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Die (un)gehorsame Tochter: Wachstumsschmerzen, 1926-1939
Die (un)gehorsame Tochter: Wachstumsschmerzen, 1926-1939
Die (un)gehorsame Tochter: Wachstumsschmerzen, 1926-1939
eBook318 Seiten4 Stunden

Die (un)gehorsame Tochter: Wachstumsschmerzen, 1926-1939

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Über dieses E-Book

Herbst 1926. Der verlorene Weltkrieg und der ‚Schandfrieden von Versailles‘ lasten schwer auf Deutschland. Die Wirtschaft ächzt unter den Reparationszahlungen; immer mehr Menschen rutschen in die Arbeitslosigkeit; in den Städten Unruhen auf den Straßen. Die Weimarer Republik versinkt im Chaos.

Dies ist die Geburtsstunde der Kräfte, die das Land sieben Jahre später übernehmen und 13 Jahre später in den größten Krieg der Weltgeschichte treiben werden.

Gleichzeitig ist es aber auch die Geburtsstunde von Eva-Maria Trautmann, die zunächst in Hamburgs gutbürgerlichen Verhältnissen aufwächst.

Doch welchen Schutz bieten diese Verhältnisse dem Kind, der Jugendlichen und schließlich der jungen Erwachsenen angesichts der sich unaufhaltsam entfaltenden Katastrophen?

In ihrer monumentalen Trilogie zeichnet A. Sieveking das Porträt eines Lebens, dem alles offenstand, und das sich dann doch ganz andere Wege suchen musste. Ein Leben auch, das ganz unpolitisch hätte sein sollen, aber nur bestehen konnte durch politische Verflechtungen mit höchsten Kreisen der NSDAP.

Unaufgeregt und in kleinen Schritten, allerdings gnadenlos wie die Geschichte selbst entwickelt A. Sieveking das authentische Bild eines für die heutige Generation untergegangenen Deutschlands. Umso erschütternder ist der Eindruck, der am Ende bleibt, da die Handlung im Großen wie im Kleinen auf wahren Begebenheiten beruht.

Der erste Band widmet sich den Wachstumsschmerzen, unter denen Eva-Maria in einer wilhelminisch geprägten Familie ihren Platz versucht zu finden – während die Gesellschaft um sie herum sich unter Schmerzen zu einem totalitären System wandelt.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum24. Sept. 2015
ISBN9783739294438
Die (un)gehorsame Tochter: Wachstumsschmerzen, 1926-1939
Autor

A. Sieveking

A. Sieveking lebt und arbeitet seit vielen Jahren in der Hamburger Medienbranche; die letzten 12 Jahre als freiberufliche Redakteurin, Radio-Moderatorin und Sprecherin (Synchron, Werbung). Kaum dass sie lesen konnte, vergrub sie sich in die Bücher und lebte sich in die Geschichten hinein. Irgendwann erwuchs dann der Wunsch, selbst Geschichten zu erzählen. Und womit fängt man da am besten an? Richtig, man schreibt über die Dinge, die man entweder selbst erlebt oder in seinem Umfeld in Freud und Leid miterlebt.

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    Buchvorschau

    Die (un)gehorsame Tochter - A. Sieveking

    53

    1

    „Hermann, das mußt du dir ansehen... Was für ein entzückendes Zimmer!"

    Hermann Cornelsen beeilte sich, der Aufforderung seiner Frau nachzukommen. Schnaufend stieg er die schmale Holztreppe in den zweiten Stock hinauf. Mit ausgebreiteten Armen stand sie am geöffneten Fenster. Die hereinflutenden Sonnenstrahlen umgaben sie mit einem hellen Lichtkranz und tauchten den Parkettboden in einen honiggelben Goldton.

    Sie sieht aus, wie ein Engel, kam ihm bei ihrem Anblick der Vergleich in den Sinn. Wie am ersten Tag ihres Kennenlernens war er immer noch verliebt in seine Frau.

    Schweratmend blieb er im Türrahmen stehen und stützte sich auf seinen Spazierstock. Treppensteigen lag dem Neunundfünfzigjährigen nicht, obwohl er noch vital und ein passionierter Reiter war. Seit über fünfunddreißig Jahren gehörte er dem ‚Johannistrieb‘ an, Deutschlands ältester, privater Reit-Quadrille. Aber Treppensteigen war definitiv nicht seine Disziplin.

    Langsam normalisierte sich sein Pulsschlag wieder. Die Hände auf den Spazierstock gestützt,schweifte sein Blick durch das leere, quadratische Turmzimmer. Der schmucke, zweigeschossige Bau aus der Gründerzeit, den er als neues Domizil für seine bald niederkommende Tochter auserkoren hatte, befand sich in der Heimhuder Straße in Pöseldorf, neben Blankenese, der Elbchaussee und Harvestehude eine der vornehmsten Adressen Hamburgs, und hob sich mit seinem Türmchen und dem elegant geschwungenen Balkon im ersten Stock von den umliegenden, zum Teil recht protzig wirkenden Häusern wohltuend ab.

    Mit dem Zeigefinger und Daumen zwirbelte er die dünnen Enden seines Schnurrbarts nach oben, was er immer tat, wenn er nachdachte, dann nickte er bedächtig. „Du hast recht, Hildchen, das Haus wird Dodo gefallen! Mit einem Augenzwinkern setzte er vergnügt hinzu: „Dann haben wir ja endlich das passende Geschenk zur Geburt!

    Schmunzelnd schüttelte seine Frau den Kopf und folgte ihm nach unten. „Es wird deinem Schwiegersohn gar nicht recht sein, dass du sie so verwöhnst", gab sie zu bedenken.

    Seine buschigen Augenbrauen zogen sich zusammen. In seinen wachen, himmelblauen Augen blitzte es entrüstet auf. „Sie ist meine Tochter!"

    Seine Frau strich ihm mit einer liebevollen Geste über den Arm und lächelte nachsichtig. Das Lächeln spiegelte sich in ihren klaren, hellgrünen Augen wider und ließ ihr Gesicht von innen leuchten. „Die du, seit sie auf der Welt ist, unsagbar verwöhnst, Lieber! Du solltest endlich akzeptieren, dass Bernhard jetzt für sie sorgt!"

    Das Paar hatte inzwischen die Eingangstür im Parterre erreicht, dessen eingelassene Scheibe von einem schmiedeeisernen Gitter verziert wurde. Sie traten hinaus und schritten hintereinander her den kurzen, gepflasterten Weg bis zur Pforte.

    Hermann grummelte dabei etwas Unverständliches vor sich hin, was so ähnlich klang, wie: „Eine Tochter bleibt immer eine Tochter, und ein Vater immer ein Vater! Ich will den beiden doch nur eine kleine Freude machen. Sie leben in der Wohnung am Anscharplatz viel zu beengt."

    Ranghild hakte sich bei ihrem Mannunter und klopfte ihm begütigend auf den Arm, dann schloß sie die Pforte und betrachtete das Anwesen noch einmal mit wohlwollendem Blick. Im kleinen Vorgarten hatten die Vorbesitzer eine junge Tanne gepflanzt, die in ein paar Jahren sicher bis zum Balkon hinaufreichen würde. Ein schmaler, asphaltierter Seitenweg führte zu einem flachen, einstöckigen Nebengebäude.

    Hermann deutete mit seinem Spazierstock darauf.

    „Dort im ersten Stock könnte Bernhard seine Praxis unterbringen! Und im Parterre befindet sich eine Waschküche. Mit einem schelmischen Lächeln: „Es ist also für alles gesorgt. Das wird letztendlich auch meinen Schwiegersohn überzeugen. Ich denke nicht, dass ihm sein Stolz die Annahme meines Geschenks verbieten wird. Er ist doch ein vernünftiger Mann!

    Ranghild lächelte feinsinnig in sich hinein und schwieg. Ihr Mann war einfach unverbesserlich. Wenn er sich etwas in seinen Dickkopf gesetzt hatte, ließ er sich von niemandem, selbst von ihr nicht, davon abbringen.

    Die Eheleute gingen zum Automobil, das an der Bordsteinkante parkte, ein schwarzer Mercedes mit dem amtlichen Kennzeichen HH-19365. Die Limousine mit den weinroten Ledersitzen bot Platz für mindestens acht Personen. Der schwarz uniformierte Chauffeur stieß eilig die Fahrertür auf, lief um das Auto herum, riß den Wagenschlag auf und nahm Haltung an.

    Belustigt winkte Hermann ab.

    „Stehen Sie bequem, Petersen,... wir sind doch nicht beim Militär."

    Seine Frau rutschte in die bequemen Wagenpolster, den sich selbst in diesen angeblich so goldenen Zeiten der Zwanziger nur wenige leisten konnten. Hermann kletterte neben sie auf die Rückbank und stützte die Hände auf seinen Spazierstock, dessen gebogener Knauf von silbernen Beschlägen eingefasst war. Mit einem letzten, anerkennenden Blick auf die Villa verkündete er: „In zwei Wochen kommt das Kind. Dann können wir den Umzug auf den ersten September festlegen, was meinst du, Hildchen?"

    Doch selten hält sich ein neuer Erdenbürger an den ausgerechneten Geburtstermin. Das Kind, welches Dorothea Trautmann, von der Familie und Freunden liebevoll ‚Dodo’ genannt, erwartete, machte da keine Ausnahme. Es war bereits das zweite Kind, das die 26jährige Mutter erwartete. Ihr über alles geliebter kleiner Junge Albert hatte im Juni 1926 seinen dritten Geburtstag gefeiert und war ihr ganzer Sonnenschein. Nun sollte er ein Geschwisterchen bekommen. Sie freute sich auf das neue Kind, obwohl sie ein leichtes Unbehagen befiel, wenn sie an die bevorstehende Geburt dachte.

    Die Tage vergingen, aber das Kind machte keine Anstalten, herauszukommen. Nun war es schon Anfang September und es wollte den schützenden Mutterleib einfach nicht verlassen. Dorothea war sich sicher, dass es wieder ein Junge werden würde, aber langsam wurde sie nervös, der Umzugstermin, den sie Woche um Woche verschoben und nun auf den 11. September festgelegt hatten, rückte immer näher. Mittlerweile stand die Wohnung am Anscharplatz voller gepackter Kisten und Kästen. Im engen Flur stapelten sich die Umzugskartons.

    Die Unordnung und die eingeschränkte Bewegungsfreiheit verlangte der kleinen Familie einiges ab. Während Bernhard die meiste Zeit des Tages im Diakonissen-Krankenhaus ‚Betlehem‘ arbeitete und nur schnell zu den Mahlzeiten vorbeischaute, um sich anschließend in der eigenen Praxis seinen zahlreichen Privatpatienten zu widmen, mußte sich seine hochschwangere Frau mit Albert beschäftigen. Der Junge war bockig und unartig, da seine Spielsachen alle eingepackt waren, und lief ihr ständig zwischen den Füßen herum. Dorotheas Nerven waren bis zum Äußersten angespannt. Sie sehnte sich nach Ruhe und einer aufgeräumten Wohnung, wo sich alles wieder an seinem Platz befand. Ranghild stand ihrer Tochter so gut es ging tatkräftig zur Seite und wenn es gar zu arg wurde, nahm sie den Jungen mit und fuhr mit ihm nach Schulau, um die Schiffe zu begrüßen, die sich elbaufwärts Richtung Hafen vorbeischoben.

    Am Vorabend des Umzugstages saßen die jungen Eheleute auf den beiden einzigen freien Sesseln im Wohnzimmer noch beisammen. Albert schlief längst in seinem Bettchen, das im Elternschlafzimmer aufgestellt war.

    Dorothea setzte sich aufstöhnend auf.

    Ihr Mann blickte besorgt zu ihr herüber.

    „Ist es soweit?"

    Sie strich eine Haarsträhne aus der Stirn, die sich aus ihrem dicken Haarknoten im Nacken gelöst hatte. Sie war eine attraktive Frau mit sanften, klaren Gesichtszügen, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte. Doch im Gegensatz zu Ranghilds hochgewachsener Statur war sie kleiner und von zierlicherem Körperbau. Die dunkelblauen Augen umrandete ein dichter, schwarzer Wimpernkranz. Doch das Faszinierendste an ihr waren die brünetten Haare, die ihr ovales Gesicht in langen Locken mädchenhaft umschmeichelten. Bernhard liebte es, wenn sie die Haare offen trug, was tagsüber allerdings nicht nur unschicklich, sondern auch extrem unpraktisch war. Daher steckte sie sie meist in einem losen Knoten im Nacken zusammen.

    Mit einem enttäuschten Aufseufzen gab sie Entwarnung.

    „Nein, ich glaube nicht... Es hat mich nur getreten!"

    Ihr Mann stand auf, ging vor seiner Frau in die Hocke und legte seine Hand auf ihren gewölbten Leib. Eine sehnige Hand mit langen, schlanken Fingern, die Wärme und Ruhe ausströmte. Dorothea fühlte, wie sich ihre angespannten Nerven entspannten. Sie lehnte sich im Sessel zurück und betrachtete liebevoll sein besorgtes Gesicht. Auf einmal hellte sich seine Miene auf. „Da... da ist es wieder... ein kleiner Fuß.... Es tritt ganz schön kräftig! Das wird bestimmt ein Junge!"

    „Wann kommen morgen die Umzugsleute?"

    „Sehr früh. Dann sind wir vielleicht schon gegen Mittag im neuen Haus."

    Zärtlich strich sie ihm über die dünnen, hellbraunen Haare, die sich an den Seiten schon lichteten, obwohl er im August erst seinen vierzigsten Geburtstag gefeiert hatte. „Du bist nicht mehr böse auf meinen Vater, dass er uns das Haus zur Geburt schenkt, nicht wahr?"

    Er ergriff ihre schmale Hand, drehte sie sanft herum und drückte einen Kuß auf die Innenfläche. „Wie könnte ich, wenn es dich glücklich macht? Ich muß zugeben, er besitzt einen ausgezeichneten Geschmack. Das Haus ist perfekt für uns. Es bietet Platz für meine Praxis, hat einen großen Garten samt Sandkiste und Reckstange für die Kinder, eine Waschküche, ein Zimmer für das Hausmädchen und die Köchin, ich bekomme endlich ein Arbeits- und jedes der Kinder sein eigenes Zimmer." Er richtete sich auf und stützte die Hände in die schmalen Hüften.

    Sie sah in sein angespanntes Gesicht und griff nach seiner Hand.

    „Trotzdem quält dich etwas?"

    Seine dunkelbraunen Augen ruhten ernst auf ihr, dann wurde der Ausdruck auf seinem Gesicht weich. „Ich habe deinem Vater versprochen, für dich zu sorgen, Liebes! Nur möchte ich meiner Familie gerne selber alles bieten können und nicht...", er brach ab.

    „... und nicht vom Geldbeutel deines Schwiegervaters abhängig sein? Ach, Bernhard, so ist es doch nicht. Du bist Leiter eines Krankenhauses, Dekan an der Universität und führst nebenbei noch eine eigene Praxis. Mein Vater wollte uns beiden eine Freude machen! Und durch die Bank weiß er eben immer, wo gerade günstige Objekte zum Verkauf stehen. Es ist eine gute Geldanlage. Versteh doch, er ist durch und durch Bankier und erkennt ein gutes Geschäft sofort. Da konnte er wohl einfach nicht widerstehen."

    Dankbar drückte er ihre Hand, ihre Worte konnten ihn jedoch nicht recht überzeugen. Das ‚kleine Geschenk’ seines Schwiegervaters hatte ihn in seiner Ehre gekränkt. Er war stolz auf seine Lehrtätigkeit an der Hamburger Universität, denn die Arbeit mit den Medizinstudenten bedeutete ihm viel. Er liebte seinen Beruf als Wissenschaftler und Arzt, der ihm jedoch nur einen Bruchteil von dem einbrachte, was sein Schwiegervater mit seiner Bank verdiente. Es nagte an seinem ausgeprägten Selbstbewusstsein, dass er seine Frau nicht so verwöhnen konnte, wie sie es von Haus aus gewohnt war.

    Er beugte sich zu ihr herab und ließ sie seine Verstimmung nicht spüren.

    „Verzeih, Liebes. Ich weiß, dein Vater liebt dich über alles... so, wie ich."

    Seine Lippen berührten sacht ihre Schläfe. Ihre Augen schauten ihn ruhig an. Das schummrige Lampenlicht spiegelte sich in ihnen wider. Er hätte schwören können, dass sie jetzt in einem tiefen Violettblau erstrahlten.

    „Ich liebe dich, Bernhard!"

    Er hielt ihren Blick fest, dann strich er ihr sanft über den aufgewölbten Leib. „Ich bin ein sehr glücklicher Mann. Ich habe nicht nur eine wunderschöne Frau, sondern bald auch zwei gesunde Kinder!"

    2

    Pünktlich um acht Uhr klingelten die Möbelpacker am nächsten Morgen an der Haustür. Dorothea hatte in der Nacht wenig geschlafen. Auf keiner Seite konnte sie lange liegen. Die letzten Wochen der Schwangerschaft waren sehr beschwerlich gewesen. Jetzt wünschte sie nichts sehnlicher, als dass endlich die Wehen einsetzten und das Baby herauskam.

    Ihre Eltern waren vorbeigekommen, um den Umzug zu überwachen und Dorothea mit Albert zu unterstützen. Der Junge war nervös und aufgeregt. Ständig büxte er aus, um den Möbelpackern zu ‚helfen’. Ranghild hatte ihre liebe Mühe und Not, den quirligen kleinen Kerl wieder einzufangen. Endlich waren die Möbel, alle Kartons und Kisten in den großen Möbeltransporter eingeladen. Dorothea schritt am Arm ihres Vaters noch einmal durch die leeren Räume, in denen sie vier Jahre mit ihrem Mann gelebt hatte. Ihre Schritte hallten auf dem Parkettboden wider.

    Aufmunternd blinzelte Hermann seiner Tochter zu.

    „Ein letzter Blick zurück, dann laß uns gehen, Dodo."

    Er hatte ihr diesen Spitznamen gegeben, als sie gerade das Sprechen lernte. Wieder und wieder sprach er ihr geduldig ihren Namen vor. Schließlich brachte sie unter größter Anstrengung ‚Dodo’ heraus und dabei blieb es dann.

    „Jetzt beginnt ein neuer Lebensabschnitt für euch!"

    „Danke, Papa, du bist sehr großzügig! Was wird Jens..."

    „Was soll dein Bruder schon dazu sagen, fiel er ihr ungnädig ins Wort. „Wenn er sich entschließen könnte, eine seiner Damenbekanntschaften zu ehelichen und uns ein Enkelkind schenkt, bekommt er auch ein Haus!

    Dorothea verzog schmerzhaft das Gesicht und krümmte sich leicht.

    Besorgt beugte er sich zu ihr. „Was ist denn, Kind?"

    Sie atmete schwer und richtete sich langsam wieder auf.

    „Es geht schon wieder, Papa, laß uns gehen."

    Aber es ging überhaupt nicht. Kaum saßen alle im Mercedes, platzte die Fruchtblase und die Wehen setzten mit einer derartigen Heftigkeit ein, dass kein Zweifel darin bestand, dass die so lange herbeigesehnte Geburt nun unmittelbar bevorstand.

    Hermann trieb seinen Chauffeur zur Eile an.

    „Los, los, los, Petersen, fahren Sie... Drücken Sie ordentlich auf die Tube!"

    Der Chauffeur tat, wie ihm geheißen. Mit der Hand an der Hupe raste er die Straße Richtung Schlump hinunter. Ranghild saß neben ihrer Tochter und legte ihr den Arm um die Schultern. Mit beruhigender Stimme sprach sie auf die sich vor Schmerz Krümmende ein. Albert hockte auf der Bank gegenüber und blickte mit ängstlicher Miene von seiner Großmutter zu seiner Mutter, der es offensichtlich sehr, sehr schlecht ging, so schlimm, wie sie stöhnte.

    „Mami, Mami!, drang sein dünnes Stimmchen an ihr Ohr. Ranghild wußte nicht, wen sie zuerst beruhigen sollte. „Albert, sei ruhig, alles wird gut. Die Mami hat große Schmerzen, aber alles wird gut, mein Kleiner.

    Ihre Worte bewirkten das genaue Gegenteil.

    Der Junge fing an zu greinen.

    „Ich will zu meiner Mami, Mamiiii."

    Vorne auf dem Beifahrersitz trieb Hermann seinen Chauffeur weiter zur Eile an. „Vergessen Sie die Verkehrsregeln, Petersen... hupen Sie, dann werden die Leute schon Platz machen."

    Mit ohrenbetäubendem Gehupe raste die Limousine auf die Kreuzung an der U-Bahnstation Schlump Richtung Grindelallee zu. Der Schutzmann, der dort den Verkehr regelte, bedeutete ihnen mit ausgebreiteten Armen unmissverständlich zu halten, doch Petersen nahm seinen Fuß nicht vom Gaspedal. Mit unvermindertem Tempo bretterte der Wagen auf den Polizisten zu, der wild mit den Armen fuchtelte, aber der Mercedes wurde nicht langsamer. In allerletzter Sekunde rettete sich der Schutzmann mit einem beherzten Sprung zur Seite und landete auf dem Hosenboden.

    Im Rückspiegel sah Petersen, wie der Mann sich wieder aufrappelte, drohend die Faust hob und ihnen wütend hinterherschimpfte. Auf Einzelschicksale konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen. Die Tochter seines Chefs kam, wenn er sich nicht sehr beeilte, gleich hier im Wagennieder! Petersen standen kleine Schweißperlen auf der Stirn. Er trug die Verantwortung für das neue Leben, was sich wirklich den denkbar schlechtesten Augenblick ausgewählt hatte, um auf diese Welt zu kommen.

    Hermann drehte sich halb zu seinem Schwiegersohn um, der neben Albert saß, und tauschte einen sorgenvollen Blick.

    Beunruhigt sah Bernhard wieder auf seine Armbanduhr. „Die Wehen kommen im Dreiminutenabstand. Ins Eppendorfer Krankenhaus schaffen wir’s nicht mehr."

    „Dann kriegt sie das Baby eben im neuen Haus! Los, Petersen, fahren Sie die Hallerstraße rauf. Von der Rothenbaumchaussee biegen Sie in den Turmweg ein. So kommen wir am schnellsten zur Heimhuder Straße."

    Und tatsächlich, ein paar Minuten später parkte Chauffeur Petersen die Limousine hinter dem geöffneten Möbelwagen. Er zog ein Taschentuch aus der Uniformjacke und fuhr sich damit über die Stirn.

    Hermann stieß die Beifahrertür auf und schob sich schnaufend aus dem Wagen. Das goldene Licht der Herbstsonne strahlte die weiße Fassade der Villa an und blendete ihn so stark, dass er die Augen mit der Hand abschirmen mußte. Seine Halbglatze glänzte in der Sonne.

    „Da verschieben wir den Umzug extra um zwei Wochen und dann muß es ausgerechnet heute kommen!", brummelte er vor sich hin. Aus dem Fond des Wagens drang das gedämpfte Stöhnen seiner Tochter.

    Seine Frau redete beschwichtigend auf sie ein.

    „Nein, Dorothea,... versuch', noch nicht zu pressen!"

    Chauffeur Petersen stieg aus, eilte um den Wagen herum und öffnete die hintere Autotür, um den beiden Damen beim Aussteigen behilflich zu sein.

    Hermann steuerte mit dem Hut in der Hand auf einen der Möbelpacker zu, der gerade aus dem Haus trat. „Haben Sie das Ehebett schon ausgeladen?"

    Der Möbelpacker kratzte sich nachdenklich am Kopf und überlegte. Herman schien es eine Ewigkeit zu dauern. Nervös zupfte er an seiner Hutkrempe. Schließlich schüttelte der Möbelpacker den Kopf und meinte in breitem Hamburgisch lakonisch: „Nee, Chef, das is wohl noch im Wagen..."

    Ungeduldig wedelte ihm Hermann mit dem Hut vor der Nase herum. „Guter Mann, worauf warten Sie?! Fix, fix, fix, holen Sie das Bett raus oder wollen Sie, dass meine Tochter hier im Vorgarten entbindet?!"

    Der Möbelpacker starrte ihn verdutzt an, dann setzte er sich in Bewegung. Wie zur Bekräftigung von Hermanns Worten kam ein langgezogener Schmerzensschrei der werdenden Mutter aus dem Inneren der Limousine.

    Bernhard kletterte aus dem Auto und wechselte mit seinem Schweigervater, der sich anschickte, den Transport des Bettes nun persönlich zu überwachen, einen besorgten Blick, doch Hermann nickte ihm zuversichtlich zu.

    Bernhard beugte sich wieder in den Fond des Wagens und reichte seiner stöhnenden Frau den Arm. Mühsam und von hinten von ihrer Mutter geschoben, zog er sie ins Freie.

    Die Schmerzen waren unerträglich. Zwei Wochen hatte sich das Kind Zeit gelassen und jetzt trieb es alle zur Eile an. Dorothea blickte verzweifelt auf den kurzen Weg zum Eingang. Er kam ihr wie ein unüberwindbarer Graben vor. Nicht einen einzigen Schritt konnte sie mehr gehen. Das Kind drängte jetzt mit aller Kraft aus ihrem Leib. Eine neue Wehe zwang sie in die Knie. Ihr Mann umfaßte sie fest und hielt sie an, einen Fuß vor den anderen zu setzen.

    „Gleich hast du’s geschafft, Dodo... gleich kannst du dich hinlegen!"

    Ranghild folgte den beiden, an der Hand den verstört dreinblickenden Albert, der in seinem weißblauen Matrosenanzug neben ihr herstapfte. Sein Gesicht wurde halb von der Matrosenmütze verdeckt, die ihm in die Stirn gerutscht war. Ängstlich drängte er sich an seine Großmutter.

    Beruhigend tätschelte diese seine kleine Hand.

    „Der Mami geht es bald besser, Berti! Du brauchst keine Angst zu haben."

    Dorothea blieb wieder stehen und preßte die Hand gegen ihren Leib.

    Bernhard sprach ihr Mut zu.

    „Nur noch ein paar Schritte, Liebes."

    In diesem Moment schoben sich die Möbelpacker mit dem großen Ehebett an ihnen vorbei zur Tür. „Vorsicht, bitteee!"

    Das Paar trat beiseite. Ein feiner Schweißfilm hatte sich auf Dorotheas Stirn gebildet. Sie krallte sich an den Arm ihres Mannes und glaubte, jeden Augenblick ohnmächtig zu werden. Eine Geburt im Vorgarten der neuen Villa – was für ein scheußlicher Gedanke!

    Ihr Vater eilte den Möbelpackern hinterher. Der Ausdruck auf seinem runden Gesicht war angestrengt. Sein Blick streifte seine Tochter, die mühsam auf den Arm ihres Mannes gestützt den Weg zum Hauseingang fortsetzte. Er versuchte ein aufmunterndes Lächeln.

    „Ich rufe gleich die Hebamme an und sorge dafür, dass die Männer das Bett nicht im Keller aufstellen!" Die Möbelpacker quälten sich mit dem sperrigen Möbelstück durch die Eingangstür. Hermann setzte ihnen nach.

    „Warten Sie... das Bett muß in den ersten Stock!"

    Beinah pünktlich zur Mittagszeit, um 11 Uhr 30, erblickte das neue Familienmitglied das Licht der Welt! Ranghild und Hermann hatten sich ins geräumige Wohnzimmer des neuen Hauses zurückgezogen, das voller Möbel und Kisten stand. Vor der Verbindungstür, die das Wohnzimmer vom Esszimmer trennte, stand ein schwarzer Steinwayflügel. Dorotheas liebstes Möbelstück, an dem sie täglich mehrere Stunden verbrachte und die Werke alter Meister spielte, allen voran von ihrem Lieblingskomponisten Ludwig van Beethoven. Das Musikinstrument würde wohl noch eine Weile auf ihre virtuose Fingerfertigkeit warten müssen, im Moment brachte es nur dissonante Töne hervor.

    Albert hockte auf dem Klavierhocker und hieb mit seinen kleinen Fäusten auf die schwarzen und weißen Tasten ein. Schließlich klopfte seine Großmutter mit der Hand neben sich auf die Couch. „Komm mal her, mein Kleiner. Die Omimi erzählt dir jetzt eine Geschichte, ja?"

    Widerstrebend rutschte er vom Hocker und ließ sich neben seiner Großmutter nieder.

    „Wo ist Mami? Ich will zu meiner Mami", fragte er mit weinerlicher Stimme.

    Ranghild schloß ihn in die Arme, sein Kopf sank an ihre Brust. Sanft strich sie ihm übers dunkle Haar. „Hab noch etwas Geduld, mein Kleiner, deine Mami..."

    Kräftiges Babygeschrei aus dem ersten Stock ließ sie aufhorchen. Sie tauschte einen glücklichen Blick mit ihrem Mann.

    „Na also, das wär‘ geschafft, konstatierte dieser mit zufriedenem Kopfnicken und zog aus seinem Jackett eine Pfeife mit einem kleinen Tabakbeutel heraus und begann, sie zu stopfen. „Mein Enkel hat’s aber sehr eilig gehabt. Er steckte die Pfeife in den Mund und hielt ein brennendes Zündholz über den Tabak.

    „Deine Enkelin hatte es eilig gehabt, Schwiegerpapa!"

    Überrascht blickten Hermann und Ranghild zur Tür. Dort stand der überglücklich strahlende Vater mit einem strampelnden Bündel Mensch auf dem Arm.

    Alberts Miene verfinsterte sich.

    „Ich will zu meiner Mami, Mami...?!"

    „Aber Berti, willst du gar nicht sehen, was dir der Storch gebracht hat? Du hast jetzt eine kleine Schwester", mühte sich seine Großmutter redlich, sein brüderliches Interesse am neuen Geschwisterchen zu wecken. Vergeblich.

    Albert glitt von der Couch und lief an seinem Vater vorbei in den Flur hinaus. „Mami, Mami!"

    3

    Es waren unruhige Zeiten, in

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