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Die Wiener Sängerknaben 1924-1955
Die Wiener Sängerknaben 1924-1955
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eBook684 Seiten8 Stunden

Die Wiener Sängerknaben 1924-1955

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Über dieses E-Book

Fast 30.000 Konzerte in mehr als 100 Ländern im Zuge von 1000 Tourneen: eine Bilanz aus der 90-jährigen Erfolgsgeschichte der Wiener Sängerknaben.
Johann Vergendo begibt sich in seiner breit angelegten sozial- und kulturhistorischen Studie zur Stunde Null, dem Jahr 1918, das nicht nur das Ende der Habsburgermonarchie, sondern auch das Ende der Hofsängerknaben bedeutete. Diese "Welt von Gestern" stellt den Ausgangspunkt für eine historische Reise dar, deren Wegmarken die Höhen und Tiefen der Institution Sängerknaben bis in die Mitte der 1950er-Jahre ins Blickfeld rücken und die Grundlagen für den sagenhaften Welterfolg dieses österreichischen Kulturträgers aufzeigen. Erinnerungen ehemaliger Sängerknaben, die zum Teil bis in die beginnenden Dreißigerjahre zurückgehen, ermöglichen Einblicke in das vorherrschende Schulsystem, den durchstrukturierten Internatsbetrieb und den Tagesablauf während der monatelangen Tourneen. Diese Schilderungen zeigen, warum das Sprichwort 'Ihr seid ja brav wie die Sängerknaben' einst seine Gültigkeit hatte.
Der Autor geht aber auch der Frage nach, wie Buben in einem Binnenland zu Matrosenuniformen kamen und wie man mit der schwierigen Situation der "Mutanten" umging, und er führt in zahlreichen Episoden in eine kindliche Erlebniswelt, die - neben Musik - von den kleinen und großen Freuden und Sorgen des Alltags geprägt war.
SpracheDeutsch
HerausgeberStudienVerlag
Erscheinungsdatum19. März 2014
ISBN9783706557245
Die Wiener Sängerknaben 1924-1955

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    Buchvorschau

    Die Wiener Sängerknaben 1924-1955 - Johann Vergendo

    Anhang

    1. Prolog

    Die Entstehung dieses Buches verdanke ich einem Zufall, der mich von Graz nach Wien übersiedeln und bei den Wiener Sängerknaben zu arbeiten beginnen ließ. Während meiner Tätigkeit als Sozialpädagoge in einem der vier Chöre nützte ich meine freie Zeit, um mich auf historischem Wege eingehend mit dieser für Österreich so bedeutenden Kulturinstitution und ihrem Wachsen von den frühen Zwanzigerjahren bis zur Mitte der Fünfzigerjahre des letzten Jahrhunderts auseinanderzusetzen. Den Ausgangspunkt für das vorliegende Buch stellt mein im Sommer 2012 an der Universität Wien abgeschlossenes Dissertationsprojekt mit dem Titel Die Wiener Sängerknaben von 1924–1955. Sozial- und kulturhistorische Aspekte einer emblematischen Institution dar.¹ Als Doktorvater stand Herr Univ.-Prof. Dr. Reinhard Sieder über fünf Jahre hinweg an meiner Seite; ihm verdanke ich wesentliche Impulse zur Entstehung dieser Arbeit, seine Geduld hat das vorliegende Buch erst möglich gemacht. Darüber hinaus gilt mein Dank auch allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Österreichischen Staatsarchiv, im Wiener Stadt- und Landesarchiv, im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, im ITS Bad Arolsen, im Bundesarchiv Berlin, in der Stiftung Sächsische Gedenkstätten und im Staatsarchiv München, sowie Herrn Dr. Johann Weißensteiner vom Diözesanarchiv Wien.

    Zu guter Letzt möchte ich allen ehemaligen Sängerknaben, die bereit waren, sich von mir interviewen zu lassen, ein herzliches Dankeschön aussprechen. Ihre Erinnerungen sind es, die das vorliegende Buch über einen zeithistorischen Krimi und eine durch und durch österreichische Komödie hinauswachsen und zu einem sozialhistorischen Drama werden lassen.

    Anmerkung

    1 Der Hauptband wie auch die beiden Supplementbände mit den transkribierten Interviews können in der Österreichischen Nationalbibliothek, in der Hauptbibliothek der Universität Wien und in der Fachbereichsbibliothek Geschichtswissenschaften der Universität Wien eingesehen werden. Das vorliegende Buch stellt eine Überarbeitung und Erweiterung des ersten Bandes der Dissertation dar.

    Erfolg kommt von etwas Sein, etwas Schein und etwas Schwein.

    Philip Rosenthal (1916–2001)

    Deutscher Unternehmer und Politiker

    2. Einleitung

    Die Geschichte der – ab Mitte der 1920er-Jahre so genannten – Wiener Sängerknaben geht auf den Habsburgerkaiser Maximilian I. zurück. Maximilian ließ ab dem Jahr 1498 Knaben ausbilden, um sie nach burgundischem Vorbild die Heiligen Messen in der Wiener Hofkapelle gesanglich umrahmen zu lassen. Das somit gegründete Hofsängerknabeninstitut bestand über Maximilians Tod hinaus und wurde von seinen Nachfolgern weitergeführt. Erst durch den Untergang der Habsburgermonarchie im Jahre 1918 und die großen wirtschaftlichen Probleme, mit denen der Staat, den keiner wollte, nun konfrontiert war, konnte die Ausbildung der ehemaligen Hofsängerknaben nicht mehr finanziert werden, weshalb das Sängerknabenkonvikt aufgelassen wurde und die Damen des Staatsopernchores die Gesangspartien der Buben in den Messen übernahmen. Aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage, die es im weiteren Verlauf auch nicht mehr erlaubte, den Betrieb der Hofmusikkapelle ausreichend zu finanzieren, kam Anfang der 1920er-Jahre das vorerst endgültige Aus für dieses mehr als 400 Jahre alte kirchenmusikalische Institut. Erst sein persönlicher Einsatz und die Aufwendung privater Geldmittel ermöglichten es dem damaligen Rektor der Burgkapelle, Dr. Josef Schnitt, 1924 das Sängerknabenkonvikt neu aufzubauen. In der Folge konnten mit Hilfe einiger privater Gönner und durch geringfügige Unterstützungen des Bundesministeriums für Unterricht auch alle anderen MusikerInnen wieder zurück in die Burgkapelle geholt und die Messen, wie in der Kaiserzeit, musikalisch gestaltet werden. Unter schwierigsten Umständen und trotz der ständigen Sorge um finanzielle Mittel gelang es Josef Schnitt binnen drei Jahrzehnten, aus den Sängerknaben, einer ureigenen Wiener Kultureinrichtung, die in der Kaiserzeit – mit wenigen Ausnahmen – nur in Wien zu sehen und zu hören war, eine für Österreich emblematische Kultureinrichtung zu schaffen, deren Erfolge diesem Land bereits in den 1930er-Jahren weltweit großes Ansehen einbrachten und den Ruf, eine Kulturnation zu sein, vorantrieben. Die Historie eben dieser Institution soll in diesem Buch nun beleuchtet werden.

    Das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit richtet sich auf sozial- und kulturgeschichtliche Aspekte der Wiener Sängerknaben, eingebettet in den Zeitraum von 1924 bis 1955. Diese Jahrzehnte rücken deshalb in das Zentrum der Betrachtung, weil die Geschichte der Wiener Sängerknaben, wie wir sie heute kennen, unmittelbar mit deren Wiederbegründer Josef Schnitt verbunden ist. Schnitt war es, der eine dem kaiserlichen Hofsängerknabenkonvikt ähnliche Institution schuf, die sich aber – abgesehen von der sonntäglichen gesanglichen Umrahmung der Heiligen Messen in der Hofkapelle – völlig neuen Aufgaben widmete. Das Neuartige an den Sängerknaben der ehemaligen Hofmusikkapelle war, dass nicht nur eine Handvoll Burschen, wie zur Zeit der Monarchie, in der kaiserlichen Hofburgkapelle sangen; vielmehr schuf Schnitt mehrere Chöre, die anfangs rund 10 Knaben, später aber 50, 80 und 100 Kinder stark waren und auch außerhalb der Messdienste international zu konzertanten Auftritten herangezogen wurden. Da neben der Versorgung und Unterbringung der Kinder auch MitarbeiterInnen wie Erzieher, Lehrer, Kapellmeister oder Küchenpersonal für das Sängerknabenkonvikt finanziert werden mussten, der Staat dem Institut jedoch nur in bescheidenem Maß unter die Arme zu greifen gewillt war, begann Rektor Schnitt Konzertreisen zu organisieren, die das nötige Geld für den Internatsbetrieb einspielen sollten. Weil es also Josef Schnitt zu verdanken ist, dass das Institut der ehemaligen Hofsängerknaben auch in der Zeit der Republik weitergeführt werden konnte und zu einem Kulturbetrieb stattlicher Größe heranwuchs, vor allem aber deshalb, weil unter seiner Leitung all das, was die Sängerknaben bis heute ausmacht, organisiert und geschaffen wurde, reicht die vorliegende Arbeit von der Wiederbegründung des Instituts 1924 bis zum Jahr 1955 – Schnitts Todesjahr. Selbstredend unterliegt das Sängerknabeninstitut bis heute permanenten Weiterentwicklungen; in wesentlichen organisatorischen Bereichen aber, beispielsweise in der strukturellen Unterteilung in vier Chöre zu je 20 bis 25 Kindern, in der Tourneetätigkeit, im Schul- und Internatsbetrieb, im alljährlichen Sommeraufenthalt, ja sogar in der Heimstätte der Wiener Sängerknaben, hat sich seit Schnitts Tod kaum etwas verändert.

    Bemerkenswerterweise wurde trotz der enormen Erfolge dieser Institution aus geschichts- und musikwissenschaftlicher Sicht sehr wenig unternommen, um dem Phänomen Sängerknaben, das sich darin konstatiert, dass zehn- bis vierzehnjährige Knaben rund um den Globus höchst erfolgreich österreichische Musik und Kultur repräsentieren, auf den Grund zu gehen.¹ Damit einhergehend wurden zahlreiche ‚moderne‘ Fragen zur Geschichte der Sängerknaben überhaupt nicht gestellt. Bis heute hat sich die Wissenschaft auch nicht mit den Zeitzeugen, den ehemaligen Sängerknaben, beschäftigt und so auch nicht ihre persönlichen Erinnerungen festgehalten und interpretiert.² Das ist umso bemerkenswerter, als sie es doch waren und bis heute sind, die die Geschicke dieser Institution maßgeblich beeinflussen und überhaupt erst bedingen. Lohnt es sich nicht, dachte ich mir, einige von ihnen zu interviewen und sie nach Erinnerungen an ihre Sängerknabenzeit zu fragen?

    Ein großer und wichtiger Teil der Geschichte der Wiener Sängerknaben lässt sich aus schriftlichen Quellen, die im Staatsarchiv, im Wiener Landesarchiv, im Diözesanarchiv Wien oder in Archiven in Deutschland aufbewahrt werden, rekonstruieren. Auch auf Unterlagen, die im Palais Augarten, dem heutigen Sitz der Wiener Sängerknaben, lagern, hätte ich gerne zugegriffen, dies wurde mir jedoch durch einen Vorstandsbeschluss verwehrt. Auf Anfrage teilte mir der damalige Vizepräsident der Wiener Sängerknaben, Hofrat Emanuel Helige, brieflich mit, dass die Wiener Sängerknaben über „kein geordnetes Archiv verfügen" würden, weil ein ursprünglich angedachtes Vorhaben zur Errichtung eines solchen aus finanziellen Gründen hintangestellt werden musste. Da die von den Sängerknaben verwahrten Unterlagen somit bisher weder gesichtet noch archiviert wurden, konnte mein Wunsch nach Durchsicht der im Palais aufbewahrten Dokumente nicht realisiert werden.³

    Die Analyse der zugänglichen schriftlichen Quellen, die in Form von Ministerialakten, diversen Briefen, Gesandtschaftsberichten, Gauakten, Zeitungsartikeln et cetera vorliegen, kann nur Teilaspekte der Historie dieser Institution beleuchten. Dort nämlich, wo es um das Leben der ehemaligen Sängerknaben geht, schweigen diese Quellen. Um Licht in diesen bisher von der Forschung unberücksichtigten Raum bringen zu können, habe ich insgesamt 15 qualitative Interviews (vom Typus des Experteninterviews) mit ehemaligen Sängerknaben, die ab den beginnenden 1930er-Jahren bis 1955 aktiv waren, geführt und ihre Erinnerungen interpretiert.

    Mit diesen Herren bin ich in Verbindung gekommen, indem ich mir schon vom ersten Interviewpartner – den ich zufällig bei meinen Recherchen im Staatsarchiv kennen gelernt habe – Namen und Kontaktdaten von anderen ehemaligen Kollegen geben habe lassen. Des Weiteren ließ ich 2011 Zeitungsannoncen in der Kleinen Zeitung, im Kurier, in der Presse, in den Salzburger Nachrichten und im Standard schalten, in denen ich ehemalige Sängerknaben – die im Forschungszeitraum im Institut waren – dazu aufrief, sich bei mir zu melden. Vor allem dieses Vorgehen war höchst erfolgreich und gewinnbringend, weil es sich bei jenen Herren, die mich kontaktiert haben, größtenteils um Ehemalige handelte, die nach ihrer aktiven Sängerknabenzeit keinen Kontakt mehr mit dem Institut und früheren Kollegen hatten und so der Ertrag ein anderer war als bei jenen Interviewpartnern, die mit Kollegen aus dieser Zeit freundschaftlich verbunden blieben.

    Erst durch die Interpretation und Zusammenführung der Experteninterviews mit den zugänglichen schriftlichen Quellen kann diese Institution in ihrer Gesamtheit erfasst werden. Konzeptionell besteht das vorliegende Buch also aus zwei Bereichen, die unterschiedliche Erkenntnisse zu Tage fördern: Einerseits ermöglichen die schriftlichen Quellen einen Blick auf die Institution, wie sie von außen wahrgenommen wurde, wodurch gezeigt werden kann, welche Auswirkungen die politischen Verhältnisse, deren Umbrüche und Neuerungen auf die Wiener Sängerknaben hatten und worin letztlich der sagenhafte Erfolg der Institution begründet liegt. Zum anderen wird die Geschichte und Lebensgeschichte der Akteure selbst interpretiert und so das Innenleben des Sängerknabenkonvikts veranschaulicht. Fragen nach den Eintrittsgründen in das Internat werden ebenso eine Rolle spielen wie der Internatsalltag selbst. Es werden aber auch Fragen danach beantwortet, wie das Untereinander in der Gruppe der Zehn- bis Vierzehnjährigen war, welche Unterschiede es zwischen Reise- und Internatsbetrieb gab und wie es den Ehemaligen erging, als sie nach ihrer meist vier Jahre dauernden Sängerknabenzeit wieder aus dem Konvikt entlassen wurden. Während also auf der einen Seite die Umwelt des sozialen Systems durch archivalische Quellen beschrieben wird, soll andererseits in differenzierten Kapiteln das soziale System durch Aussagen der ehemaligen Sängerknaben in das Zentrum der Betrachtung gerückt werden.

    Aufgrund der zum Teil sehr unterschiedlichen historischen Entwicklungen im Forschungszeitraum ist das vorliegende Buch in drei Phasen unterteilt. In den ersten Kapiteln wird es um den Untergang der Monarchie und die Wiederbegründung des Sängerknabenkonvikts durch Josef Schnitt bis zu seiner Absetzung als Leiter im Jahr 1938 gehen. Im zweiten Teil werde ich mich mit dem Sängerknabeninstitut in der NS-Zeit auseinandersetzen, ehe die historische Entwicklung in der Zweiten Republik ausgeführt wird. Diese transepochale Anlage der Untersuchung ermöglicht es, Fragen nach Bruch, Umbruch und Neubeginn stellen und beantworten zu können. Darüber hinaus sind verschiedene Kapitel angeführt, in denen die Erinnerungen der ehemaligen Sängerknaben interpretiert wurden, um neben der Außenwelt auch ein Bild der Innenwelt dieser Institution vermitteln und somit die Betrachtung vervollständigen zu können.

    Bevor ich auf all die genannten Bereiche zu sprechen kommen werde, sollen jedoch grundsätzliche Entwicklungen der österreichischen Geschichte im 20. Jahrhundert erörtert werden, die dazu führten, dass aus den Hofsängerknaben die Sängerknaben der ehemaligen Hofmusikkapelle wurden. Die Entwicklung der Sängerknaben von einer österreichischen Kulturinstitution zu einer weltweit höchst erfolgreich agierenden emblematischen Institution kann auch nur in Bezug zu Wien als Musikwelthauptstadt verstanden werden, weshalb ich mich in den ersten Kapiteln mit dem Untergang der Habsburgermonarchie einerseits und der Kulturmetropole Wien in der jungen Republik Österreich andererseits beschäftigen möchte.⁴ Wie es Josef Schnitt gelang, das Institut nach Ende des ersten Weltkrieges aus dem Nichts wieder aufzubauen, welche Schwierigkeiten ihm bei diesem Wunsch entgegenstanden und warum eigentlich Buben in einem Binnenland Matrosenuniformen tragen, sind ebenso Fragen, die es in den nächsten Kapiteln zu beantworten gilt.

    Anmerkungen

    1 Insgesamt wurden 16 Monographien über die Historie der Sängerknaben veröffentlicht, wovon acht Arbeiten wissenschaftlichen Charakter haben. Universitäre Abschlussarbeiten wurden überhaupt nur vier verfasst, von denen sich eine Einzige – hierbei handelt es sich um die Diplomarbeit des späteren Institutsleiters Karlheinz Schenk – unter anderem der Geschichtsaufarbeitung der Wiener Sängerknaben in der Ersten und Zweiten Republik widmet, ihr Fokus aber auf der gesamten Hofmusikkapelle und ihrer Erforschung in diesen Jahrzehnten liegt.

    2 Eine Ausnahme stellt hier eine 1994 an der Universität Wien verfasste Seminararbeit dar: Thomas Holmes und Christian Horvath: Kindheit in Wien 1938–1945 am Beispiel einiger Wiener Sängerknaben. Unpublizierte Seminararbeit an der Universität Wien.

    3 Das diesbezügliche Schriftstück befindet sich in meinem Privatbesitz. Auch möchte ich anfügen, dass mir ein Tagebuch, ein Heft mit Briefen aus dem Jahr 1936 sowie einige Fotografien von Sängerknabenseite zur Verfügung gestellt wurden, die Fotos und beide Konvolute aber nicht von Relevanz waren und somit auch nicht Aufnahme in das vorliegende Buch gefunden haben.

    4 Vgl. dazu Martina Nußbaumer: Musikstadt Wien. Die Konstruktion eines Images. 1. Aufl. Edition Parabasen. Freiburg im Breisgau: Rombach 2007.

    3. Die Welt von Gestern

    „Jener Sommer 1914 wäre auch ohne das Verhängnis, das er über die europäische Erde brachte, uns unvergeßlich geblieben. Denn selten habe ich einen erlebt, der üppiger, schöner, und fast möchte ich sagen, sommerlicher gewesen [ist]"¹, schreibt Stefan Zweig in seinem autobiografischen Werk Die Welt von Gestern.

    Zweig sitzt am 28. Juni des Jahres 1914 im Kurpark zu Baden und liest ein Buch, Tolstoi und Dostojewski von Dmitrij Mereschkowskij. Um ihn herum wiegen sich zahlreiche Parkgäste in sommerlichen Kleidern ganz und gar unbekümmert zur Musik der Kurkapelle, die vom Musikpavillon aus ihre Klänge in den gesamten Kurpark trägt. Plötzlich verstummt die Musik und Zweig blickt instinktiv von seinem Buch auf. Als er von seiner Bank abseits des Kurparks aufsteht, um nachzusehen, was geschehen ist, weiß er, dass es etwas Außergewöhnliches gewesen sein muss. Nicht nur die ParkbesucherInnen, die sich kurz vorher noch mit der Musik bewegt hatten, scheinen sich nun anders zu verhalten, auch die Musiker, die gewöhnlich eine Stunde oder länger spielten, erheben sich und verlassen ihre Plätze. Plötzlich erblickt Zweig eine Menschentraube, die sich um eine an den Musikpavillon geheftete Nachricht drängt. Nach wenigen Minuten hat er erfahren, dass das Objekt des Interesses eine Depesche mit der Verkündung ist, Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gemahlin seien in Bosnien einem Mord zum Opfer gefallen.²

    „Immer mehr Menschen scharten sich um diesen Anschlag. Einer sagte dem andern die unerwartete Nachricht weiter. Aber um der Wahrheit die Ehre zu geben: keine sonderliche Erschütterung oder Erbitterung war von den Gesichtern abzulesen."³

    Die Ermordung des Thronfolgers führte die Bewohner der Donaumonarchie und die in den Erblanden lebenden Menschen in letzter Instanz in den vier Jahre andauernden Ersten Weltkrieg. Schon kurze Zeit nach Kriegsbeginn aber wurde die noch am Anfang vorherrschende Kriegslust gebremst, denn „die Kollektivpsychose verflüchtigte sich nach den ersten Niederlagen an der russischen und serbischen Front (…)"⁴. Von den 2,3 Millionen Soldaten, die in den Krieg zogen, waren Ende desselben Jahres nur mehr 940.000 im Feld,⁵ eine noch nie da gewesene Zerstörungsmacht brach über zahlreiche Staaten Europas nieder und fand erst 1918 ein Ende.

    Kurz nachdem Kaiser Karl I., ohne den deutschen Partner zu kontaktieren, am 4. September 1918 die Alliierten um den Waffenstillstand ersucht hatte,⁶ kam es zu einem Abnabelungsprozess jener Völker vom Habsburgerreich, die schon zu den großen Sorgenkindern Kaiser Franz Josephs gezählt hatten. Die Serben, Kroaten und Slowenen proklamierten den SHS-Staat, die Polen lösten sich von der Habsburgermonarchie und am 14. Oktober 1918 wurde die Tschechoslowakische Republik ausgerufen.⁷ Nur einen Monat später, am 12. November 1918, legte der Staatsrat der provisorischen Nationalversammlung das „Gesetz über die Staatsund Regierungsform von Deutschösterreich" vor.⁸

    Im Mai des darauffolgenden Jahres wurde die deutschösterreichische Delegation unter Kanzler Karl Renner nach Paris geladen. Neben dem Verbleib der deutschsprachigen Gebiete war der Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich das wichtigste Ziel der Friedensverhandlungen für die österreichischen Politiker.⁹ In Saint-Germain und Versailles – wo die Vertreter des Deutschen Reiches verhandelten – wurden die besiegten Mittelmächte zur Wiedergutmachung der durch den Krieg entstandenen Schäden verpflichtet. Der größte Schlag für die deutschösterreichische Delegation in Paris war jedoch unter Artikel 88 zu finden, der sich ausdrücklich gegen den Anschluss Österreichs an Deutschland aussprach.¹⁰ Die Hoffnung seitens der österreichischen Politiker, dass ihnen ein Teil ‚deutschen‘ Bodens zugesprochen werden würde, wurde ebenso enttäuscht.¹¹ Neben den schmerzlichen Gebietsverlusten kam es auch zu Eingriffen in die Eigenstaatlichkeit „Deutschösterreichs".¹²

    Anfang Juni 1919 nahm der österreichische Staatssekretär für Äußeres, Otto Bauer, zum Friedensvertrag Stellung und befand, dass durch diesen Vertrag im Norden und Süden die bedeutendsten Gebiete von Österreich losgerissen worden seien:

    „[S]o daß uns fast nichts bleibt als das felsige, unfruchtbare Gebirgsmassiv der Alpen und die Hauptstadt Wien, deren Existenzbasis durch den Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie zerstört ist. So wird Deutschösterreich zu einem wirtschaftlich schlechthin unmöglichen Gebilde."¹³

    Das, was der Donaumonarchie mit dem Ende der Friedensverträge an Besitzungen geblieben war, nahm sich verstörend klein aus im Vergleich zu den über halb Europa ausgedehnten Gebieten, die die habsburgischen Kaiser für sich beansprucht hatten. Ein Großteil der Politiker, aber auch die Bevölkerung, hatte kein Vertrauen in den neuen, kleinen Staat. Die wirtschaftlich schwierige Situation, in der sich Österreichs BürgerInnen durch die Unterzeichnung des Friedensvertrages wiederfanden, und die dadurch ausgelöste, unzufriedene Stimmung in der Bevölkerung brachte der österreichische Journalist Hellmut Andics fast vierzig Jahre nach Kriegsende mit dem Buchtitel Der Staat, den keiner wollte auf den Punkt.

    Über die Musik im Staat, den keiner wollte

    Trotz aller wirtschaftlichen und sozialen Probleme im Nachkriegsösterreich konnte das Wien der Ersten Republik seinen Ruf einer Kulturhauptstadt verteidigen:

    „Das geistige und künstlerische Leben erfreute sich im Wien der Zwischenkriegszeit jedenfalls einer Blüte, die umso bemerkenswerter ist, als sie ungünstigen äußeren Verhältnissen abgerungen wurde und inmitten wirtschaftlicher Not entstand."¹⁴

    Zahlreiche Persönlichkeiten des literarischen Lebens, des Musikschaffens und der Bildenden Kunst aus der Zeit des Fin de Siècle, die Wiens kulturelles Ansehen durch ihre Leistungen permanent bestätigten und vergrößerten, befanden sich auch bei den ersten freien Wahlen in der Republik Österreich. „Während die Gesellschaft in und nach dem Ersten Weltkrieg einen tiefen Strukturbruch erlebte", schreibt Ernst Hanisch im Langen Schatten des Staates, „zog sich in der Kunst die (mittlerweile) klassische Moderne über diesen Bruch hinweg von den 1890er- bis zu den 1930er-Jahren."¹⁵ Am Beispiel Arnold Schönbergs, der Mitte der Zwanzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts an die Preußische Akademie der Künste wechselte, von der er sich offenbar einen größeren Wirkungskreis erhoffte,¹⁶ sehen wir wie einzelne Künstlerpersönlichkeiten ihr Glück in der Emigration suchten, wenngleich es daneben noch immer zahlreichen gab, die im Land blieben. Letztlich aber sollte erst die Schattenzeit der ausgehenden Dreißigerjahre des 20. Jahrhunderts zu einem großen Bruch in der österreichischen Kulturszene führen. Zahlreiche jüdische SchriftstellerInnen, KünstlerInnen und MusikerInnen wurden aus Österreich vertrieben, das ab März 1938 unter dem Namen Ostmark schlechterdings Einzug in die Weltgeschichte fand.

    Wien, Wien nur du allein

    Im Verlauf des Ersten Weltkrieges konnten größere musikalische Aufführungen und Inszenierungen von Opern kaum noch stattfinden. Bald waren nur mehr kleine Ensembles und Solisten übrig, die der Bevölkerung durch ihre Darbietungen Erbauung und Kurzweil während der Kriegszeit schenken konnten. Nach dem Zusammenbruch der Monarchie bemühten sich private Mäzene, aber auch die staatliche Verwaltung darum, das Musikleben möglichst schnell wiederauferstehen zu lassen;¹⁷ das zeigt sich besonders an der Neugestaltung des Operntheaters.

    Im Oktober 1919 fasste die österreichische Regierung den Beschluss, die Hofoper der Kaiserzeit, die in der Republik zum Operntheater umgetauft wurde, wegen ihrer herausragenden Stellung als Produzentin deutscher Kultur der Bundesverwaltung einzugliedern.¹⁸ Sicherlich konnten es sich die Politiker aller Couleurs nicht leisten, Wien als europäische Musikhauptstadt zu verlieren. Mit der Übernahme der Oper hofften sie auch Einnahmen aus dem Spielbetrieb für das Kulturbudget lukrieren zu können. Was jedoch das Operntheater als Finanzquelle angeht, lag die Realität in der folgenden Zeit weit von solchen Hoffnungen entfernt. 1919 machte das Defizit des Operntheaters beinahe 60 Prozent aus und Anfang der 1930er-Jahre stand sogar eine Schließung im Raum.¹⁹ Trotz allem wurde der Betrieb immer weiter subventioniert – Kunst durfte Kronen kosten.

    Das zeigt auch die Bestellung von Richard Strauss zum Leiter des Opernhauses am Ring. Strauss unterzeichnete seinen Vertrag am 10. November 1918, also zwei Tage vor der Ausrufung der Republik. Dennoch wurde der Vertrag mit Strauss einige Zeit später vom Staat übernommen. Strauss erhielt 11.000 Kronen pro Monat und weitere 1.200 Kronen für jeden Abend, an dem er dirigierte. Die Aufregung über dieses Gehalt war groß, ein so teurer Musiker in einer so armen Stadt, das schien vielen nicht zusammenzupassen.²⁰ Dass das Einkommen von Richard Strauss zu Beginn seiner Amtszeit 1918 unüblich hoch gewesen sein mag, ist eine Sache, dass es aufgrund der voranschreitenden Inflation rasch an Wert verlor, eine andere.

    „Österreich ist zuerst Geist geworden in seiner Musik …"

    „… und in dieser Form hat es die Welt erobert."²¹ Diesen Satz schrieb Hugo von Hofmannsthal 1916 und unterstrich damit einmal mehr die außergewöhnliche Bedeutung des österreichischen Musiklebens. Noch mehr brachte er damit aber die identitätsstiftende Wirkung zu Papier, die die Musik für die Bevölkerung dieses Landes hatte. Österreichs Ruf, Musikland ersten Ranges zu sein und mit Wien die Musikwelthauptstadt schlechthin zu stellen, geht noch vor Hofmannsthals Lebenszeit zurück. Außenpolitische Niederlagen und Gebietsverluste des Habsburgerreiches ab den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts führten nämlich dazu, dass „die verminderte Rolle Österreichs als europäische Großmacht mit dem Argument der kulturellen Überlegenheit zu kompensieren (…)²² versucht wurde. Die Errichtungen verschiedener Repräsentationsbauten (Hofoper 1869, Bau des Vereinsgebäudes der Gesellschaft der Musikfreunde 1870) müssen ebenso wie die ab den 1870er-Jahren vorangetriebenen Enthüllungen von Komponistendenkmälern (Schubert 1872, Beethoven 1880, Haydn 1887 und Mozart 1896) und die Benennung von Straßen und Plätzen nach Musikern und Personen, die dem Wiener Musikleben nahestanden, als erste sichtbare Meilensteine in diese Richtung gedeutet werden.²³ Diese Aktionen wie auch die Inszenierungen von öffentlichen Musikgroßereignissen stellten „zentrale Knotenpunkte im öffentlichen Diskurs über Musik dar.²⁴ Der Ursprung des bis heute wohlbekannten Topos vom feiernden und singenden Wiener liegt sogar noch weiter zurück und wurde schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Mittel zur Ankurbelung des Fremdenverkehrs eingesetzt.²⁵ „[A]uch tief in das Volk hinab", schrieb da etwa Stefan Zweig in seinem eingangs erwähnten autobiographischen Werk Die Welt von Gestern, „ging dieses Wissen um richtigen Rhythmus und Schwung, denn selbst der kleinste Bürger, der beim Heurigen saß, verlangte von der Kapelle ebenso gute Musik wie vom Wirt guten Wein."²⁶

    Welche Bedeutung nun der international verbreitete Ruf Wiens, eine Musikstadt ersten Ranges zu sein, für die schon bald nach dem Untergang der Monarchie höchst erfolgreich agierenden Sängerknaben hatte und in welcher historischen Periode sich die politischen Eliten diese Institution zur Unterstreichung dieses Topos besonders zu Nutze machten, werden später folgende Kapitel zeigen. Zuvor soll es nämlich darum gehen, welche Bemühungen und Zufälle vonnöten waren, dass aus den Hofsängerknaben die Sängerknaben der ehemaligen Hofmusikkapelle wurden und woher eigentlich die Bezeichnung Wiener Sängerknaben rührt.

    Anmerkungen

    1 Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. 37. Auflage: Juli 2009. Ungekürzte Ausgabe. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1970, S. 246.

    2 Vgl. ebda, S. 246–248.

    3 Ebda, S. 248.

    4 Peter Berger: Kurze Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert. Wien: Facultas 2007, S. 47.

    5 Vgl. ebda, S. 48.

    6 Vgl. ebda, S. 50 f.

    7 Vgl. Karl Vocelka: Österreichische Geschichte. Wissen in der Beck’schen Reihe. 3. Aufl. München: C.H. Beck 2010, S. 96.

    8 Vgl. Hanns Leo Mikoletzky: Österreichische Zeitgeschichte. Vom Ende der Monarchie bis zum Abschluss des Staatsvertrages 1955. 2., durchgesehene Auflage. Wien: Austria-Edition 1964, S. 47–53.

    9 Vgl. Erika Weinzierl und Kurt Skalnik (Hrsg.): Österreich 1918–1938. Geschichte der Republik 1. Graz, Wien, Köln: Styria Verlag 1983, S. 80 f.

    10 Vgl. Hanns Leo Mikoletzky: Österreichische Zeitgeschichte. Wien 1964, S. 76 f.

    11 Vgl. Karl Vocelka: Geschichte Österreichs. Kultur – Gesellschaft – Politik. 6. Aufl. Graz, Wien, Köln: Styria Verlag 2011, S. 273 f.

    12 Vgl. Erika Weinzierl und Kurt Skalnik (Hrsg.): Österreich 1918–1938. Graz 1983, S. 80 f.

    13 Hanns Leo Mikoletzky: Österreichische Zeitgeschichte. Wien 1964, S. 69.

    14 Susanne Rode-Breymann: Die Wiener Staatsoper in den Zwischenkriegsjahren. Ihr Beitrag zum zeitgenössischen Musiktheater. Schriftenreihe zur Musik. Ernst Hilmer (Hrsg.). Band 10. Tutzing: Hans Schneider Verlag 1994, S. 18. Zitiert nach: Peter Heintel, Norbert Leser, Gerald Stourzh, Adam Wandruszka (Hrsg.): Das geistige Leben Wiens in der Zwischenkriegszeit. Ringvorlesung. 19. Mai – 20. Juni 1980. Band 1. Wissenschaftliche Leitung Norbert Leser. Wien: Österreichischer Bundesverlag 1981, S. 243.

    15 Ernst Hanisch: Der Lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. Herwig Wolfram (Hrsg.) Reihe: Österreichische Geschichte 1890–1990. Wien 1994, S. 324.

    16 Vgl. Marcel Rubin: Das musikalische Leben Wiens in der Zwischenkriegszeit. In: Peter Heintel, Norbert Leser, Gerald Stourzh, Adam Wandruszka (Hrsg.): Das geistige Leben Wiens. Wien 1981, S. 295.

    17 Vgl. Rudolf Flotzinger: Von der Ersten zur Zweiten Republik. Mit Beiträgen von Martin Eybl und Friedrich C. Heller. In: Rudolf Flotzinger und Gernot Gruber (Hrsg.): Musikgeschichte Österreichs. Von der Revolution 1848 zur Gegenwart. 2., überarbeitete und stark erweiterte Auflage. Band 3. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1995, S. 91.

    18 Vgl. Susanne Rode-Breymann. Die Wiener Staatsoper in den Zwischenkriegsjahren. Tutzing 1994, S. 16.

    19 Vgl. Rudolf Flotzinger: Von der Ersten zur Zweiten Republik. Mit Beiträgen von Martin Eybl und Friedrich C. Heller. In: Rudolf Flotzinger und Gernot Gruber (Hrsg.): Musikgeschichte Österreichs. Wien 1995, S. 176.

    20 Vgl. Marcel Prawy: Die Wiener Oper. Geschichte und Geschichten. Wien, München, Zürich: Fritz Molden 1969, S. 103.

    21 Barbara Baumann, Brigitta Oberle: Deutsche Literatur in Epochen. 2. überarbeitete Aufl. Ismaning: Hueber 1996, S. 88.

    22 Martina Nußbaumer: Musikstadt Wien. Die Konstruktion eines Images. 1. Aufl. Edition Parabasen. Freiburg im Breisgau: Rombach 2007, S. 16. Zitiert nach Cornelia Szabó-Knotik: Musikalische Eliten in Wien um 1900. Praktiken, Prägungen und Repräsentationen, S. 41–58. In: Susan Ingram, Markus Reisenleitner, Cornelia Szabó-Knotik (Hrsg.): Identität. Kultur. Raum. Kulturelle Praktiken und die Ausbildung von Imagined Comunities in Nordamerika und Zentraleuropa. Reihe Cultural Studies. Wien: Turia und Kant 2001.

    23 Vgl. Martina Nußbaumer: Musikstadt Wien. Freiburg im Breisgau 2007, S. 73–165.

    24 Ebda, S. 28.

    25 Vgl. Anita Mayer-Hirzberger: „… ein Volk von alters her musikbegabt. Der Begriff „Musikland Österreich im Ständestaat. Musikkontext. Band 4. Frankfurt: Peter Lang 2008, S. 26 f. Zitiert nach: Cornelia Szabo-Knotik: Musikalische Eliten in Wien um 1900. Praktiken, Prägungen und Repräsentationen, S. 41–58. In: Susan Ingram, Markus Reisenleitner, Cornelia Szabó-Knotik (Hrsg.): Identität. Kultur. Raum. Kulturelle Praktiken und die Ausbildung von Imagined Comunities in Nordamerika und Zentraleuropa. Reihe Cultural Studies. Wien: Turia und Kant 2001.

    26 Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Frankfurt a. M. 2009, S. 35.

    4. Von der Hofmusikkapelle und ihren Sängerknaben

    Eine wichtige Rolle im Wiener Kulturleben der Kaiserzeit spielten neben zahlreichen Aufführungen in den Konzerthäusern und Opern auch die Messen in der Hofkapelle. Das Publikum schätzte sie besonders wegen der musikalischen Darbietungen, wurden doch die sonntäglichen Gottesdienste von einigen der besten Musiker, Sängerinnen und Sänger und auch von den Sängerknaben musikalisch umrahmt.

    Die Wurzel der Hofmusikkapelle und damit die Entstehungsgeschichte der – später so genannten – Wiener Sängerknaben reicht bis ins 15. Jahrhundert zurück. Ihr Gründervater, Kaiser Maximilian I., errichtete die Hofkapelle im Inneren der kaiserlichen Burg nach burgundischem Vorbild. Hier sollten die Gottesdienste musikalisch umrahmt werden, wozu junge Sänger ausgebildet wurden. In den folgenden Jahrhunderten erlebte die Hofkapelle Höhen und Tiefen. Mancher Herrscher kümmerte sich nur wenig um den Fortbestand dieses kirchenmusikalischen Institutes, andere hingegen trugen zur Verbesserung der Ausbildung und zu besseren Lebensbedingungen der Hofsängerknaben bei.¹ Überblickt man die Entwicklung des Sängerknabeninstituts von seiner Gründung im 15. Jahrhundert bis zum Untergang der Habsburgermonarchie und „zeichnet man ein Bild der profanen Funktion über vier Jahrhunderte hinweg, dann dokumentiert man unweigerlich die Geschichte der Professionalisierung der Hofsängerknaben"², schreibt Maria Benediktine Pagel in ihrer Arbeit über Die kk Hofsängerknaben zu Wien.

    Letzte Aufführungen in der Hofmusikkapelle

    Der künstlerische Betrieb in der Hofmusikkapelle konnte in den Jahren des Ersten Weltkrieges fortgesetzt werden, noch schien den Aufführungen in der Kapelle nichts entgegenzustehen. Auch die im Oktober 1917 erfolgte Bestellung Alois Dités zum Hoforganisten zeigt, wie wenig in dieser Phase an eine Einstellung des künstlerischen Betriebes gedacht wurde. Zahlreiche Dokumente veranschaulichen jedoch bereits zu dieser Zeit erste Engpässe in der Beschaffung von Lebensmitteln für die bei den Piaristen untergebrachten Knaben. Trotzdem wurden noch im Juni 1918 Aufnahmeprüfungen abgehalten, in deren Zuge man vier neue Sänger engagierte und zwei weitere in Vakanz hielt. Obwohl die Mitwirkung der Hofsängerknaben für die Hofmusikkapelle essentiell war, müssen deren Lebensumstände binnen kurzer Zeit noch einmal drastisch schlechter geworden sein. Im September 1918 sah sich deshalb der Hofkapellmeister veranlasst, beim Obersthofmeisteramt um Erlaubnis anzusuchen, bis auf Weiteres nur noch Männermessen in der Kapelle zur Aufführung zu bringen. Aufgrund der Spanischen Grippe, der verbreiteten Krätze und der allgemeinen Müdigkeit der schlecht ernährten Knaben könnten die Messen nicht mehr wie gewohnt gesungen werden. Die vorerst letzte Darbietung in der Hofkapelle fand am 10. November 1918 statt,³ genau zwei Tage bevor der Staatsrat der provisorischen Nationalversammlung das Gesetz über die Staats- und Regierungsform von Deutschösterreich vorlegte.

    Mit Beginn des Schuljahres 1919/1920 waren noch zehn Sängerknaben aktiv. Wie zuvor sollten auch sie im Löwenburgischen Piaristen-Konvikt untergebracht werden, wegen der hohen Kosten wurde aber seitens der Leitung der Hofmusikkapelle beschlossen, die für die Knaben bereitgestellten Stipendien für die Zeit nach dem Stimmwechsel einzustellen. Dieser Vorschlag stieß bei der niederösterreichischen Landesregierung auf große Zustimmung und da – wie argumentiert wurde – im Budget für 1920 und 1921 ohnehin kein Freiraum für derartige Ausgaben sei, stellte man die Zahlungen unverzüglich ein.

    Noch wenige Monate zuvor hatte Hofkapellmeister Luze eine Eingabe an die Verwaltung des Hofäraramtes gemacht, worin er die Bedeutung von Stipendien für die Knaben nach ihrem Ausscheiden hervorhob. Erst durch den Anreiz von Stipendien – so Luze – fände sich eine größere Anzahl an Bewerbern und nur so sei die Qualität dieses Instituts zu gewährleisten. Um die Ausgaben des Staates für Stipendien möglichst gering zu halten, machte er zwei Vorschläge: Die Knaben sollten künftig bei ihren Eltern untergebracht und die Zahl der Sänger auf sechs reduziert werden. Einzig ein vermehrtes Engagement von Sängerinnen musste in Betracht gezogen werden, sodass die künstlerische Qualität der Aufführungen beibehalten werden konnte. Obwohl auch die Verwaltung des Hofärars diese Anliegen unterstützte, kam der Plan aufgrund der genannten Intervention der niederösterreichischen Landesregierung nicht zustande.

    Tatsächlich stellte sich heraus, wie treffsicher Luzes Einschätzung über die Bedeutung der Stipendien für zukünftige Hofsängerknaben war. Schon kurz nach der Entscheidung der niederösterreichischen Landesregierung künftig keine weiteren Stipendien mehr zu vergeben, verließen die ersten Zöglinge das Institut, andere bereits aufgenommene Buben traten ihren Dienst nie an. Fünf weitere Jungen beendeten ihre Sängerknabenzeit wegen der schlechten Verpflegung im Konvikt. So blieben im März 1920 nur noch vier Knaben übrig, von denen zwei im Juni ausschieden, die beiden letzten Verbliebenen sollten bei ihren Familien untergebracht werden. Im Herbst 1920 wurden deshalb abermals Aufnahmeprüfungen abgehalten, um drei Sopranisten und drei Altisten für die Messen einzustellen. Dieser Plan konnte allerdings nicht realisiert werden, weil geeigneter Nachwuchs fehlte. In der Folge musste die gesangliche Messgestaltung endgültig von Sängerinnen des Operntheaters übernommen werden,⁶ die Sängerknaben hatten ihren Platz auf der Empore der Hofkapelle endgültig verloren.

    Kurz bevor die Sonne aufgeht, ist die Nacht am dunkelsten

    Mit der Auflösung des Hofstaates ging die Verwaltung der ehemaligen Hofmusikkapelle per Dekret vom 17. September 1921 an das Bundesministerium für Inneres und Unterricht über. Mit dieser Übernahme wurden die Verträge der KünstlerInnen erneuert und auch spätere Pensionsansprüche geklärt.⁷ Ein durchaus bescheidenes Einkommen der Musiker und SängerInnen zeigt ein im Jänner 1922 verfasster Brief Luzes an das Unterrichtsministerium. Luze hält darin fest, dass er sechs Sängerinnen mit einer Besoldung von je 2.500 Kronen anzustellen gedenke.⁸ 2.500 Kronen wäre 1918 noch ein Einkommen gewesen, von dem man leben konnte, durch die immense Inflation wurde es aber unmöglich, mit dieser Summe seinen Unterhalt zu bestreiten. Schon wenige Monate nach Kriegsende benötigte eine durchschnittliche Familie 2.500 Kronen pro Woche für den Kauf von Lebensmitteln. Ein Jahr später, im Juli 1920, hatte dieselbe Familie für dieselbe Menge an Lebensmitteln bereits 4.700 Kronen pro Woche zu bezahlen und im Jänner 1921 waren es bereits 8.300 Kronen. Auf dem Höhepunkt der Inflation, im Juli 1922, betrugen die gesamten Lebenshaltungskosten beinahe 300.000 Kronen, eine Summe, die dem 2.600-Fachen von dem entsprach, was 1914 aufgebracht werden musste.⁹

    In Folge der rasanten Geldentwertung kam es immer wieder zu Tarifverhandlungen zwischen den Künstlerinnen und Künstlern und dem Bundesministerium, die jedoch ohne Ergebnis verliefen. Georg Valker, der in der Kaiserzeit unter anderem Hoforganist und Klavierlehrer bei den Hofsängerknaben¹⁰ und nach der Auflösung Kapellmeister in der Hofkapelle war, gab dem Unterrichtsministerium zwar noch bekannt, dass am 5. September 1922 die Dienste wieder aufgenommen worden seien,¹¹ kaum drei Wochen später, am 22. September 1922, fand aber endgültig die letzte musikalische Messgestaltung durch die Mitglieder der Hofmusikkapelle statt.¹² Das Ende der Donaumonarchie hatte nun, vier Jahre später, auch das Ende dieses für Wien so bedeutenden kirchenmusikalischen Instituts zur Folge. Erst nach fast eineinhalbjähriger Wartezeit, im Jänner 1924, konnten die Vorführungen wieder aufgenommen werden. Maßgeblich beteiligt am Wiederauferstehen der Hofmusikkapelle und ihren Sängerknaben war ihr neuer Rektor – Dr. Josef Schnitt. Die Persönlichkeit dieses Mannes und seine spitzfindige und flexible Art, in einer höchst angespannten wirtschaftlichen Zeit enorme Geldsummen heranschaffen zu können, soll in den nächsten Kapiteln beschrieben werden.

    Private Initiativen zur Erhaltung der Hofmusikkapelle

    Schon bevor die Aufführungen in der Hofkapelle endgültig zum Erliegen kamen, hatte es private Initiativen zu ihrer Erhaltung gegeben, die auch in der Zwischenphase von der Auflösung zur Wiederbegründung anhielten. In einem Brief der Gesellschaft der Musikfreunde vom 16. März 1921 schreibt deren Vertreter, ihm sei der Wunsch einer Übernahme der ehemaligen kaiserlichen Hofmusikkapelle durch die Staatsverwaltung zu Ohren gekommen. Weiters betont er nun das starke Interesse der Musikfreunde, dass „dieser so altehrwürdigen und historisch und künstlerisch so bedeutungsvollen Institution"¹³ auch seitens der Regierung Förderung zuteil werde. Eine Auflösung der Hofmusikkapelle würde die „Vernichtung ganz seltener, nur durch langjährige Tradition erarbeiteter Werte und für das kirchenmusikalische Leben Wiens einen überaus schweren Verlust bedeuten"¹⁴. Für den Staat hingegen galt, dass sich die Kapelle künftig aus eigenen Einnahmen und ohne Zuschüsse aus Bundesmitteln erhalten musste:

    „Sofern es nicht gelingen sollte, dieses Unternehmen aus eigenen Kräften aktiv zu gestalten, wird sich unter dem Zwange der Verhältnisse nichts anderes erübrigen, als diese Kapelle ehestens aufzulassen."¹⁵

    Nach der endgültigen Auflösung der Hofmusikkapelle im Jahre 1922 wurden die privaten Initiativen deutlich vehementer. Erste Förderer suchten aktiv nach weiteren Gönnern, die neben der geforderten Grundsubvention durch den Staat einen Teil der anfallenden Kosten übernehmen sollten. Eine dieser Initiativen zur Rettung der Hofmusikkapelle fand gar Eingang in die Zeitungen. In einem zweiseitigen Bericht in der Neuen Freien Presse vom 14. Mai 1923 machte Dr. Karl Kobald, von 1887–1890¹⁶ selbst Hofsängerknabe und nun im Bundesministerium für Unterricht beschäftigt, auf die Bedeutung der Hofmusikkapelle aufmerksam, die „ein Stück feinster Wiener Kultur und erhabenster österreichischer Kunstbetätigung"¹⁷ repräsentiere. Kobald argumentierte:

    „Gegenwärtig befindet sich dieses berühmte Kunstinstitut in einer schweren Krise. (…) Im Interesse der Erhaltung dieses Institutes für das Wiener Musikleben ist zu hoffen, daß nicht nur die Wiener Musikfreunde (…) [es] fördern, sondern daß sich auch Mäzene finden werden, die zur Erhaltung dieses einzigartigen österreichischen Kulturgutes ihr Scherflein beitragen."¹⁸

    Das Komitee zur Förderung sinfonischer Musik in Wien

    Im Bestreben, den alten Glanz der Hofmusikkapelle wiederherzustellen, tat sich der Verein Komitee zur Förderung sinfonischer Musik in Wien in besonderem Maße hervor. Am 21. November 1923 wandten sich die Vertreter desselben in einem Brief an das Unterrichtsministerium. Bemerkenswerterweise wurde in diesem Schriftstück nicht allein auf die künstlerische Bedeutung der Hofmusikkapelle hingewiesen. Erstmals führten die Verfasser ein über das Wiener und Österreichische Kulturleben hinausgehendes Interesse für den Fortbestand der Hofmusikkapelle ins Treffen, indem sie meinten, dass sich die dort geschaffene Kunst „in mittelbarer Folge (…) auch auf wirtschaftlichem Gebiete auswirkt, sodaß sich die Erhaltung der Hofmusikkapelle (…) auch als eine wirtschaftlich-produktive Maßnahme darstellt".¹⁹ Die Autoren hatten erkannt, dass die Aufführungen in der Hofburg nicht nur der schönen Kunst wegen Sinn hatten, sondern hier aufgrund der bei den Messen anwesenden Touristen auch eine Umwegrentabilität zu erwarten war, die für den Staat und für die Stadt von Interesse sein müsste. Die Mitglieder des Vereins hatten auch schon konkrete Erkundigungen zur Wiederaufnahme der sonn- und feiertäglichen Aufführungen durchgeführt und erste Lösungen parat. So wurde um private Gönner geworben, mit kirchlichen und künstlerischen Verantwortlichen Kontakt aufgenommen und man stellte auch erste Berechnungen zu den Erhaltungskosten an. Der Vorschlag des Komitees lautete nun, kirchenmusikalische Aufführungen ab dem 25. Dezember 1923 oder 1. Jänner 1924, vorerst für die Dauer von einem Jahr, wieder aufzunehmen. Mit den Musikern hatte man deren Löhne vereinbart, die kirchliche Direktion war für die Sache gewonnen und auch die Burghauptmannschaft stimmte dem Plan zu. Das Komitee verpflichtete sich dazu, den Mitwirkenden für die Dauer der Spielzeit eine Ergänzungszulage auszubezahlen, die dem 100-Fachen des von staatlicher Seite bezahlten Gehaltes entsprach. Man kann sich also vorstellen, wie niedrig das Einkommen der Musiker vor der Neuorganisation der Hofmusikkapelle war und wie groß daher ihr Interesse an einer Einigung zwischen dem Ministerium und dem Komitee gewesen sein muss.²⁰

    Nach Berechnungen seitens des Komitees beliefen sich die Kosten für das Spieljahr auf 180 bis 200 Millionen Kronen. Die Verantwortlichen erklärten sich bereit, zwei Drittel der benötigten Geldmittel durch Spenden und Platzreservierungen in den Oratorien aufzubringen, im Gegenzug hätte der Staat das letzte Drittel in Höhe von 70 Millionen Kronen zu finanzieren. Am Ende des Briefes machte das Komitee noch geschickt darauf aufmerksam, dass sich bereits Persönlichkeiten wie der Kardinal Fürsterzbischof, der Bundeskanzler, der Unterrichtsminister, der Rektor der Universität und andere führende Persönlichkeiten unter den Gönnern der Initiative befanden.²¹

    Im nächsten Brief des Komitees zur Förderung sinfonischer Musik vom 22. Dezember 1923 an das Unterrichtsministerium ist zu lesen, dass die Spenden für die Wiederaufnahme der Aufführungen „bereits im beträchtlichen Masse einlaufen"²², gleichzeitig wurde um die Überweisung der ersten 30 Millionen Kronen durch das Ministerium gebeten.²³ Tatsächlich kam es am 1. Jänner 1924 – nach 14-monatiger Unterbrechung – unter dem Dirigat von Carl Luze zur Aufführung von Franz Schuberts Missa in Es. Dass den Wünschen des Komitees seitens des Unterrichtsministeriums zugestimmt wurde, darf vor allem wegen der prominenten Fördererliste nicht verwundern. Als Dank gab es vom Komitee zwei Freikarten für das Unterrichtsministerium.²⁴

    Neubeginn mit Schwierigkeiten

    Nachdem wichtige Schritte zur Wiederbegründung des kirchenmusikalischen Lebens in der Hofkapelle gesetzt waren und bereits erste Aufführungen stattgefunden hatten, machte man sich auch an die Wiederbegründung des Sängerknabenkonvikts. Abermals waren es Privatleute, die sich dafür einsetzten, gaben doch, so das Argument, die Sopran- und Altstimmen der Knaben in ‚früheren Zeiten‘ den Gottesdiensten in der Kapelle ihre künstlerische Eigenart. Aus der Riege der Gönner und Mäzene der Hofmusikkapelle tat sich der am 15. November 1921 ins Amt berufene Rektor der Burgkapelle, Dr. Josef Schnitt,²⁵ besonders hervor.

    Josef Schnitt – Eckdaten einer Biografie

    Josef Schnitt wurde am 7. Dezember 1885 in der Gemeinde Mailberg im Weinviertel (Niederösterreich) als sechstes Kind einer Bauernfamilie geboren. Von 1887 bis 1905 besuchte er das Diözesan-Knabenseminar in Hollabrunn, Niederösterreich. Nachdem Schnitt maturiert hatte, übersiedelte er nach Wien, wo er von 1905 bis 1909 an der Katholischen Fakultät der Universität Wien inskribiert war, um sich auf das Priestertum vorzubereiten.²⁶ In dieser Zeit trat Schnitt der Wiener CV-Verbindung Amelungia bei, in der er 1907 unter dem Vulgonamen Josef von Eginhard rezipiert wurde.²⁷ Am 25. Juli 1909 empfing der damals dreiundzwanzigjährige Josef Schnitt die Priesterweihe. Mit September 1909 wurde er Kooperator in Lichtenegg, einer Gemeinde im niederösterreichischen Bezirk Wiener Neustadt. Drei Jahre später wechselte er als Kooperator in den vierten Wiener Gemeindebezirk (Wieden), von 1917 bis zu seiner Bestellung als Rektor der Hofburgkapelle war er schließlich als Ökonom am Wiener Priesterseminar tätig.²⁸ Schon dort soll er seine später oft zitierten kaufmännischen Fähigkeiten unter Beweis gestellt haben.²⁹

    Ein Plan nimmt Formen an

    Josef Schnitt schwebte vor, dass die primär von privater Hand finanzierte gesangliche Ausbildung der Buben – nach dem Vorbild der Hofsängerknaben – dazu führen sollte, dass die Messen in der Hofkapelle wieder von Knaben und nicht, wie in der Zwischenzeit üblich, von Sängerinnen des Operntheaters gestaltet würden. Ein zweites, nach eigenen Aussagen noch größeres Interesse Schnitts lag darin, ein Institut zu gründen, in dem Knaben nach „guten alten Grundsätzen erzogen und zur Wahrung und Weiterverbreitung der österreichischen Musikkultur vorbereitet werden".³⁰ Dem Tagebuch Josef Schnitts zufolge waren aber für diesen Plan anfangs keine Gönner zu finden.

    Am 2. Februar 1924 verfasste der Hofkapellmeister Carl Luze einen Brief an das Unterrichtsministerium, worin er sich zu Beginn für die vom Ministerium gewährten Subventionen bedankt und weiter schreibt, dass es zur „Komplettierung dieses in der Welt einzig dastehenden Institutes (…) jedoch nach Überzeugung aller Sachverständigen der Knabenstimmen"³¹ bedürfe. Der erste diesbezügliche Brief Josef Schnitts stammt vom 28. Februar 1924 und wurde beim Unterrichtsministerium im Akt Nummer 3002/24 eingelegt. Darin erklärt sich Schnitt bereit, ein noch zu errichtendes Sängerknabenkonvikt musikalisch und pädagogisch zu leiten, falls ihm durch Vermittlung des Unterrichtsministeriums die notwendigen Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt würden. Für den Fall einer vertraglichen Übereinkunft mit dem Ministerium stellte er eine Gewährleistung von insgesamt 500 Millionen Kronen zur Unterhaltung des Betriebes für die Dauer von fünf Jahren in Aussicht.³²

    Da beide Herren, Luze und Schnitt, kurz nacheinander dem Unterrichtsministerium gegenüber denselben Wunsch nach einem Sängerknabenkonvikt äußerten, Luze in seinem Brief auch darauf aufmerksam machte, dass Schnitt bereit wäre, ein solches Institut zu leiten, kann mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass es zuvor zu einer Absprache der beiden gekommen sein muss.³³ Als Detail am Rande sei jedoch erwähnt, dass nur zehn Tage nachdem Luze seinen ersten Brief abgefasst hatte, ein zweites von ihm unterzeichnetes Schreiben im Ministerium eintraf, worin er Vorschläge zur Nachbesetzung für Altistinnen und Sopranistinnen ankündigte.³⁴ Da solche Nachbesetzungen freilich mit Verträgen verbunden waren, die sich jedenfalls über einen längeren Zeitraum erstreckten, ist anzunehmen, dass es Luze nicht sonderlich ernst gewesen sein dürfte, als er das Errichten eines Sängerknabenkonvikts als „sehnlichste[n] Wunsch bezeichnete und von einem „momentanen Bedürfnis an Knabenstimmen schrieb.³⁵ Der sehnlichste Wunsch Josef Schnitts scheint in Luzes Brief mehr zum Ausdruck gekommen zu sein als sein eigener.

    Der Ministerialbeamte, der den betreffenden Akt anlegte, vermerkte am Bogen die herausragende Bedeutung und Geschichte der Sängerknaben in früheren Zeiten. Da aus einer Neugründung des Sängerknabenkonvikts dem Unterrichtsministerium nicht einmal Kosten entstehen würden, unterstütze er das Ansuchen Schnitts. Lediglich das Bundesministerium für Handel und Verkehr, das die Räumlichkeiten zur Verfügung stellen musste, hatte noch zuzustimmen. In einem Brief an dieses Ministerium drängte der Beamte des Unterrichtsministeriums nun darauf, das Sängerknabengesuch positiv zu bescheiden.³⁶ Tatsächlich stellte das Ministerium für Handel und Verkehr letztendlich Räumlichkeiten für das Sängerknabenkonvikt zur Verfügung, womit der Wiederbegründung des Institutes nichts mehr im Wege stand. Schon im Mai 1924 konnten die ersten Aufnahmeprüfungen abgehalten werden.³⁷

    Ende Oktober 1924 langte dann auch die Satzung für den Verein der Freunde des Sängerknabenkonvikts der ehemaligen Hofburgkapelle beim Magistrat Wien ein. Der Vorstand dieses Vereines hatte aus mindestens sechs Mitgliedern zu bestehen, die von der Hauptversammlung gewählt werden mussten. Neben dem Obmann, der immer der Leiter des Sängerknabenkonvikts zu sein hatte, bestand der Vorstand weiter aus einem Schriftführer, einem Kassier und deren Stellvertretern. Mitglied im Verein konnte jeder Erwachsene werden, der vom Vorstand bestätigt wurde und bereit war, die Aufnahmegebühr und die laufenden Beiträge zu entrichten.³⁸ Als Mitgliedsbeitrag wurden fünf Schilling pro Monat veranschlagt.³⁹ Der Zweck des Vereins war laut Satzung, „den seinerzeit aus Mitteln des Hofstaates erhaltenen Sängerknaben die notwendige Erziehung angedeihen zu lassen".⁴⁰

    Über Annoncen, die in zahlreichen Tageszeitungen geschaltet wurden, suchte Schnitt nach stimmlich begabten Knaben, die sich Ende Mai 1924 in der Hofburg zur Aufnahmeprüfung einfinden sollten.⁴¹ Die Angaben in den Quellen über die Anzahl der Buben, die zu dieser ersten Aufnahmeprüfung kamen, variieren beträchtlich, nämlich zwischen zwei Dutzend⁴² und zweihundert Knaben.⁴³ Aus den Bewerbern wurden in weiterer Folge zwölf bis dreißig Buben⁴⁴ – auch hier gehen die Angaben in den Quellen auseinander – als externe Schüler ausgewählt und in einen Vorbereitungskurs aufgenommen, in dem sie für ihre zukünftige Tätigkeit ausgebildet werden sollten. Dieser Vorbereitungskurs startete mit 1. Juni 1924 in den technischen Appartements der Hofburg und dauerte bis 15. September desselben Jahres.⁴⁵ Mit Ende des Kurses wurde das Sängerknabenkonvikt der ehemaligen Hofburgkapelle von Schnitt offiziell errichtet, der Stadtschulrat Wien nahm die Gründung per 18. November 1924 zur Kenntnis.⁴⁶

    Von den Burschen, die für den Vorbereitungskurs ausgewählt wurden, blieben, laut einem erfolgreichen Bewerber, letzten Endes zehn Knaben übrig, die für die Aufnahme in das Konvikt geeignet erschienen.⁴⁷ Mitte September startete der reguläre Internatsbetrieb. Die Konviktsräumlichkeiten bestanden anfangs aus der Wohnung des Rektors – der als geistlicher Leiter der Hofkapelle eigene Zimmer in der Hofburg besaß – und aus zwei weiteren Zimmern des Kaiser-Franz-Appartements, das ebenfalls Teil der Hofburg war. Als Bedienstete wurden eine Köchin, ein Stubenmädchen und ein Diener engagiert,⁴⁸ den schulischen Unterricht erhielten die Knaben vorerst im Piaristengymnasium.⁴⁹ Im Dezember desselben Jahres übersiedelte das Institut trotz hoher Kosten in die Räumlichkeiten der ehemaligen Burghauptmannschaft, womit man sich aus der Beengtheit der ersten Monate befreien konnte. Das Konvikt bestand nun aus einem Vorzimmer, zwei Schlafsälen, einem Waschraum, einem Badezimmer, einem Studierzimmer, einem Frühstückszimmer, zwei Musikzimmern, einem Krankenzimmer und einem Zimmer für den Präfekten, das Speisezimmer blieb in der Wohnung des Rektors.⁵⁰

    Die finanzielle Lage des Instituts zur Zeit der Wiederbegründung

    Um den Betrieb für den Zeitraum von fünf Jahren gewährleisten zu können, hatte Schnitt, wie oben erwähnt, 500 Millionen Kronen zur Verfügung. Diese 500 Millionen Kronen stammten – so

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