgendwie neutral, zu viel Nähe,

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