Missverstandene Monster
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Bemitleidenswert!
Niedlich!
Monster haben viele Facetten. Manche von ihnen arbeiten in ungeliebten Nebenjobs und andere suchen nach einem Sinn in ihrem Leben. Vielleicht gibt es aber auch Ungeheuerlichkeiten, die einfach nur auf Abenteuer aus sind. Identitätskrisen reichen dem normalen Monsteralltag in dieser Anthologie die Tentakel, jugendliche Monstrositäten verlieben sich und wilde Wesen lauern nachts in Kellern und Schränken. Doch eines haben all diese Monster gemeinsam: Sie sind zutiefst missverstanden.
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Buchvorschau
Missverstandene Monster - Ingrid Pointecker
Missverstandene Monster
Ingrid Pointecker (Hrsg.)
Anthologie
Die Deutsche Bibliothek und die Österreichische Nationalbibliothek verzeichnen diese Publikation in der jeweiligen Nationalbibliografie. Bibliografische Daten:
http://dnb.ddp.de
http://www.onb.ac.at
© 2014 Verlag ohneohren, Ingrid Pointecker, Wien
1. Auflage
Herausgeber: Ingrid Pointecker
Covergestaltung: Ingrid Pointecker
Coverillustration: Oskar Pointecker | oskart.at
Lektorat, Korrektorat: Ingrid Pointecker
www.ohneohren.com
ISBN: 978-3-903006-15-7
E-Book Distribution: XinXii
http://www.xinxii.com
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und/oder des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind völlig frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Inhaltsverzeichnis
Protestbrief
Mortimer M. Müller
Northshavn
John R. Borrmann
Troll vegan
Ulrik van Doorn
Willo, das Irrlicht
Nina C. Egli
Die Sache mit dem Drache
Laura Dümpelfeld
Ein Katzenschwanz zum Verzweifeln
Sophia Berg
Der Werwolf auf der Feuerleiter
Marcus Haas
Grässlich bleibt grässlich, da helfen keine Pillen
Andrea Bienek
Streik!
Helen B. Kraft
Gemeinsam heulen
Corinna Schattauer
Der Drache und die Jungfrau
Susanne Haberland
In den Fängen der BeefMachinery
Daniel Schlegel
Dank sei den Stinkmorcheln
Anke Höhl-Kayser
Arachne organophilia
Tina Alba
Das aus dem Keller
Tanja Rast
Ribbli
Robert von Cube
Noralina Nimmerschreck
Dennis Bienkowski
Monstertherapie
Katharina F. Bode
Anonyme Pädophobiker
Felicitas Heine
Vielleicht doch kein böses Ende
Rike Winthert
Die AutorInnen
Protestbrief
Mortimer M. Müller
Südfrankreich im Jahr 1154 n. Chr.
Empfänger: Ludwig der VII., König von Frankreich (oder wer auch immer von euch Menschenhalunken gerade das Zepter der Macht in Händen hält)
Einen schönen Sonnentag, Herr König!
Nein, ich entschuldige mich weder für die saloppe Anrede, noch für den nun folgenden, sehr formlosen Schreibstil oder die eindeutigen Anschuldigungen gegen das Menschengeschlecht. Ich habe allen Grund dazu, ernsthaft sauer zu sein. Ja, schon klar, noch habt Ihr keine Ahnung, wovon ich spreche. Lest einfach weiter, um die ganze erschreckende Wahrheit zu erfahren.
Mein Name ist Tarasque. Ich bin eine Drachin, jugendliche dreiundsiebzig Sonnenzyklen alt. Ich lebe im Süden Eures sogenannten Frankreichs, genauer gesagt in einer mühevoll gegrabenen Erdhöhle am Ufer der Rhône bei Nerluc. Ich gehöre zur Gattung der Flussdrachen. Das heißt, ich besitze keine Flügel. Ich kann in geringem Maße Feuer speien, aber das ist kaum der Rede wert. Ich mag die Werke der griechischen Philosophen, Ovids Metamorphosen und die Nibelungensage. Im Bereich aktueller Menschenmusik sprechen mich gregorianische Choräle, Minnesang und Volkslieder an. Vorzugsweise ernähre ich mich von Fisch, am liebsten geröstet und fein mit Petersilie und Rosmarin gewürzt. Ich tanze und singe gern, liebe Regenschauer und erfreue mich an der Leichtigkeit fliegender Schmetterlinge. Ach, das alles hättet Ihr nicht gedacht? Wahrscheinlich habt Ihr angenommen, dass wir Drachen dumme und blutrünstige Tiere sind, die am liebsten Jungfrauen verspeisen, Häuser anzünden, Angst und Schrecken verbreiten – und natürlich einen Goldschatz hüten. Nun, werter König, all das ist hoffnungsloser Humbug!
Ich wollte es ja selbst nicht glauben, dass Ihr Europäer eine solch krankhafte Fantasie entwickelt habt. Die ersten Jahrzehnte meines Lebens verbrachte ich am Nil in Ägypten. Die Menschen dort sind viel umgänglicher, freundlich und haben mich mit geräucherten Fischen gefüttert. Dafür half ich ihnen auch dabei, Dämme zu errichten und Gräben auszuheben. Leider hörte ich auf die Empfehlung eines befreundeten Flugdrachen, der meinte, der Süden Frankreichs sei das herrlichste Fleckchen Erde weit und breit.
Pah! Wahrscheinlich wollte mir Fuchur, dieser vermaledeite Glücksdrache, nur wieder ein Schnippchen schlagen. Der hat sich garantiert halb totgelacht, als er gehört hat, dass ich durchs Mittelmeer geschwommen und die Rhône entlanggepaddelt bin. Bis zu dem Zeitpunkt, als ich an Land ging und den ersten Menschen begegnete, schien ja noch alles in Ordnung zu sein. Landschaftlich und klimatisch ist Südfrankreich wirklich eine angenehme Gegend. Nur die menschliche Bevölkerung … Es waren ein paar Bauern auf dem Weg zu ihren Feldern. Sie sind mitten im Schritt erstarrt und haben mich mit großen Kuhaugen angeblickt. Ich wollte ihnen gerade ein fröhliches „Guten Morgen! zurufen, als einer von ihnen den Mund aufgerissen und „Ein Monster!
gebrüllt hat.
Ich wäre fast zu Tode erschrocken; bin mit geblähten Nüstern herumgewirbelt und habe sicherheitshalber ein paar Flammen gespuckt – ich meine, wenn ein Monster in der Nähe ist, muss man auf Nummer sicher gehen, oder?
Tja, wie Ihr Euch denken könnt, war ich das Monster. Zuerst habe ich gedacht, das war ein Versehen und die Menschen haben mich mit einem wirklichen Monster verwechselt. Nun, die Wahrheit musste ich – nach weiteren unerfreulichen Begegnungen – einsehen, als mir durch Zufall ein Schreiben an irgendeinen Grafen in die Hände fiel (welches ein Bote auf seiner panischen Flucht vor mir verloren hatte). Darin hieß es unter anderem:
Die Tarasque ist ein grausiges Ungeheuer von mehr als sechzig Fuß Länge und dreißig Fuß Höhe. Sie lebt allein und kann nicht sprechen. Tarasque hat sechs krallenbewehrte Beine, einen geschuppten Körper, einen gespaltenen Schwanz sowie einen löwenartigen Kopf. Ihr harter Rückenpanzer ist mit langen, giftigen Stacheln besetzt.
So. Das habe ich also gelesen. Wollt Ihr wissen, wie viel davon der Wahrheit entspricht? Genau EINE Sache, nämlich mein Name! Und woher haben die Verfasser den? Weil ich ihn bei einer meiner ersten Begegnungen mit euch schreckhaften Franzosen den Flüchtenden hinterhergerufen habe; gerufen, denn selbstverständlich kann ich sprechen! Ich meine, das soll wohl ein Witz sein? Nur, weil alle schreiend Reißaus nehmen und mich nicht zu Wort kommen lassen, werde ich sogleich meiner Befähigung zur Lautäußerung beraubt? Ich empfinde das als persönliche Beleidigung!
Daneben messe ich kaum fünfzig Fuß in der Länge und etwas über fünf Fuß in der Höhe. Woher die genannten Abschätzungen stammen, ist mir schleierhaft; vielleicht von einem blinden Tattergreis. Dann das Nächste: Ich lebe nicht allein. Okay, gut, ich habe momentan keinen Drachengefährten. Aber meine Behausung am Schilfufer teile ich mit zwei Klabautern – Zumpfal und Brie –, die sehr interessante Ansichten zum Schiffsbau und zur Vermeidung von Dämonenübergriffen haben, sowie einem Flusstroll – genannt Blubbelplopp –, der eine hervorragende Fischsuppe kocht.
Zu den sechs Beinen: Ich bitte euch! Nur Insekten haben mehr als vier. Und krallenbewehrt sind sie schon gar nicht. Das, was ihr leichtgläubigen Menschen für scharfe Klauen haltet, sind in Wirklichkeit weiche und bewegliche Hautlappen, die beim Liebesspiel mit Artgenossen von Bedeutung sind und beispielsweise beim Schreiben – so wie jetzt – gute Dienste leisten.
Zum geschuppten Körper: Das ist meine lederne Haut, ich bin schließlich kein Fisch! Mein Schwanz ist wunderbar gerade und nicht gespalten. Löwenartiger Kopf – ich meine, hallo?! Hat irgendjemand von diesen minderbemittelten Dorfbewohnern mich überhaupt angeschaut? Wenn man meinen wohlgeformten Drachenkopf schon mit dem Schädel eines Tieres vergleichen will, dann bitte mit dem einer Eidechse. Der – angebliche – Rückenpanzer ist die seit meiner Kindheit durch eine Brandverletzung verdickte Hornhaut. Was die langen, giftigen Stacheln angeht: Dabei handelt es sich um hilfreiche Spitzkegelschnecken, die verhindern, dass meine unschöne Hornhaut weiter anwächst. Soviel zu meinem Äußeren. Wären die abstrusen Beschreibungen meiner körperlichen Erscheinung sowie Eigenschaften das einzige Problem, würde ich Euch nicht schreiben. Leider haben sich in den letzten Wochen und Monaten die Anschuldigungen meiner Person gegenüber gehäuft. So wird behauptet, ich hätte Höfe angezündet, Vieh verschlungen und Menschen getötet. Alles Unsinn! Ich habe keiner einzigen Menschenseele etwas zuleide getan (wie auch, wenn alle die Beine in die Hand nehmen, sobald sie mich in der Ferne erblicken), zumindest nicht mit Absicht. In einem der Fälle hat ein Blitz ein Haus angezündet und ich wollte den Bewohnern zu Hilfe kommen. Als ich mit einem Maul voll Wasser auf das Gebäude zugestürmt bin, sind die Besitzer kreischend nach drinnen gerannt – und einen Augenblick später brach das Dach über ihnen zusammen. Bei einer anderen Gelegenheit haben Nachbarn um ein offenes Fass Öl gezankt. Als ich schlichtend eingreifen wollte, hat mir einer von ihnen einen Stein an die Nüstern geschleudert. Das hat meinen Niesreflex ausgelöst, eine winzige Flamme ist auf das Öl gefallen … Nun, den Rest könnt Ihr Euch denken. Vor Kurzem dann das nächste ernüchternde Erlebnis: Mehr als ein Dutzend junger Männer sind an meiner Behausung vorbeigekommen. Die haben wohl gedacht, sie können sich an mich heranschleichen. Ja, wenn ihr Menschen ein wenig reinlicher wärt, vielleicht. Aber da ihr alle stinkt wie faule Fische, rieche ich noch einen Kilometer gegen den Wind, wenn sich einer von euch Zweibeinern nähert.
Zuerst habe ich mir in meinem unerschütterlichen Optimismus gedacht, dass sie erschienen sind, um sich mit mir auf einen gemütlichen Plausch zusammenzusetzen. Nichts da. Sie waren bis an die Zähne mit Schwertern und Lanzen bewaffnet, haben mich ohne Vorwarnung und rücksichtlos attackiert. Da wurde mir das erste Mal angst und bange und ich habe mich zur Wehr gesetzt. Die Klabauter waren auf einem Schiff unterwegs, aber der Flusstroll hat sich an meine Seite gesellt und angefangen grässliche Rülpslaute von sich zu geben. Zur Abschreckung habe ich den Angreifern ein paar Flammenzungen entgegengespuckt. Die Männer sind sogleich kopflos davongestürmt und über die Uferböschung in die Rhône gestürzt. Ich schätze, ein paar von ihnen haben sich den Hals gebrochen oder konnten nicht schwimmen. Wenigstens hatte ich danach meinen Frieden – zumindest nach außen hin. Innerlich quälten mich Gewissensbisse. Einerseits, weil ich indirekt für den Tod von Menschen verantwortlich war, andererseits, weil ich verzweifelt und nahe dran war, meine Behausung aufzugeben und zurück nach Afrika zu reisen. Und dann kam Martha.
Ein paar Tage später, als ich gerade grübelnd am Eingang meiner Erdhöhle hockte, vernahm ich eine liebliche, singende Stimme. Neugierig, wie ich nun mal bin, schwamm ich zu der Stelle am Ufer, von der aus dieser wunderbare Gesang über das Wasser tönte. Hier sah ich sie sitzen. Eine junge Menschenfrau mit strengen und gleichzeitig doch weichen Gesichtszügen, einer hohen, edlen Stirn und geflochtenem Haar. Sie trug ein grünes Kleid, war barfuß und hielt – ich konnte es kaum fassen – eine aus Holz geschnitzte Drachenfigur in Hände. Ich bin aus dem Wasser gestiegen und habe mich ihr bedächtig aber offenkundig genähert, schließlich wollte ich sie nicht verschrecken. Die Frau hat den Kopf gehoben, gelächelt und gesagt: „Ich grüße Euch, Tarasque. Es freut mich, Euch kennenzulernen." Glaubt mir, mir ist ein Stein vom Herzen gefallen! Endlich ein Mensch, der nicht kreischend das Weite suchte und an einer gepflegten Konversation interessiert war. Die Unbekannte stellte sich als Martha vor und entschuldigte sich für die Missetaten ihrer Mitmenschen. Sie meinte, dass die Menschen hier in Europa durch das patriarchische Herrschaftssystem und die derzeitige Gesellschaftsordnung eine ausgeprägte Intoleranz entwickelt haben. Wenn man sie aber näher kennenlernt und ihr Vertrauen gewinnt, so ihre Aussage, sind sie freundlich und hilfsbereit.
Martha ist eine wirklich gebildete und umgängliche Seele. Wir haben zusammen Lieder geträllert, uns über Politik und die Machtverhältnisse in der Menschen- und Fabelwelt unterhalten und herzlich zusammen gelacht.
Nach einigen Tagen – genauer gesagt gestern – hat mich Martha überredet, es noch einmal mit den Menschen zu versuchen und wir sind ins Dorf marschiert. Das war ein Getümmel, kann ich euch nur sagen! Alle haben sie geglotzt, als wäre ich ein eitriger, befußter Pickel. Zu Beginn habe ich mich unwohl gefühlt, obwohl Martha besänftigend auf mich eingeredet hat. Dann ist dieses Unwohlsein einer bohrenden Furcht gewichen, als die umstehenden Menschen laut wurden und mit Fingern auf mich zeigten. Schließlich geriet ich in Panik – die Dorfbewohner warfen Steine nach mir!
Martha wies die Meute mit scharfer Stimme zurecht, aber es war hoffnungslos. Ein Wurfgeschoss traf sie an der Stirn und sie sank zu Boden. Sofort war ich an ihrer Seite, schirmte sie mit meinem Körper gegen weitere Geschosse ab.
„Lauf, flüsterte sie mir zu. „Verlasse das Land. Hier ist kein Platz für solch edle Geschöpfe wie dich.
Kurz habe ich noch gezögert, aber dann eingesehen, dass es keinen Zweck hat. Ich bin davongestürmt, verfolgt von einer Hundertschaft aufgebrachter Menschen, in die Rhône gesprungen und zurück zu meiner Behausung geschwommen. Ich habe den Mitbewohnern meine Entscheidung mitgeteilt, Frankreich zu verlassen und zurück nach Ägypten zu gehen. Blubbelplopp hat gemeint, dass ihm die Menschen schnurzegal sind – er bleibt und wird weiter Fischsuppe kochen. Zumpfal und Brie hingegen wollen mich begleiten; sie haben die Schiffsbaukünste der Ägypter schon immer bewundert.
Heute Morgen kam noch einmal Martha vorbei. Glücklicherweise ist sie wohlauf. Von ihr habe ich das Schlimmste überhaupt erfahren: Die Dorfbewohner behaupten doch wahrhaftig, Martha hätte mich verzaubert und zum Töten in die Stadt geführt! Das hat mir den Rest gegeben und meinen Entschluss gefestigt, Frankreich umgehend zu verlassen. Mir steht es wirklich bis oben hin. Ich will mich nicht länger diesen Verleumdungen, Anschuldigungen und Mordversuchen aussetzen. Ich verschwinde. Und zwar noch heute.
Davor wollte ich Euch aber über die wahren Hintergründe meines Wesens und die tatsächlichen Geschehnisse in Nerluc (wobei die Bewohner angeblich planen, den Ortsnamen in Tarascon umzuändern) informieren. Jetzt kennt ihr meine Geschichte und die Wahrheit.
Ich fertige dieses Schreiben in zweifacher Ausführung an. Eines übermittle ich Martha, das andere werde ich Euch über einen befreundeten Flugdrachen zukommen lassen. Fuchur ist mir definitiv noch einen Gefallen schuldig. Ich hoffe, dass Euch meine Worte die Augen öffnen und Ihr in Zukunft einen intensiven, aber bitte freundlichen und zuvorkommenden Kontakt zu uns Drachen sucht.
Lebt wohl und bedenkt meine Worte,
Tarasque
Fantastische
Monster
Northshavn
John R. Borrmann
Feuer fraß sich gierig um das Ende einer Fackel. Immer wieder durch mächtige Windstöße zum hektischen Tanz gezwungen, niedrig gehalten, aber nie zum Erlöschen gebracht. Schnee fiel in feinen Flocken auf einen Wanderer, der mit steifgefrorener Hand die Fackel hielt. Sein Gesicht verbarg sich unter einer Kapuze, um sich vor dem eisigen Atem der Natur zu schützen. Der Gürtel hielt eine Breitaxt und auf dem Rücken trug er einen Holzschild. Werkzeuge des Krieges, um Gefahren zu bezwingen oder sie abzuwehren. Und so zog der Wanderer durch den grauen Wintertag seinem Ziel entgegen.
Es dauerte seine Zeit, vielleicht Stunden, die er schon hinter sich gelassen hatte. Doch nachdem die letzte Erhöhung überwunden war, stand sie direkt vor ihm: Eine Höhle, deren undurchdringliche Schwärze keinen Blick ins Innere erlaubte, offenbarte sich vor seinen Augen. Mit bedächtigen Schritten trat er dem Ungewissen entgegen und streckte die Fackel so weit wie möglich nach vorne. Wenige Meter ragte der Schein des Feuers ins Innere, zu sehen war nichts. Wieder ein paar Schritte vorwärts und wieder erblickten seine Augen nichts. Immer weiter, behutsam und nichts überhastend, durchschritt er das Portal der Höhle, um sich schwer atmend an der nächsten Felswand anzulehnen. Mit wachsamen Blicken starrte er unaufhörlich in die dunklen Tiefen. Versuchte etwas zu hören, aber mehr als seinen eigenen Atem und das prasselnde Lodern der Fackel vernahm er nicht. Langsam raffte er sich auf, warf einen letzten Blick dem grellen Schein des Eingangs entgegen und drang weiter in die Tiefen der Höhle vor.
Der große Vorraum wurde stetig enger, bis der Schein der Fackel ausreichte, um die seitlichen Wände zu erleuchten. Nach und nach wandelte sich die Umgebung zu einem schmalen Gang, der steil nach unten führte. Unaufhörlich zogen die Wände an ihm vorbei und der Weg in die Tiefe schien sich bis ins Endlose zu erstrecken. Ein Schritt folgte immer schneller auf den nächsten, bis der Wanderer aufhörte zu gehen. Die vor ihm erschienene Felswand leitete das jähe Ende seiner Reise ein. Im ersten Moment stand der Wanderer einfach nur bewegungslos da. Drehte sich um und trat einige Schritte zurück und wieder nach vorne, bis er anfing, die Wände akribisch zu untersuchen. Unter dem flackernden Schein der Fackel entdeckte er einen schmalen Spalt, der es ihm gerade so erlaubte, weiter ins Innere vorzudringen. Nach wenigen Metern entließ ihn der Spalt in einen großen Raum. Das Licht seiner Fackel stach in die Dunkelheit hinein, aber reichte weder um die Decke zu erleuchten, noch um die Ausmaße des Raumes in Ansätzen abschätzen zu können. So erkannte er nichts, außer Dunkelheit und kaltem Gestein hinter sich, das von einer dicken Schicht aus Spinnenweben überzogen war. Ruckartig riss er ein Stück Stoff von seinem Gehrock ab und beschwerte es mit einem herumliegenden Stein. Eine Markierung, die ihn sicher zurückgeleiten sollte und welche er der Dunkelheit überließ, in die er eintrat.
Einige Minuten im dunklen Nichts ließen den Wanderer seine Entscheidung bereuen. Nur er und der helle Umkreis des Fackelscheins als sein einziger Begleiter. Fast unbemerkt zeichnete sich etwas aus den Schatten hervor. Die Form erinnerte an ein Gesicht und je näher er kam, umso deutlicher wurde es. Die schwarze Silhouette veränderte sich und die jugendlichen Züge eines sehr jungen Mannes traten zum Vorschein. Sein unbedeckter Oberkörper endete in einen unförmigen massigen Leib, der für den Wanderer nicht zu deuten war. Ein Lächeln zierte das Gesicht und lud ein sich dem Fremden zu nähern. Erst als er herantrat, erkannte der Wanderer die Anatomie seines Gegenübers. Von den Lenden abwärts weitete sich sein Körper und ging in den Vorderleib einer Spinne über, von dem acht Beine abgingen. Mehr erfasste der Wanderer nicht, da er reflexartig nach hinten sprang. Sofort zog er mit zitternden Händen die Breitaxt aus seinem Gürtel. Nichts geschah, nichts war zu hören. Im nächsten Moment warf er die Fackel nach vorne und nahm den Schild vom Rücken. In hohem Bogen flog der Feuerschein durch das Dunkel und wo einst das Monster stand, war Leere.
Unruhig ließ der Wanderer seine Blicke kreisen, während er den Schild dicht an seinen Körper hielt; drehte und wandte sich in jede erdenkliche Richtung und konnte nichts erblicken. Mehr ein Automatismus, nicht durchdacht, blickte er nach oben und sah den großen Spinnenkörper. An einem Faden hängend ließ sich das Monster langsam zu seiner Beute heruntergleiten. Als die Augenpaare einander trafen, kappte eines der hinteren Beine den Faden und die Spinne fiel hinab. Ohne Zögern rannte der Wanderer in Richtung der Fackel. Eines der Spinnenbeine traf den Flüchtenden am Rücken und entzweite den Gehrock, sodass ein langer Riss quer über die Schultern entstand. Mehr stolpernd als rennend passiert er die Fackel und wandte sich um. Das Ungetüm stand ihm gegenüber. Getrieben von innerer Unruhe bewegten sich seine acht Gliedmaßen hektisch hin und her. „Wer oder was bist du?", rief der Wanderer. Ein müdes Lächeln als Antwort.
Blitzschnell rannte das Monster auf sein Gegenüber zu und schlug mit den vorderen Spinnenbeinen oder den Fäusten des menschlichen Körpers auf den Wanderer ein. Jener wich aus, blockte, schwang die Axt ohne etwas zu treffen. Die Attacken drängten ihn weiter vom Feuerschein weg und tiefer in die Dunkelheit hinein. Es wurde immer schwieriger die nächsten Angriffe überhaupt noch zu sehen, und so übersäten die Klauen der Spinnenbeine den Körper des Wanderers mit feinen Schnittwunden. Bevor er vollkommen aus dem Licht und damit in den sicheren Tod treten würde, warf der Wanderer seine Axt mit aller Kraft dem Monster entgegen. Ein lauter Aufschrei folgte und die Ablenkung genügte, um an dem Widersacher vorbeizurennen. Im Lauf nahm der Wanderer die Fackel auf und blickte in Richtung des Gegners. Gemächlich schritt das Ungetüm aus dem Schatten. Die Axt steckte noch in einem der Spinnenbeine. Mit den Händen des menschlichen Oberkörpers griff es nach der Waffe und zog sie heraus. Im gleichen Zuge schleuderte das Monster die Waffe in die Dunkelheit, wo sie klirrend auf den Boden fiel. Kein Lächeln, kein Anzeichen von Emotionen, ausdruckslos starrte das Spinnenmonster sein Gegenüber an.
Langsam, mit der Fackel voran, schritt der Wanderer der Spinne entgegen. Jene verhielt sich defensiv, bewegte sich sogar nach hinten, aber ließ ihren Gegner langsam immer näher kommen. Der Moment war gekommen: Mit einem Ausfallschritt ließ der