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Man wird nicht jünger durch den Scheiss!: noch mehr unglaubliche aber wahre Geschichten aus dem Leben eines Notfallsanitäters
Man wird nicht jünger durch den Scheiss!: noch mehr unglaubliche aber wahre Geschichten aus dem Leben eines Notfallsanitäters
Man wird nicht jünger durch den Scheiss!: noch mehr unglaubliche aber wahre Geschichten aus dem Leben eines Notfallsanitäters
eBook271 Seiten2 Stunden

Man wird nicht jünger durch den Scheiss!: noch mehr unglaubliche aber wahre Geschichten aus dem Leben eines Notfallsanitäters

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Über dieses E-Book

Der Wahnsinn geht weiter! Nach dem sensationellen Erfolg seines Erstlingswerks: "Ich bin zu alt für diese Scheisse!" entführt uns Notfallsanitäter Horst Heckendorn erneut in die bizarre Welt des Rettungsdienstes.

In der Fortsetzung seiner Memoiren aus rund dreissig Jahren Notfallrettung geht es wieder schonungslos, aber mit dem gewohnt rabenschwarzen Humor zur Sache.

Begleiten Sie den Autor bei seinen Streifzügen durch die Abgründe der menschlichen Zivilisation und seien Sie auch dieses Mal wieder hautnah mit dabei, wenn es heisst: Kotze, Kacke, Kakerlaken...
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum4. Sept. 2017
ISBN9783743104488
Man wird nicht jünger durch den Scheiss!: noch mehr unglaubliche aber wahre Geschichten aus dem Leben eines Notfallsanitäters
Autor

Horst Heckendorn

Horst Heckendorn ist 57 Jahre alt und arbeitet seit 33 Jahren im Rettungsdienst. Nach einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) fand er zum Schreiben und verarbeitete seine Erlebnisse als Notfallsanitäter in mehreren Büchern, die allesamt zu Bestsellern wurden. Er lebt und arbeitet in der Schweiz.

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    Buchvorschau

    Man wird nicht jünger durch den Scheiss! - Horst Heckendorn

    Heckendorn

    1

    Das erste Mal

    1988. Meine rettungsdienstliche Entjungferung erlebte ich an einem verregneten Sonntagnachmittag im Spätsommer dieses Jahres. Ich war erst seit Kurzem Zivildienstleistender im Rettungsdienst und Krankentransport einer süddeutschen Großstadt und gerade aus dem Rettungshelferlehrgang zurückgekehrt. Frisch von der Rettungsdienstschule brannte ich natürlich darauf, mein neu erworbenes Wissen endlich anzuwenden und fieberte daher jedem Notfalleinsatz aufgeregt und mit pochendem Herzen entgegen.

    Es war schon später Nachmittag als mein Kollege und ich zu einer bewusstlosen Person gerufen wurden. Wir betraten mit unserer Notfallausrüstung die Wohnung im dritten Stock eines Mehrfamilienhauses und fanden einen circa 60-jährigen Mann im Wohnzimmer auf dem Sofa liegend vor. Er trug einen dieser glänzenden Trainingsanzüge, wie sie Ende der achtziger Jahre schwer in Mode waren. Das Gesicht des Mannes war dunkelviolett angelaufen und passte somit hervorragend zur Farbe des fallschirmseidenen Freizeitanzugs. Während er mit der rechten Hand noch immer die Fernbedienung des riesigen Röhrenfernsehers fest umklammert hielt, steckte die linke nur noch schlaff und träge in einer Tüte mit Kartoffelchips. Offenbar hatte unser Patient aus heiterem Himmel während der Sportschau einen Herz-Kreislaufstillstand erlitten. Im Moment gab er jedenfalls keine Lebenszeichen mehr von sich.

    »Mist, Reanimation«, murmelte mein Kollege, nachdem er vergeblich versucht hatte, an der Halsschlagader des Mannes den Puls zu tasten. Über das Handfunkgerät forderte er den Notarzt nach, während ich mit einer kleinen Taschenlampe in die Augen des leblosen Mannes hinein leuchtete. Seine Pupillen waren weit geöffnet und reagierten überhaupt nicht auf das einfallende Licht.

    »Schnell, wir müssen ihn auf den Boden legen!«, wies mich mein Kollege an. Gemeinsam schoben wir den schweren Wohnzimmertisch in Eiche rustikal zur Seite und hievten den leblosen Körper vom Sofa hinunter auf den harten Fußboden. Ich öffnete den Reißverschluss seines Trainingsanzugs und begann auf der behaarten Brust mit der Herzdruckmassage, während mein Kollege die Klebeelektroden des EKG-Monitors darauf befestigte. Das Elektrokardiogramm zeigte auf dem nur briefmarkengroßen grünen Bildschirm eine wellenförmige feine Linie und nicht wie bei einem normal schlagenden Herzen üblich, spitze Zacken. Das war ein sicheres Indiz für ein sogenanntes Kammerflimmern. In dieser Phase des Herzstillstands zuckt der Pumpmuskel nur noch wie ein Wackelpudding sinnlos vor sich hin. Mit anderen Worten: Das mehr oder weniger elektrisch betriebene Herz lebt zwar noch, pumpt aber kein Blut mehr durch den Körper. Mit etwas Glück konnte man nun das völlig unkoordiniert zuckende Herz mit einem gezielten Stromschlag von außen wieder in eine geordnete Schlagfolge bringen. Das ganze Prozedere ließ sich am ehesten mit der Starthilfe bei einer leeren Autobatterie vergleichen. Mit einem Einwegrasierer entfernte ich jetzt rasch die Brusthaare des Patienten. Gleichzeitig trug mein Kollege aus einer Tube mit einer Art Gleitgel einen haselnussgroßen Klecks auf die beiden silbrig glänzenden Elektroden des Defibrillators auf. Anschließend rieb er die beiden Enden gegeneinander und verteilte so den Gleitfilm gleichmäßig über die ganze Fläche. Durch das Gel wurde der elektrische Widerstand der Haut gesenkt und gleichzeitig ein Verbrutzeln der Brusthaare verhindert. Andernfalls würde sonst der Stromfluss den Brustpelz unseres Patienten versengen, was wiederum zu hässlichem Funkenflug und einer gewissen Geruchsbelästigung führen würde. Außerdem würde ohne das Gel der potenziell lebensrettende Stromschlag von der Dicke der Haut abgeschwächt werden und so das gewünschte Endergebnis massiv beeinträchtigen. Das musste unter allen Umständen verhindert werden. Mein Kollege lud nun den Defibrillator auf 200 Joule hoch und setzte die beiden Griffe des Elektroschockapparates direkt ober und unterhalb des Herzens auf die Brust des klinisch toten Mannes auf. Es sah fast so aus, als würde er ihm zwei Bügeleisen auf den Brustkorb drücken. Ein schnell ansteigender schriller Pieps-Ton signalisierte den Ladezustand des Gerätes.

    »Achtung, weg vom Patient!«, rief mein Kollege und drückte dabei gleichzeitig auf die beiden roten Auslöseknöpfe. Diese Warnung war von elementarer Wichtigkeit, da man sich sonst unter Umständen mit dem Patienten solidarisch erklärt und ebenfalls mitgezappelt hätte. Der Körper des Patienten bäumte sich kurz auf, als der Strom durch ihn hindurchfloss. Für einen kurzen Moment zuckte und schüttelte er sich und fiel danach wieder schlaff und träge in sich zusammen. Trotz meiner vorangegangenen Brusthaarrasur roch es jetzt nach versengten Haaren. Wie gebannt, starrten mein Kollege und ich auf den EKG-Monitor. »Piep ... Piep ... Piep ... Piep.« Tatsächlich zeigte sich jetzt wieder ein normaler und regelmäßiger Herzschlag. Ich tastete den Puls des Mannes und spürte ein kräftiges Pochen an seiner Halsschlagader. Super! Wir hatten ihn wieder. Nach ein paar zusätzlichen Atemstößen mit dem Beatmungsbeutel setzte auch die Atmung des Patienten wieder ein. Just in diesem Moment erschien endlich auch der Notarzt auf der Bildfläche und fand jetzt einen wiederbelebten Patienten mit stabilem Puls und ausreichender Spontanatmung vor.

    »Jungs, das habt ihr prima gemacht!«, lobte er uns. Mit einem speziellen Tragetuch schleppten wir anschließend den Patienten durch das enge Treppenhaus hinunter in den Rettungswagen. Ohne weitere Komplikationen fuhren wir ihn direkt in die Notaufnahme der Universitätsklinik.

    Der Mann war zwar immer noch bewusstlos, aber er lebte und ich war stolz wie Oscar. Meine allererste Reanimation und dann auch noch gleich erfolgreich! Was war das doch für ein tolles Gefühl, einfach mal eben so einem Menschen das Leben gerettet zu haben. Klasse! Ich war völlig aus dem Häuschen.

    »Na, na, na, jetzt krieg dich mal wieder ein!«, versuchte mich mein Kollege zu bremsen. »Die erste Reanimation ist wie der erste Sex. Das erste Mal vergisst du nie, da ist alles noch völlig neu, spannend und aufregend. Doch bevor du überhaupt richtig weißt, was los ist, ist es auch schon wieder vorbei. Aber mit der Zeit wird das dann alles zur Routine, und am Ende ist es dann immer wieder dasselbe: Rein – raus, rein – raus, fertig ist der Klaus!« Dabei bewegte er seine Hände rhythmisch auf und ab und tat so, als würde er gerade eine Herzdruckmassage durchführen. »Glaub jetzt ja nicht, dass du immer gewinnst«, fuhr er fort. »In Wirklichkeit schaffen es nämlich nur die allerwenigsten, vielleicht einer von zehn. Die andern kratzen alle ab!« Dabei schlug er wie ein Priester mit der rechten Hand ein Kreuz in die Luft, als würde er den Segen spenden.

    Ich ließ mich jedoch von den nüchternen und abgeklärten Ausführungen meines alten und erfahrenen Kollegen nicht beirren. Jung, naiv und noch völlig unbefleckt, wie ich war, glaubte ich doch allen Ernstes, der wiederbelebte Mann würde schon bald in den Kreis seiner Familie zurückkehren und sein ganz normales Leben weiterführen können.

    Am nächsten Tag wollte ich ihn in der Uniklinik besuchen. Mich interessierte einfach brennend, wie es ihm wohl ginge und ob er sich womöglich noch an irgendetwas erinnern konnte. Ich drückte auf den Klingelknopf zur hermetisch von der Außenwelt abgeschotteten Intensivstation und wartete darauf, bis mir eine Krankenschwester die Tür öffnete.

    »Ja, bitte?«, fragte sie mich.

    »Hallo, ich bin vom Rettungsdienst und wollte mich einfach mal erkundigen, wie es Herrn Schmidt geht, den wir gestern hier eingeliefert haben?«

    »Ach ja, jetzt erkenn’ ich dich wieder!«, sagte sie nach kurzem Zögern. »Du, eigentlich völlig unverändert, aber komm doch rein und schau selbst!«, ermunterte sie mich.

    Ich folgte Ihrer freundlichen Aufforderung und betrat mit klopfendem Herzen und feuchten Händen die Intensivstation. Gleich würde ich Herrn Schmidt gegenübertreten und ihn nach seinem Befinden fragen können. Wie unendlich dumm und naiv ich doch war. Dann sah ich ihn da liegen. Herr Schmidt war weiterhin im Koma und wurde künstlich beatmet. Überall waren Schläuche und Kabel angeschlossen und ein halbes Dutzend vollautomatischer Spritzenpumpen, sogenannte Perfusoren, pumpten permanent irgendwelche Medikamente in ihn hinein. Plötzlich und ohne Vorwarnung begann er am ganzen Körper zu zittern und zu zucken. Sein Gesicht verzog sich zu einer hässlichen Grimasse und lief dunkelblau an. Er bäumte sich wie wild auf und sämtliche Geräte um ihn herum blinkten und hupten wie verrückt. Was war denn jetzt los? Ich verstand mal wieder nur Bahnhof. Für einen kurzen Moment brach Hektik aus.

    »Er krampft wieder!«, rief eine Schwester. Ein Arzt verabreichte ihm daraufhin ein krampflösendes Medikament, worauf sich sein Zustand rasch wieder beruhigte.

    »Was war denn das?«, fragte ich die Schwester erschrocken.

    »Naja, sein Gehirn war zu lange ohne Sauerstoff«, klärte sie mich auf. »Deshalb hat er jetzt einen hypoxischen Hirnschaden und macht alle paar Minuten einen Krampfanfall.«

    »Aha«, antwortete ich erstaunt. »Wird das denn irgendwann mal wieder besser?«, hakte ich neugierig nach.

    »Nö, wird es nicht!«, mischte sich jetzt ungefragt ein Arzt in unser Gespräch ein. »Das bleibt so! Ein neuer Kandidat fürs Pflegeheim, falls er überhaupt so lange durchhält und keinen Infekt bekommt. Warst du bei der Reanimation dabei?«, wollte er jetzt von mir wissen und musterte mich dabei abschätzig von oben bis unten.

    »Ja, das war mein erstes Mal«, antwortete ich kleinlaut.

    »Na dann, herzlichen Glückwunsch!«, sagte der Arzt spöttisch und klopfte mir dabei auf die Schulter. Danach drehte er sich lachend um und ließ mich einfach stehen.

    Da stand ich nun wie ein begossener Pudel und wusste nicht so recht, ob ich lachen oder weinen sollte. Das hatte ich mir irgendwie ganz anders vorgestellt. Meine anfängliche Euphorie war mit einem Schlag verflogen. Was hatten wir getan? Herr Schmidt war nur noch ein künstlich am Leben erhaltener Zellhaufen – ohne Sinn und Verstand. Mit Leben im eigentlichen Sinne hatte das nicht mehr viel zu tun. Er verstarb schließlich zwei Wochen später an den Folgen einer Lungenentzündung, ohne das Bewusstsein noch einmal erlangt zu haben. Heute, mit dem Abstand von immerhin 28 Jahren Berufserfahrung und unzähligen Reanimationen später, kann ich über meine damalige jugendliche Naivität nur noch lachen und selbst mit dem Kopf schütteln. Natürlich gab es in meiner langjährigen Rettungsdienstkarriere auch einige Fälle, die nach einem Herz-Kreislaufstillstand tatsächlich erfolgreich und ohne bleibende Schäden wiederbelebt wurden. Das gelang aber nur, weil wir innerhalb kürzester Zeit vor Ort waren und couragierte Menschen sofort und ohne lange zu zögern mit der Herz-Lungen-Wiederbelebung (HLW) begonnen haben. Schon drei Minuten ohne Sauerstoff reichen aus, um das menschliche Gehirn irreparabel zu schädigen. Innerhalb dieser kurzen Frist vor Ort zu sein, schafft der Rettungsdienst in den allerseltensten Fällen. Deshalb liegt es buchstäblich ganz allein in Ihren Händen, ob ein Mensch überlebt oder stirbt. Sie als Ersthelfer entscheiden darüber, ob er sein Leben weiterleben darf oder sein Dasein als sabberndes Gemüse in einer Langzeitpflegeeinrichtung beendet. Wann haben Sie zuletzt einen Kurs in Erste Hilfe oder Herz-Lungen-Wiederbelebung besucht? Denken Sie einmal gründlich darüber nach, denn es gibt immer ein erstes Mal.

    2

    Der mit dem Golf tanzt

    1988. Als einfaches Landei war ich mit meinen knapp 22 Jahren von den vielen neuen Eindrücken total überwältigt, die sich mir als Zivildienstleistender im Rettungsdienst und Krankentransport einer süddeutschen Großstadt boten. Ich fand das alles wahnsinnig spannend und fieberte daher jedem Einsatz aufgeregt entgegen. Meistens konnte ich es kaum erwarten, endlich wieder mit Blaulicht und Tatütata einem neuen Abenteuer zu begegnen. Dass meine Vorfreude auf den nächsten Einsatz häufig mit dem Leid und dem Elend anderer Menschen verbunden war, blendete ich in meiner jugendlichen Naivität völlig aus. Ich wollte etwas erleben und nicht bloß untätig auf der Rettungswache herumsitzen. Wie schon so oft sollte ich auch dieses Mal nicht enttäuscht werden.

    Langsam wurde es Herbst und die Tage schienen schon kürzer und kürzer zu werden. Auf den Straßen sammelte sich bereits das erste bunte Laub von den Bäumen und am Abend ergoss sich ein heftiger aber kurzer Regenschauer über der Stadt. Heute sollte ich meinen ersten Nachtdienst als sogenannter dritter Mann auf dem Rettungswagen antreten. Doch mein vermeintlicher Welpenschutz war mit einem Schlag beendet. Ein Kollege war plötzlich erkrankt, und so wurde ich mangels adäquaten Ersatzes von jetzt auf gleich zum zweiten Mann auf dem RTW befördert. Nun war endgültig Schluss mit lustig. Deswegen war ich natürlich noch aufgeregter als sonst.

    »Bim ... Bim ... Bim ... Bim«, ertönte auch schon der ansteigende Notfallgong aus der Rufanlage der riesigen Rettungswache. »Besatzung 1/83/2, Notfalleinsatz Hexentalstraße«, krächzte die Stimme aus dem Lautsprecher. Peter, mein hauptamtlicher Partner in dieser Nacht, und ich, hechteten hinunter in die Wagenhalle zu unserem Rettungswagen und fuhren los. Über Funk bekamen wir von der Leitstelle weitere Informationen zu unserem Einsatzort mitgeteilt. Der Kollege meldete uns einen schweren Verkehrsunfall mit mehreren Verletzten und eingeklemmten Personen. Vor lauter Aufregung schlug mir mein Herz bis zum Hals. Jetzt wurde es also ernst.

    Wir waren nahezu zeitgleich mit weiteren Einsatzkräften von Rettungsdienst, Polizei und Feuerwehr alarmiert worden und erreichten nun als zweiter RTW den Unfallort. Dieser lag quasi am anderen Ende der Stadt und damit eigentlich außerhalb unseres Zuständigkeitsbereichs. Hier war »Malti Town«, die Hochburg des Malteser Hilfsdienstes.

    »Scheiße!«, entfuhr es Peter beim Anblick der Unfallstelle. Ein mächtig aufgemotzter und tiefergelegter VW-Golf GTI hatte sich offenbar ungebremst in die Hauswand einer Kneipe gebohrt und bot jetzt einen ziemlich erbarmungswürdigen Anblick. Der junge und im wahrsten Sinne des Wortes unerfahrene Lenker des PS-starken Boliden hatte vermutlich in einem Anfall von postpubertärem Balzverhalten auf der mit nassem Laub bedeckten Fahrbahn die Herrschaft über sein Fahrzeug verloren und war dann volle Kanne in die Hauswand gekracht. Durch die Wucht des Aufpralls waren sogar große Teile der Außenfassade abgebröckelt. Aus dem völlig demolierten Blechknäuel drangen gellende Schmerzensschreie und leises Wimmern.

    Die Besatzung des zuerst am Unfallort eingetroffenen Rettungswagens hatte sich bereits einen Überblick über die Situation verschafft und war nun damit beschäftigt, die Unfallstelle abzusichern. Aus der Ferne waren schon weitere Martinshörner zu hören, deren Lautstärke aus verschiedenen Richtungen kommend stetig zunahm.

    »Wie sieht`s aus?«, wollte Peter von einem Besatzungsmitglied des anderen RTW wissen. Dieser hatte als ersteintreffender Rettungssanitäter automatisch die Einsatzleitung inne.

    »Voll besetzter Golf, vier junge Leute drin, zwei Jungs, zwei Mädels, alle eingeklemmt, vermutlich alle Polytrauma. Notarzt, Feuerwehr, Polizei und zwei weitere RTW sind auf dem Weg, mehr weiß ich auch noch nicht!«, keuchte der korpulente Kollege und war dabei sichtlich angespannt. Dicke Schweißperlen standen auf seiner Stirn, die sich dort nach und nach sammelten und dann in kleinen Bächen über sein Gesicht nach unten flossen.

    »Gut«, meinte mein erfahrener Kollege trocken. »Solange die Löschis mit der Rettungsschere nicht da sind, können wir sowieso nicht viel machen! Lass uns doch fürs Erste einfach mal ein paar Zugänge legen, falls wir irgendwie an die Leute herankommen, okay?«, schlug er vor.

    »Meinetwegen«, entgegnete der andere Rettungssanitäter und zuckte dabei nur mit den Schultern. Er schien insgeheim recht froh darüber zu sein, dass ihm jemand die Entscheidung abnahm.

    Aus dem völlig verbeulten Blechhaufen ragte hie und da ein Arm oder ein Bein hervor. Also machten sich meine Kollegen jetzt daran, sogenannte Venenverweilkanülen in diese Gliedmaßen zu piken, umso wenigstens Kochsalzlösung zur Aufrechterhaltung des Blutkreislaufs in die Adern der Verletzten pumpen zu können. Mein Job als Zivi und noch völlig unbedarftes »Greenhorn« bestand nun darin, das dafür benötigte Material zusammenzustellen und beim Legen der Infusionen zu assistieren. Zu diesem Zweck hatte ich mir auf dem Gehweg, direkt neben dem Schrotthaufen, mit den beiden Notfallkoffern eine Art Arbeitsplatz eingerichtet und steckte nun eine Infusion nach der anderen zusammen. Mittlerweile waren auch noch zwei weitere Rettungswagen, zwei Notärzte sowie Polizei und Feuerwehr am Unfallort eingetroffen, und ein speziell dafür ausgebildeter Einsatzleiter übernahm die Koordination der Rettungsmaßnahmen vor Ort. Jedes Glied dieser sogenannten Rettungskette war an seinem Platz und wusste, was es zu tun hatte.

    Das beeindruckende Ensemble aus blinkenden blauen Lichtern wurde vom nassen Asphalt und den umliegenden weißen Häuserwänden zigfach verstärkt zurückgeworfen. Diese Lightshow lockte nun natürlich eine ganze Heerschar von Schaulustigen an. Die Gäste der voll besetzten Kneipe waren von dem lauten Knall ebenfalls aufgeschreckt worden und versammelten sich nun gemeinsam mit zahlreichen anderen Gaffern auf der Straße. Einige hatten sogar ihr Bierchen mit nach draußen genommen und kommentierten nun pseudofachmännisch das Geschehen:

    »Der isch sicher gfahre wie ä Wildsau«, meinte einer der Gaffer mit glasigem Blick.

    »Des gschieht em ganz rächt«, lallte ein anderer.

    »Immer die junge Seicher, suffe könnes nitt und fahre könnes au nitt«, fügte ein dritter Glotzer hinzu.

    Daraufhin genehmigten sie sich erst einmal einen herzhaften Schluck aus dem Bierglas.

    Ich stand derweil mit zwei Infusionsflaschen in der Hand daneben und schüttelte nur noch ungläubig den Kopf. »So viel versammelter Schwachsinn auf einem Haufen!«, murmelte ich leise vor mich hin.

    Die Kollegen von der Berufsfeuerwehr machten sich jetzt daran, die vier schwer verletzten jungen Leute mit schwerem Gerät aus ihrem engen Blechgefängnis zu schneiden. In der Zwischenzeit bereiteten wir vom Rettungsdienst alles für den zügigen Abtransport der Unfallopfer vor. Einer der beiden vor Ort befindlichen Notärzte hatte inzwischen jedem der eingeklemmten ein Röhrchen Blut abgenommen und wandte sich nun plötzlich an mich: »Hey du, du fährst jetzt mit dem NEF so schnell wie möglich zur Blutbank und sagst denen, sie sollen hiervon vier Kreuzproben richten, verstanden?!«

    »Äh ja, alles klar!«, stammelte ich und steckte mir mit klammen und zittrigen Fingern die vier Röhrchen mit dem körperwarmen Blut der Unfallopfer in die Brusttasche meiner orangefarbenen Einsatzjacke. Der Doktor drückte mir den Schlüssel für das Notarzteinsatzfahrzeug (NEF) in die Hand und bekräftigte noch einmal: »So schnell wie möglich, hast du gehört?!«

    DAS musste er mir nicht zwei Mal sagen! Das NEF, ein VW-Golf GTI, war wie ein Rallyewagen mit Überrollkäfig, Sportsitzen und Hosenträgergurten ausgestattet. Mit pochendem Herzen und feuchten Fingern stieg ich ein und ließ mich langsam in die Schalensitze sinken. Ich legte die Gurte an, startete den Motor, und fühlte mich augenblicklich wie Walter Röhrl bei der Rallye Monte Carlo. Danach drückte ich einige Male das Gaspedal durch, legte den ersten Gang ein, und fuhr los. Mit quietschenden

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