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Der goldene Skalp: Wie uns die mafiösen Machenschaften der Gesundheitsindustrie das Fell abziehen
Der goldene Skalp: Wie uns die mafiösen Machenschaften der Gesundheitsindustrie das Fell abziehen
Der goldene Skalp: Wie uns die mafiösen Machenschaften der Gesundheitsindustrie das Fell abziehen
eBook377 Seiten4 Stunden

Der goldene Skalp: Wie uns die mafiösen Machenschaften der Gesundheitsindustrie das Fell abziehen

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Über dieses E-Book

Vor 20 Jahren hat die Publizistin Renate Hartwig mit ihrer unbestechlichen und unerschrockenen Art Scientology über massive Öffentlichkeitsarbeit die Stirn geboten. Sie hat durch breite Thematisierung verhindert, dass diese totalitäre Institution in Deutschland wie gewünscht Fuß fassen kann. Heute klagt sie ein anderes System mit skandalösen Zügen an: unser Gesundheitswesen, das, durch die Rahmenbedingungen der Politik gedeckt, ein mafiöses System betreibt. Messerscharf recherchiert Hartwig, wie das Solidarsystem in eine Kommerzmaschine umgewandelt wurde. Sie berichtet von ihren Erlebnissen und Erfahrungen in den Machtzirkeln der Ärztefunktionäre. Entlarvt die Käuflichkeit und Feigheit sowie den Verrat der Patienten vonseiten der Masse der Ärzteschaft. Zeigt auf, wer profitiert und wohin die Gelder verschwinden und wie Kassenpatienten ausgeplündert werden: monetär, seelisch und als Ware. Im Zentrum stehen nicht weniger als die Frage nach Vertrauen, der Würde des Menschen und der Umgang mit Leben und Tod. Dem Kommerz zum Trotz: Der Mensch ist mehr als nur ein Glied in der finanziellen Wertschöpfungskette!
SpracheDeutsch
HerausgeberFontis
Erscheinungsdatum30. Juni 2014
ISBN9783038485667
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    Buchvorschau

    Der goldene Skalp - Renate Hartwig

    1. Die Wut eines Greenhorns

    Ich war ein Greenhorn, eingeklemmt in den Sitz eines Reisebusses, auf meinem Weg in eine neue Welt. Greenhorns waren Männer und Frauen, die in ein unbekanntes Amerika aufbrachen, um ein neues Leben zu beginnen. Sie waren unerfahren und hatten keine Vorstellung von dem, was sie hinter dem Ozean erwartete. Sie waren perfekte Opfer für die Spießgesellen, die das raue Leben im neuen Land schon kannten. Die nutzten ihre Unerfahrenheit aus und benutzten sie für ihre Pläne. Es fällt mir nicht leicht, mir das einzugestehen: Aber genauso ein Greenhorn war ich auch. Und lange habe ich die Wahrheit nicht gesehen.

    Vor acht Jahren begann meine Reise. Mit dem Bus fuhr eine Gruppe Hausärzte nach Nürnberg zu einem Treffen, bei dem sie richtig Dampf ablassen wollten. Sie waren wütend und verzweifelt. Überall um mich herum klagten Männer und Frauen über ihre Situation. Sie schimpften und fluchten über ein Gesundheitssystem, in dem sie Gefangene bei Wasser und Brot waren. Aber keine Ärzte mehr, die gerne Patienten behandelten. Sie hatten Angst um ihre Zukunft, denn die Entscheider hatten sie an der Kehle gepackt und drückten ihnen die Luft ab. Die Honorare waren schlecht, und was ich in diesem Bus hörte, machte mir Sorgen: Viele Existenzen und Praxen standen vor dem Ende. Eine Welt ohne Hausärzte? Keine, in der ich leben wollte.

    So lange ich mich erinnern kann, hatte ich nie negative Erfahrungen mit Ärzten gemacht. Begegnungen mit ihnen hatte ich genug: Ich weiß noch heute, wie mein Kinderarzt, Dr. Wagner, ausgesehen hat. Graue Haare, für mich als Kind schien er riesengroß. Ja, er kam mir immer vor wie ein guter Riese. Wenn mir etwas wehtat, dann konnte er das wegzaubern. Ich konnte als Kind nicht verstehen, warum andere Kinder im Wartezimmer weinten und Angst hatten vorm Herrn Doktor.

    Aber es gab noch andere wichtige Ärzte für mich. Mein Vater war in meiner Kindheit schwer krank, und unser Hausarzt, Dr. Euler, kam immer zu uns nach Hause und hat ihn hervorragend betreut. Außerdem hat unsere ganze Familie meine kranke Mutter im Alter mit Unterstützung unseres damaligen Hausarztes daheim gepflegt. Dazu kamen Schwangerschaften, Geburten und natürlich Krankheiten. Alles waren Momente, in denen ich auf Ärztinnen und Ärzte angewiesen war und viele kennen gelernt habe. Sie haben immer das erfüllt, was ich von ihnen erwarte: vertrauensvolle, verlässliche Partner zu sein. Sie haben sich Zeit genommen, zu verstehen und zu helfen.

    2007 änderte sich alles. Da saß ich mit meinem rauen Hals im Sprechzimmer meines Hausarztes. Ich war allein – der Doktor war kurz raus zum Telefonieren gegangen. Plötzlich bewegte sich das Bild auf seinem Computerbildschirm, und ein breiter roter Streifen erschien. «Die Behandlungszeit für diesen Patienten ist abgelaufen», leuchtete da.

    Ich war ziemlich schockiert. Bisher gab es für mich in diesem Zimmer nur den Arzt und mich. Aber auf einmal hatte ich das Gefühl, als würde ein Fremder zwischen uns sitzen und bestimmen, dass ich jetzt zu gehen hätte. Aber ich konnte diesen Fremden nicht sehen und fragte mich: Wer entscheidet hier eigentlich, wie lange der Arzt mit mir reden darf? Ich wollte das verstehen, und als der Arzt zurückkam, habe ich ihn sofort auf dieses Laufband angesprochen.

    Er war ziemlich überrascht, es passte ihm nicht, dass ich den Hinweis auf seinem Bildschirm bemerkt hatte, und er sagte nur: «Ach wissen Sie, das ist das System.»

    Ich wollte, dass er mir das erklärt, aber er meinte: «Dazu reicht mein Budget nicht!»

    Ich war irritiert – bisher hatte ich nicht gehört, dass der Arzt für mich ein Budget hat. Bis dahin war ich immer voll Vertrauen zum Arzt gegangen, aber die Minuten in diesem Behandlungszimmer waren für mich wie ein Schock.

    Es war der Aufbruch in eine neue Welt, von der ich wenige Augenblicke vorher im Wartezimmer noch keinen blassen Schimmer hatte. Eigentlich ist das Bild von der neuen Welt ziemlich absurd, denn der Irrsinn dieses Gesundheitssystems trifft uns schon bei Lappalien wie einem Kratzen im Hals. Eigentlich sollten wir es deshalb kennen wie den Weg zum Hausarzt. So habe ich auch gedacht, dass ich eine Ahnung von diesem System hätte. Ich habe immer geglaubt, dass wir mit unseren Kassenbeiträgen ein Solidarsystem finanzieren, in dem der Gesunde für den Kranken zahlt. In dem Kassen das Beitragsgeld zum Wohle der Patienten verwalten und das nur zu dem einen Zweck existiert: im Krankheitsfall den Menschen mit den notwendigen Mitteln zu helfen.

    Damals wurde mir aber klar, dass wir für das «System» eine völlig neue Landkarte brauchen. Ich merkte zum ersten Mal, dass ich ein Greenhorn war. Zwar habe ich eine Versichertenkarte in meinem Geldbeutel, bin also Bürgerin des Landes «Gesundheitssystem», aber ich wurde wie alle anderen Kassenpatienten schön dumm gehalten. Denn ohne unser Wissen wurde die Gesundheitsversorgung umgepflügt und neu gestaltet, so dass ein gänzlich wildes und unentdecktes Land entstanden ist. In diesem Land herrschen nicht mehr Solidarität, Mitgefühl und Menschenwürde. In diesem Land schwingen die Betriebswirte, Ökonomen und Investoren die Gewinnpeitschen, und Ärzte, Ärztinnen, Schwestern und Pfleger müssen spuren. In diesem Land war ich eine Fremde.

    Wenige Tage später klingelte es bei uns, und vier Ärzte standen vor der Tür. Mein Hausarzt hatte drei Kollegen mitgebracht, und bis spät in die Nacht saßen sie mit uns am großen Tisch im Esszimmer und klagten ihr Leid mit dem Gesundheitssystem. So hörte ich zum ersten Mal Wörter wie «Regelleistungsvolumen», «Fallpauschale» oder «Regress», und die Ärzte erzählten von völlig absurden Abrechnungen.

    Ich war entsetzt: Jeder Arzt bekommt im Quartal pro Patient eine bestimmte Summe. Egal, wie oft der Patient in seine Praxis kommt. Als die vier gegangen waren, sagte ich zu meinem Mann: «Entweder ich lese die falsche Zeitung, oder die vier haben uns die letzten Stunden für dumm verkaufen wollen. Oder sie sind einfach nicht ganz richtig im Kopf!»

    Von dem, was die mir da erzählten, hatte ich noch nie etwas gehört. Es war für mich wie eine Fremdsprache, in der sie sich unterhalten haben. Ich wollte wissen: Welcher Hornochse kommt auf die Idee, ein solches System, von dem 90 Prozent der Bevölkerung abhängig sind, so zu verkomplizieren, dass es niemand mehr versteht?

    Also bin ich bereits einige Wochen später in den Bus eingestiegen und mitgefahren. Ich wollte kämpfen! Denn eine Welt ohne Hausärzte war keine, in der ich leben wollte. Mein Albtraum war, dass die freien niedergelassenen Ärzte weggespart werden und Handelsvertreter der Gesundheitskonzerne ihren Platz einnehmen. Die haben zwar auch Medizin studiert, sind aber für mich keine Ärzte mehr, weil es ihnen nicht um unsere Gesundheit zu gehen hat, sondern darum, den Gewinn ihrer Arbeitgeber zu steigern. Das Ende der Busreise war ein Debakel. Die Ärztinnen und Ärzte wollten, dass ihre Sorgen gehört würden. Stattdessen wurden ihre Redebeiträge von einem anwesenden Politiker, übrigens selbst Arzt, als ein Benehmen wie «Rotz am Ärmel» betitelt. Es wird keine Hilfe kommen. Das wurde mir damals klar.

    Also wollte ich kämpfen. Ich wollte diesen Fremden finden, der den Ärzten im Nacken sitzt und sie zwingt, ihre Patienten abzuspeisen. Ich wollte nicht, dass er unser Gesundheitssystem mit Haut und Haaren verschlingt. Also drehte ich jeden Stein um, ihn zu finden und in die Ecke zu treiben. Ich telefonierte, recherchierte, schrieb Bücher, gründete eine Bürgerinitiative und mietete für eine Demo das Olympiastadion in München. Ich wusste, dass Patienten und Hausärzte gemeinsam für das Gesundheitssystem aufstehen und es im Schulterschluss verteidigen müssen. Sonst würde es niemand machen. Ich hatte immer geglaubt, dass Ärzte und Patienten nichts mehr wollen als eine gute Gesundheitsversorgung erhalten.

    Aber ich war noch immer ein Greenhorn. Und ich musste die Wahrheit schmerzhaft kennen lernen: Es gibt keinen Schulterschluss und kein Mitgefühl mehr. Die Ärzte nutzten mein Engagement und meine Wut für ihre Zwecke aus. In all den Jahren ging es der Masse der Ärzte nie darum, die Systemfehler des Marktes zu beheben; sie hätten die Macht dazu! Aber sie haben sich diesem System angepasst und sich eingerichtet. Es ging immer nur um die Honorare und nie um das, wofür ich eigentlich angetreten bin. Ein Ärztefunktionär hat mir mal höhnisch geraten, ich solle mich besser nicht so für die Ärzte aus dem Fenster lehnen. Denn eins sei sicher: Egal, wer der Schar vorweglaufe, er müsse nur einen Hunderteuroschein hochhalten und die Ärzte würden blind hinterherlaufen. Egal in welche Richtung. Damals habe ich mich öffentlich mit dem Funktionär angelegt, heute muss ich ihm leider recht geben: Für die große Masse der Ärzte stimmt das.

    Das habe ich jahrelang nicht erkannt, und ich habe diese Ärzte immer entschuldigt. Wahrscheinlich liegt das an meiner Prägung als Sozialarbeiterin. Ich habe lange Jahre in der Bewährungshilfe viele schwierige Fälle betreut, an deren Lage angeblich immer etwas anderes schuld war. Und so habe ich Ärzte eben auch entschuldigt und ihr Verhalten gerechtfertigt, so als könnten sie bei diesem System nicht anders reagieren. Aber in Wirklichkeit sind sie selbst verantwortlich. Sie zanken sich um Honorare und Patienten. Der Wettbewerb hat mittlerweile aus Haus-, Fach- und Kinderärzten Konkurrenten gemacht, die sich gegenseitig misstrauen. Da tun mir die Ärzte einerseits leid, andererseits bekomme ich eine riesige Wut auf sie, weil sie es eigentlich in der Hand hätten, das System zu verändern, aber stattdessen im Hamsterrad den Honoraren hinterherrennen.

    Nur die Ärzte und ihr Verhalten zu kritisieren wäre zu kurz gedacht. Wehren wir uns denn als Beitragszahler? Mein Eindruck ist, dass wir schon selbst glauben, in diesem Wildwestkrimi irgendwo auf Öl zu stoßen und selbst Profit aus dem System herauszuschlagen. Uns Patienten bezeichnen die Kassen seit Jahren schon als Kunden, und ich habe immer mehr das Gefühl, dass diese Propaganda mittlerweile in unseren Köpfen Wurzeln geschlagen hat. Wir sind so geblendet und übersehen, dass dieses System das Verhältnis zu uns Menschen komplett verändert hat. Wir sind keine Patienten mehr, und auch unsere Gesundheit ist zweitrangig.

    Nach acht Jahren Recherche und Kampf mache ich mir deshalb nichts mehr vor: Das Solidarsystem existiert nicht mehr. Das ist nur noch ein sozialromantisches Märchen, das wir uns zur Beruhigung vor dem Schlafengehen erzählen. In Wirklichkeit stehen nur noch Ruinen, und die werden Stück um Stück von denen abgetragen und verkauft, die seit Jahren auf die Geldberge unseres Gesundheitssystems aus sind. Denn wir reden hier über einen wachsenden Markt! Durch den fließen jährlich allein an Kassenbeiträgen 190 Milliarden Euro. Plus ca. 70 Milliarden Euro, die durch Zuzahlungen und unzählige Gesundheitsprodukte dazukommen.

    Für ein Stück von diesem Kuchen ist jeder bereit, seinen Nächsten gewinnbringend zu verschachern. Die Krankenkassen die Funktionäre. Die Funktionäre die Ärzte. Die Politiker die Ärzte. Die Ärzte die Patienten. Die Gesunden die Kranken. Die Kranken die Schwerkranken. Denn das neue, marktregierte System verwandelt uns alle, es macht uns krank! Wir nehmen aber gar nicht wahr, was mittlerweile aus Ärzten, Pflegekräften, Patienten und Politikern geworden ist. Unsere Gesellschaft ist längst auch mit dem Virus des Dollar-Fiebers verseucht.

    Rückblickend saß ich acht Jahre lang in einem Kinofilm, in dem sich vor meinem Auge die Auswüchse der menschlichen Gier abgespielt haben. Nur dass dieser Film nicht nach zwei Stunden aus war. Er hat bis heute nicht aufgehört. Nach jedem Ende wartete ein neuer Abgrund. Acht Jahre Lebenszeit habe ich für diese Schmierenkomödie investiert. Eigentlich hatte ich mir geschworen, dass nie wieder ein Thema so Besitz von mir ergreifen darf. Mein Ziel war immer ein menschlicheres Gesundheitssystem – dort bin ich noch nicht angekommen. Unterwegs habe ich aber so viel erlebt, dass ich mich fühle wie ein Container, bis zum Rand angefüllt mit dem Unrat dieses Systems. Ich muss einfach die Türen aufklappen und das alles zu Papier bringen, sonst platze ich noch. Darum ist dieses Buch auch meine Geschichte mit dem System. Ich werde hier die Fakten aufschreiben, die mittlerweile Regale voller Ordner und Boxen in meinem Archiv füllen. Aber auch die vielen Erlebnisse, die mehr als Fakten unserem Gesundheitssystem die Maske herunterreißen.

    Meine Erkenntnis dabei ist: Diese gierigen Fremden, nach denen ich so lange gesucht habe, das sind wir alle. Die Gier beherrscht uns, darum ist unser krankes Gesundheitssystem nicht mehr zu heilen. Es wird immer kränker und schwächer, und die Medikamente, die ihm als politische Reformen gespritzt werden, bringen rein gar nichts. Darum müssen wir die Augen öffnen! Wir haben nur zwei Möglichkeiten: Entweder wir übernehmen als Versicherte und Ärzte endlich Verantwortung und starten neu. Oder wir vergessen das mit der Solidarität und dem Mitgefühl, verhökern das letzte Tafelsilber und finden uns damit ab, dass wir kein Miteinander mehr wollen.

    Dann sollten wir uns aber besser mit dieser Welt anfreunden, die ich Ihnen, werte Leserinnen und Leser, in den nächsten Kapiteln zeigen werde. Und lassen Sie mich jetzt schon sagen, es ist eine hässliche Welt! Und sie wird immer hässlicher. In ihr sind wir allesamt Greenhorns. Leichte Beute. Wirklich gut kennen sich nur die aus, die dieses System gebaut und erdacht haben. Ihnen sind wir als Patienten und Ärzte ausgeliefert.

    2. Wer hat den Bergdoktor auf dem Gewissen?

    Die Nachfahren von Albert Schweitzer gibt es heute nur noch im deutschen Fernsehprogramm. Arztserien wie «Der Bergdoktor», «In aller Freundschaft» und «Familie Dr. Kleist» erzielen regelmäßig gute Einschaltquoten. Die Serien zeigen uns die perfekten Ärzte. Sie haben offene Ohren für ihre Patienten und Mitarbeiter, und wenn es irgendwo Probleme gibt, springen sie sofort ins Auto und rasen los. Das sind natürlich Fantasien von Drehbuchautoren. Doch irgendwie müssen sie die Sehnsucht in uns nach einer heilen Welt anheizen, denn sonst würden wir nicht so oft einschalten.

    Wenn man nach solchen Ärzten in der Realität sucht, stößt man auf keinen Albert Schweitzer. Er war ein Arzt, für den es wichtig war, Menschen zu helfen. Nun ist aber Albert Schweitzer lange tot, und die echten Abbilder des Bergdoktors stürzen gerade vom Felsen ab, auf den wir sie gehoben haben. Eigentlich genießen Ärzte seit Jahrzehnten in unserer Gesellschaft ein sehr hohes Ansehen. Ein «Herr Doktor» zu sein, das ist mal was! Wer Menschen heilt, muss ein Menschenfreund und an sich ein guter Mensch sein. Diese Erwartungen waren sicherlich oft übertrieben, und vielleicht gerade weil sie zu hoch waren, spürt man jetzt die Enttäuschung umso stärker. Denn dieser solide Image-Felsen bröckelt. Immer öfter stehen Ärzte öffentlich als gierig da.

    Die Ärzte sind an solchen Bildern nicht unschuldig. Seit Jahren diskutiere ich mit ihnen über unser System. Solidarität hat die Masse der Ärzte in diesen Jahren aber herzlich wenig interessiert.

    Vor kurzem habe ich mit einem Arzt gesprochen, der zu mir sagte: «Das Solidarystem brauchen wir nicht. Es ist ungerecht.»

    «Wie?», habe ich ihn gefragt. «Ungerecht für wen? Für euch Ärzte?»

    Da hat er unumwunden Ja gesagt: «Im Solidarsystem bekommen wir nicht, was wir verdienen.»

    So ging es all die Jahre in meinen unzähligen Gesprächen mit Ärzten immer nur um einen Punkt: ihre Honorare.

    Aber das Image bröckelt nicht nur bei mir. Auch die Öffentlichkeit wird skeptisch. In den vergangenen Jahren haben die Ärzte für höhere Honorare demonstriert. Viele Patienten rieben sich ungläubig die Augen, als die Ärzte anfingen, sich über zu wenig Geld zu beklagen. Denn der «Herr Doktor», so glauben viele, verdient eher gut als schlecht. Das ist Teil des Bildes, das wir von ihm haben.

    Auf eine Frage möchte ich mich in diesem Buch aber nicht einlassen: Verdienen Ärzte genug? Diese Neid-Debatte bringt uns nicht weiter. Aber interessant ist sie schon deshalb, weil sie entlarvt, dass das Marktdenken auch längst bei uns Patienten angekommen ist. Wir sind Schnäppchenjäger geworden, die gerne in einem Discount-Gesundheitssystem beim besten Angebot zuschlagen. Teure Ärzte sind da schon Luxusgüter, und wehe, sie kosten zu viel! Um diese Patientenmentalität soll es im nächsten Kapitel gehen.

    Kommen wir zurück zu den Ärzten. Auch sie haben sich dem Markt angepasst. Das System hat die Einstellung der jungen Mediziner zu ihrem Beruf und letztlich auch zu uns Patienten verändert. Ich glaube, das liegt ein Stück an der Ausbildung. Die Studierenden müssen schnell kapieren, dass sie in der Uni nur durchkommen, wenn sie sich anpassen und die Regeln befolgen. In der Klinik als Assistenzarzt ist das später nicht besser: Wer Karriere machen und mal Oberarzt werden will, muss vor den meisten Chefärzten buckeln. Und so haben sie sich auch an die neue Welt angepasst, die vor ihren Augen aus dem Solidarsystem herausgebrochen worden ist. Traurig ist, dass sie sich nie dagegen gewehrt haben. Sie haben eigentlich als Erste gesehen, was da kommt. Aber sie haben stillgehalten und überlegt, wie sie sich anpassen können.

    In dieser Welt ist der Menschenfreund in dem TV-Bergdoktor nur noch eine schräge Fiktion. Längst zählt eine ganz andere Qualität, um in diesem Job zu überleben. Ärzte müssen Zahlen mehr lieben als Menschen. Betriebswirte, Ökonomen und Investoren haben den Bergdoktor längst umgebracht.

    Abrechnen in den Weihnachtsferien

    In den Weihnachtsferien habe ich eine Ärztin, die ich gut kenne, in ihrer Praxis besucht. Dieser Januar war traumhaft warm, und die Sonne strahlte am Himmel. Kein Vergleich zum düsteren Vorjahr. Viele andere haben die Zeit zwischen Weihnachten und Silvester zum Entspannen genutzt. Sie aber saß in ihrer Praxis vor ihrer Quartalsabrechnung. Als sie mir die Tür öffnete und ich eintrat, war es wie ein Sprung vom helllichten Tag in die Nacht. Überall brannte Licht. Die Rollos waren wie immer bei geschlossener Praxis heruntergelassen. Wären sie oben, würden unter jeder Garantie Patienten klingeln. Die Ärztin saß vor ihrem Computer, auf dem Schreibtisch stapelweise Papier, und überprüfte die Unterlagen von Patient zu Patient. Das sind nicht wenige, die sie mit ihren beiden Kollegen betreut.

    «Das ist doch Schikane!», sagte ich zu ihr. «Die Leute, die sich diesen bürokratischen Oberschmarren hier ausgedacht haben, fahren jetzt irgendwo Ski, liegen in der Sonne, und du sitzt hier und kontrollierst jede einzelne Zahl und jeden einzelnen Buchstaben von dem zu Ende gehenden Quartal.»

    Sie meinte, dass ich schon recht hätte. «Aber was soll ich machen? Ich muss hier akribisch schauen, dass ich nichts vergesse und nirgendwo ein Zahlendreher drin ist.»

    Vielleicht fragen Sie sich jetzt: Zahlendreher? Dazu muss ich ein paar Takte erklären. Die niedergelassenen Ärzte bekommen ihr Geld nicht von der Krankenkasse ausbezahlt, sondern von der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) – für mich eine mehr als dubiose Einrichtung in diesem System und mir deshalb ein eigenes Kapitel wert. Die KV verhandelt für die Ärzte nicht nur mit den Kassen, wie viel Geld ein Arzt für seine Leistung an uns Kassenpatienten bekommt, sondern sie bekommt das Geld von den Kassen überwiesen, um es an die Ärzte nach einem absurden Ziffernsystem auszubezahlen! Seit ich selbst eingestiegen bin in diesen Wirrwarr von Ziffern und Buchstaben, um den Wahnsinn nachzuvollziehen, sage ich immer wieder: Dieses System ist nicht mehr vermittelbar! Kein Mensch kann sich vorstellen, wie unnötig kompliziert hier verwaltet wird.

    Seit ich mit meinen Recherchen begonnen habe, hat sich dieses Abrechnungssystem mehrfach grundlegend geändert. Angefangen hat es mal mit Pünktchen, mittlerweile sind die Schreibtischtäter auf die tolle Idee gekommen, immer mehr Ziffern zu verwenden. Jede Behandlung muss mit einer Ziffer eingetragen werden, für die es dann eine bestimmte Summe gibt. Die zwei Bücher mit den entsprechenden Ziffern sind 350 Seiten dick, und erst im Oktober 2013 sind weitere Seiten dazugekommen.

    Ein Beispiel gefällig?

    Neu in diesem Unsinns-Regelwerk (das übrigens kurz EBM heißt – «Einheitlicher Bewertungsmaßstab») sind Ziffern für chronisch Kranke. Kommt also zum Beispiel ein Patient mit Diabetes zum ersten Mal in die Praxis, muss die Zahl 03220 eingetragen werden. Die KV gibt dafür 13 Euro. Kommt der Diabetiker noch einmal, muss die 03220 wieder gelöscht und stattdessen 03221 eingetragen werden, das ist die Ziffer für seinen zweiten Besuch in der Praxis. Erst ab diesem gibt es zwei Euro mehr im Quartal.

    Wenn nun aber im Tagestrubel jemand in der Praxis vergisst, die Zahlen zu verändern, oder sich vertippt – ein Zahlendreher ist schnell mal möglich –, kann das bei vielen Patienten den Arzt schnell eine Stange Geld kosten.

    Was ist die Konsequenz daraus? Die Ärzte sind gezwungen, mehr auf die Zahlen zu sehen, laufend zu kontrollieren. Wenn andere Leute abends schon längst vom Alltag abgeschaltet haben, sitzen Ärzte noch vor dem Computer und überprüfen den Tagesablauf. Aber sie haben keine Wahl. Entweder sie investieren hier ihre eigene Lebenszeit, stellen vielleicht extra dafür jemand ein, oder die Praxis riskiert enorme Verluste.

    Was macht das mit den Ärzten? Dieses bürokratische Unsinns-System verändert sie. Die Prioritäten werden verschoben. Sie sind mittlerweile mehr Verwalter von Patienten als deren Ärzte. Diese Bürokratie frisst Zeit auf, die wir als Patienten in den Praxen so oft vermissen. Zeit für uns, die ein Softwareprogramm einteilt und an die ein Bildschirm-Laufband den Arzt erinnert. Aber es kostet eben nicht nur die Zeit, sondern auch Energie. Am Tag sieht ein Arzt oft sechzig Patienten: sechzig einzigartige Fälle, jeder hat seine Probleme. Er muss sich auf jeden einlassen. Anstatt abends oder in den Ferien Kraft zu tanken, zwingt das System die Ärzte, die eingetragenen Ziffern und die Rezepte sowie sich selbst und die Mitarbeiter zu kontrollieren. Es zwingt sie, misstrauisch zu sein, denn jeder Fehler kostet Geld. Das ist wie mit einem Luftballon, der in einem Glas aufgeblasen wird. Je größer der Luftballon wird, desto weniger Platz ist noch übrig für die Luft im Glas. So werden die Menschen von der Bürokratie unseres Gesundheitssystems an den Rand gedrängt.

    Wie hieß es auf dem Laufband? «Die Behandlungszeit für diesen Patienten ist abgelaufen!» Die Verwaltungszeit, die der Arzt danach für mich aufwenden musste, hat bestimmt doppelt so lange gedauert. Das ist doch verrückt: Letztlich schaden wir uns selbst, wenn wir eine so absurde Situation zulassen, die nicht den Menschen, sondern die Verwaltung zum Maßstab nimmt. Es ist eigentlich zum Lachen, dass mir der Arzt damals nicht erklären konnte, warum ich zu gehen hatte. Dafür habe er schließlich kein Budget, sagte er mir. In den 350 Seiten des EBM gibt es ja keine Abrechnungsziffer für Nachhilfe im Gesundheitssystem. Genauso wenig wie für viele Einsätze des lieben Doktors. Vielleicht sollte man sagen: Die Bürokraten und Technokraten haben den Herrn und die Frau Doktor längst auf ihren Schreibtischen geopfert.

    Das Geschäftsmodell Arzt

    Die geschäftstüchtigen Ärzte versuchen nun, das Beste aus dem bestehenden Regelwerk herauszuholen. Sie handeln wie Kaufleute, so sehen es manche zumindest. Ein Mitglied in einem Internet-Ärzteforum schrieb einmal, wenn Politiker und Funktionäre die Anliegen der Ärzte mit Füßen träten und ihre Existenzen bedroht seien, müsse «die kaufmännische Seite sogar die Oberhand gewinnen». Während die Ärzte zaghaft ihre kaufmännische Ader entdecken, sind andere schon längst im Geschäft. In diesen Gesundheitskaufhäusern muss schließlich die Buchhaltung stimmen. Wie es für uns Berater in allen Belangen gibt, gibt es für die Ärzte ebenfalls freundliche Helfer. Das EBM-Ziffern-Regelwerk ist ja schon komplex genug, gut also, dass jemand die oft überforderten Ärzte unterstützt, wenn wieder einmal neue Ziffern herauskommen, was zuletzt im Oktober 2013 passiert ist. Diese Helfer machen das in der Regel nicht aus christlicher Nächstenliebe, sondern weil sie selbst eine Geschäftsidee haben.

    Im November 2013 habe ich mich mit einem Arzt unterhalten, der mir von einer Einladung in ein Luxushotel erzählt hat. Eine Pharmafirma und eine Unternehmensberatung hatten eine medizinische Weiterbildung und eine berufspolitische Fortbildung organisiert: «Der neue Hausärzte-EBM – was kommt auf Sie zu?»

    Auch die Kassenärztliche Vereinigung hat solche Kurse angeboten, die haben die neuen Ziffern ja auch ausgeheckt. Oft kosten diese Kurse sogar etwas. Die Ärzte gönnen einander offensichtlich nichts. Ganz anders die Pharmafirmen. Ihre Fortbildung war kostenlos, inklusive Drei-Gänge-Menü. Von dem wusste der Arzt anfangs noch nichts. «Da habe ich nach der Vorspeise gedacht, das wäre alles, und wollte gehen!» Aber die Berater haben ihn dann doch zum Bleiben überredet, der Hauptgang kam ja noch.

    Die Botschaft der Fortbildung sei dann gewesen: Mit den neuen Ziffern bekämen die Ärzte weniger als vorher. Das wussten sie zwar selbst schon, ebenso dass alles noch komplizierter wurde. Das Angebot dieses «Bildungsnachmittags plus Abendessen» im schönen

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