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Kalimar: Band 1
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eBook272 Seiten3 Stunden

Kalimar: Band 1

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Über dieses E-Book

Vier Einladungen, die seltsamer nicht sein könnten.
Ein geheimnisvolles Ritual.
Die älteste und mächtigste Kreatur des Universums, ihr Gegner.
Sechs Jugendliche brechen auf um einen Freund zu retten.
Eine Prophezeiung: „Und setzt Ihr nicht das Leben ein, nie wird Euch das Leben gewonnen sein.“
Ihr mächtigster Verbündeter: Die Liebe.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum14. Jan. 2015
ISBN9783735714121
Kalimar: Band 1
Autor

Robert Bielmeier

Robert Bielmeier, Jahrgang 1966, lebt mit seiner Familie südlich von München. Seit frühester Jugend begeisterter Geschichtenerzähler, gelangt er über Umwegen zu seiner verborgenen Leidenschaft – dem Schreiben von Romanen & Kurzgeschichten.

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    Buchvorschau

    Kalimar - Robert Bielmeier

    1. PROLOG

    Sie wollten nur einen Geburtstag feiern und jetzt würden sie alle sterben!

    Tschaisn war müde. Seit Mitternacht hielt er Wache. Inzwischen mochte es wohl gegen drei Uhr morgens sein. In knapp zwei Stunden würden sich die ersten Sonnenstrahlen ihren Weg durch das hoch über ihm thronende Blätterdach bahnen. Noch hatte sich der schwarze Mantel der Nacht nicht gelichtet. Mehr als ein paar Meter Sicht ließ das schwache Licht der dünnen Mondsichel nicht zu. Schläfrig spähte er zu den schemenhaften Silhouetten seiner Kameraden hinunter. Die Nacht ist der Freund des Verborgenen, doch birgt sie die Gefahr der Überraschung. Achte auf ausreichend Schlaf, er ist eine Waffe! Er würde die Worte seines Mentors nie vergessen, keiner seiner mit Bedacht gewählten Ratschläge war unnütz gewesen. Sie retteten Leben; ihre Leben.

    Müde fuhr er sich durch sein halblanges Haar. Zwängte es nach hinten, wo es gehorsam liegen blieb. Die Wochen in der Wildnis hatten es fest und gefügsam gemacht. Er kniff sich in den Unterarm und konzentrierte sich auf den pulsierenden Schmerz. Dann führte er lautlos eine Abfolge von komplizierten Handbewegungen aus, die damit endeten, dass er in Gebetsstellung, die beiden Daumen seine Nasenwurzel berührend, die Luft anhielt. Das Ganze war eine Art Ritual. Sein Körper war darauf konditioniert, hellwach zu sein, wenn er es durchführte. Sofort spürte er, wie eine prickelnde Frische durch seine Adern schoss. Noch nie war er bei einer Wache eingeschlafen. Nie würde er seine Pflicht den anderen gegenüber vernachlässigen. Er streckte seinen muskulösen Körper und blickte sich um. Wie immer, wenn er Wache hielt, hatte er sich auf einen Baum zurückgezogen, sich eine große Astgabel gesucht und es sich dort bequem gemacht. Jeder von seinen Gefährten bevorzugte eine andere Art, Wache zu halten, nur Justice nicht, sie tat es ihm gleich. Solei versteckte sich im Schatten eines Baumes oder Felsens, wurde eins mit ihrer Umgebung. Sie war in der Lage, sich mehrere Stunden nicht zu bewegen. Völlig regungslos verharrte sie in einer Art Trance und doch entging ihr nichts. Keiner sah so viel wie Solei. Am unsichersten fühlte sich Tschaisn, wenn Cruz über sie wachte. Fortwährend strich er um das Lager herum. Bewegte sich ungeschickt und laut. Er war berechenbar, für jeden Angreifer ein leichtes Opfer. Ihm aufzulauern ein Kinderspiel. Wie eine Uhr drehte er seine Runden. Wenn du in Gefahr bist, handle unlogisch! Die wirkungsvollste aller Bewegungen ist die, die niemand erwartet.

    Routinemäßig ließ Tschaisn seinen Blick über seine schlafenden Gefährten gleiten. Eins, zwei, drei, vier –? Verdammt, wo war der fünfte Schlafsack? Tschaisn richtete sich auf, kniff die Augen zusammen und zählte nochmals. Vergeblich, es wurden nicht mehr als vier! Konnte es sein, dass sich einer von ihnen kurz in die Büsche verzogen hatte, um sich zu erleichtern? Nein, daran glaubte er nicht. Viel zu gefährlich! Außerdem waren sie alle so unsäglich müde, dass jede Minute Schlaf, die man ergattern konnte, voll ausgenutzt wurde. Tschaisn griff nach seinem Stock und wollte gerade den Baum hinunterklettern, als sich der größte der vier Schlafsäcke bewegte. Aus einem Schläfer wurden zwei. „Scipio, du Glucke, musst ja mal wieder auf dein Kaninchen aufpassen, flüsterte Tschaisn erleichtert und ließ sich wieder in die Astgabel sinken. Vor Schmerzen zuckte er zusammen. Erleichtert darüber, dass sie noch vollzählig waren, hatte er die Brandwunde auf seiner linken Schulter total vergessen. „Verdammt!, presste er zwischen schmalen Lippen hervor und wartete darauf, dass der pulsierende Schmerz nachließ.

    Als er das letzte Mal tief Luft holte und sich dem Genuss des nachlassenden Schmerzes hingab, geschah es. Etwas Hartes traf ihn mit solcher Wucht am Kopf, dass er glaubte, sein Schädel müsse zerspringen. Er verlor das Gleichgewicht und stürzte kopfüber in die Tiefe. Gehorche deinem Instinkt, vermeide zu denken! Intuitiv streckte Tschaisn die Arme aus und rollte sich geschickt ab, als seine Fingerspitzen den Boden berührten. Der Schwung des Sturzes katapultierte ihn wieder auf die Füße. Er stolperte mehrere Meter über den feuchten Waldboden, bevor er mit dem Rücken gegen einen Baum schlug. Benommen blickte er um sich und sah im selben Moment eine Gestalt neben sich auftauchen. Instinktiv riss er seinen Stab, den Bokken, hoch. Dieser Reflex rettete ihm das Leben. Etwas Silbernes blitzte auf und fraß sich in das harte Holz des Stabes. Die Wucht des Schlages ließ den Bokken gegen seine Stirn krachen. Sein Kopf dröhnte wie eine Achterbahn, trotzdem ging Tschaisn, einem jahrelangen Training folgend, sofort in den Angriff über. Er stieß den verkeilten Stab auf die Seite, sprang in seinen Gegner hinein und schlug in einer irren Geschwindigkeit mit Faust, Handballen und Ellbogen auf dessen Gesicht, Hals und Schlüsselbein ein. Der zwölfte Schlag traf sein Ziel. Mit einem dumpfen Laut hieb Tschaisns rechter Ellbogen gegen die Schläfe seines Angreifers. Röchelnd taumelte dieser zurück und fiel bewusstlos zu Boden. Tschaisn riss ihm das Schwert aus der Hand und rannte zu den anderen. Aber er kam zu spät. Eine gewaltige, mit einem langen Mantel bedeckte Gestalt mit rot schimmernder Haut hatte sich eines der Mädchen geschnappt und über die Schulter geworfen. Schlaff und leblos hingen ihre Arme und das lange Haar herab. Die riesige Gestalt ging in die Knie und streckte eine Hand himmelwärts.

    Tschaisn rannte so schnell er konnte. Er wusste, was als Nächstes passieren würde. Ein Lichtstrahl würde aus der nach oben gestreckten Hand schießen und beide in den dunklen Nachthimmel katapultieren. Die Erkenntnis, dass er sie nicht mehr rechtzeitig erreichen konnte, traf ihn wie ein Hieb. In seiner Verzweiflung schleuderte er das Schwert, darum betend, dass es den Richtigen treffen möge. Mit einem schmatzenden Geräusch bohrte sich die Waffe in ihr Ziel. Im selben Moment schossen beide Gestalten mit einem Zischen himmelwärts und verschwanden im dunklen Blätterdach des Waldes.

    „Neiiiiiin", schrie Tschaisn und fiel verzweifelt auf die Knie. Zitternd vor Wut und Enttäuschung krallten sich seine Finger in sein zerzaustes Haar. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sich seine Gefährten schattenhaft auf ihn zubewegten. Voller Angst hielt er seinen Blick auf den Boden gerichtet – er wollte nicht erkennen müssen, wen die Dämonen aus ihrer Mitte geholt hatten.

    --

    2. SAMUEL & YARA KRONJÄGER – ZWEI MONATE ZUVOR

    Die Arroganz der Intellektuellen ist noch größer als die der Reichen

    „E r hat wirklich zugestimmt?" Samuel konnte es noch nicht glauben, es wäre das erste Mal, dass sie außerhalb der Familie das Ritual durchführen würden – zumindest vermutete er das. Er ließ das Buch mit dem Titel „ Intelligente Zellen – wie Erfahrungen unsere Gene steuern " sinken und starrte seine Schwester erstaunt an.

    „Ja, und jetzt mach den Mund wieder zu, bevor ich dir was reinwerfe", erwiderte Yara. Wirsch fuhr sie sich mit der Hand durch ihre blonde Mähne und baute sich provokant vor ihm auf. Ihr Bruder schüttelte ungläubig den Kopf. Er nahm seine John-Lennon-Brille von der Nase und ließ sie gedankenvoll zwischen Zeigefinger und Daumen kreisen.

    Yara blickte ihn lauernd an. Samuel, ihr kleiner Zwillingsbruder, mit seinen eins dreiundsiebzig Gott sei Dank noch einen Zentimeter tiefer, wie sie zu sagen pflegte, als sie. Er war hager, um nicht zu sagen dürr. In Kombination mit seinen fast schulterlangen braunen Haaren glich er eher einer schlechten Kopie von Jesus als einem zukünftigen Nobelpreisträger.

    Superhirn denkt nach! Würde er seine Frage wiederholen? Natürlich nicht. Ihr Bruder stellte nie eine Frage zweimal, sofern sie eindeutig beantwortet war. Sie selbst machte das oft. Ihre Freundinnen auch, die ganze Welt tat es. Nur Samuel und Albert Einstein nicht. Yara schloss daraus, dass Menschen mit einem IQ von über einhundertfünfzig nie eine Frage wiederholten, nur um ihrem Unverständnis damit Ausdruck zu verleihen. Ihr Bruderherz war ein Nerd im höchsten Entwicklungsstadium. Ekelig intelligent, unsympathisch und mit einem erbarmungslosen Korrekturverlangen ausgestattet. Außerdem sprach er wie ein hochgezüchtetes Tamagotchi, nachdem es eine Tausend-Terabyte-Festplatte zum Frühstück vernascht hatte. Jeder Satz war pure binäre Sachlichkeit ohne Emotionen.

    „Hat Mum davon Notiz genommen?", fragte Samuel, während die Umrisse seiner Brille einen silbernen Kreisel in die Luft zeichneten. Seine blauen Augen funkelten sie lauernd an.

    Yara verengte ihre Augen zu Sehschlitzen. War’s ihr Bruder, der da gerade gesprochen hatte? Er musste wirklich überrascht sein. Seine allgegenwertige Logikkette war anscheinend außer Kraft gesetzt. Endlich mal war es an ihr, sich altklug zu geben.

    „Samuel, hat Dad schon jemals etwas Wichtiges entschieden, ohne sich vorher mit Mum zu besprechen?", erwiderte Yara und verdrehte genervt die Augen.

    Samuels scharfsinniger Blick fuhr hoch, die kreiselnde Brille stoppte abrupt. „Natürlich, vierunddreißig Mal! Nicht berücksichtigt diverse Momente, bei denen einer von beiden temporär außerhalb meines Wahrnehmungshorizonts weilte."

    „Vierundr… Yara blickte ihren Bruder ungläubig an, doch sein selbstsicherer Blick erstickte jeden Zweifel in ihr. Dass er sich fortwährend in einer pseudointellektuellen Sprache ausdrückte, als ob er einen mit Plattgold besetzten Silberstock im Allerwertesten mit sich rumtrüge, überraschte sie nicht, aber dass er tatsächlich mitgezählt hatte, wie oft Dad etwas entschieden hatte, ohne Mum zu fragen, warf sie sichtlich aus dem Gleichgewicht. Bevor sie jedoch etwas erwidern konnte, fuhr Samuel nüchtern fort: „Siebenundzwanzig Mal ohne Konsequenzen, sieben Mal gab es Indifferenzen, weil er über Mums Kopf hinweg entschieden hat. Aber lassen wir das. Mit einer geschmeidigen Bewegung landete John Lennons Markenzeichen wieder auf seiner Nase. Sparsam lächelnd kam er auf seine Schwester zu.

    „Wie viele?", quoll es ungewohnt einsilbig aus seinem Mund.

    Yara hasste das. Entweder er sprach in mit Fremdwörtern gespickten Schachtelsätzen oder in kastrierten, nicht verständlichen Frage-Attacken. Warum war Samuel nicht in der Lage, sich klar auszudrücken und einen vernünftigen deutschen Satz zu formulieren. Subjekt – Prädikat – Objekt, so schwer konnte das doch wohl nicht sein. Sie wünschte sich, dass er nur für einen Monat einmal keine W-Wörter verwenden dürfe.

    „Wie viele was? Klobürsten? Schweineohren?", antwortete Yara provokativ und war stolz auf zwei Ws in ihrer Frage.

    Samuel zog für einen Sekundenbruchteil das linke Lippenende nach oben, hatte sich aber sogleich wieder im Griff.

    „Yara bitte, du begibst dich auf fremdes Terrain. Versuch einfach nicht, witzig zu sein. Humor auf diesem Niveau ist etwas für deine auf Äußerlichkeiten fixierten Freundinnen, aber nicht für mich. O.K., danke. Und jetzt sag mir bitte, wie viele Gäste wir einladen dürfen."

    „Du kannst mich mal!, platzte es aus Yara heraus und Tränen der Wut schossen ihr in die Augen. Es gab ungefähr eine Milliarde Brüder auf dieser Welt und warum musste sie DAS Arschgesicht von allen haben? Und verdammt, warum musste sie immer gleich heulen wie eine achtjährige Göre, deren Hund gerade Barbies Lover Ken aufgefressen hatte. Sie hasste sich dafür und bemerkte, wie sich ihre Wut gegen sie selbst richtete. „Sorry, versuchte Samuel sie zu beruhigen. Seine Schwester weinen zu sehen war das Einzige, was ihn kurzfristig davon abhielt, sie verbal in die Tonne zu treten. „Ich hatte meine Emotionen vorübergehend nicht im Griff. Kommt nicht wieder vor."

    Yara schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Emotionen? Er wusste doch gar nicht, was das war. Außerdem hatte sie nicht wegen ihm geheult, sondern wegen ihrer unkontrollierbaren Tränendrüsen.

    „Was ist los mit dir?", hakte Samuel nach.

    „Nichts, erwiderte Yara, „die Versuchung, es auszukosten, dass ich etwas weiß, was du nicht weißt, ist einfach zu verführerisch.

    Samuel nickte hochnäsig. „Kann ich nachvollziehen."

    Schonzeit vorüber! Er war wieder der Alte. Egal. Mit einem freundlichen Samuel konnte sie eh nicht umgehen.

    „Also, wie viele dürfen wir einladen?", wollte Samuel erneut wissen.

    „Vier."

    „Vier!, sinnierte Samuel. „Macht für jeden von uns zwei. Nicht gerade eine erquickende Anzahl für eine Geburtstagsparty.

    „Was soll ich da sagen, kleiner Bruder?, erwiderte Yara schnippisch, auf Vergeltung sinnend. „Bei dir ist’s einfach. Dein hochnäsiges Liebchen Seraphine und das Sensibelchen Tassilo, mehr Menschen kennst du eh nicht – deine fünftausend Bücher ausgenommen. Aber bei mir wird’s richtig schwierig. Wie soll ich nur eine Auswahl zwischen all meinen Freundinnen treffen?

    Mit einem Mal wurde Yara bewusst, was dies für sie bedeuten würde. Zwei, ganze zwei Freunde konnte sie zu ihrem sechzehnten Geburtstag einladen. Da waren Giona, Anastasia, Patrizia, Zoey und Tamara, um nur ihre besten Freundinnen zu nennen. Fünf! Und dann gab es da noch Valentin, der Junge aus der Nachbarklasse. Schwarm aller Mädchen, der beste Sportler der Schule. Leider völlig falsch gepolt, was das Verhältnis Sport zu Mädchen anging. Valentin bemerkte gar nicht, dass die Hälfte der weiblichen Oberstufe in ein dümmliches „Ich tu so, als würde ich dich nicht sehen, fände es aber so toll, wenn du mich wahrnimmst"-Lächeln verfiel, wenn er in der Pause an ihnen vorüberglitt. Er war ein echter Kavalier, behandelte alle Mädchen zuvorkommend, nie arrogant. Jedoch wurde er nie verbindlich oder zeigte ernsthaft Interesse. Er war ein Eisbär inmitten von opferbereiten Robbenweibchen – leider verspürte er keinen Hunger. Dieses absolute Desinteresse gegenüber jeglichem Werben steigerte seinen Attraktivitätsindex auf Robbie-Williams-Niveau. Valentin verkörperte den Traum eines jeden Mädchens. Ihn zu lieben war so einfach, von ihm geliebt zu werden, hatte bis dato keine geschafft.

    Die Geburtstagsfeier war ihre Chance. Sie würde Valentin den Unberührbaren einladen. Problem – sie musste sich dann für eine Beste-Freundin entscheiden. Das war fast so schrecklich wie eine Pickelinvasion auf der Stirn am ersten Schultag nach den Sommerferien. Sie musste mit ihrer Mutter sprechen, vielleicht konnte sie Dad umstimmen und … Die Stimme ihres Bruders riss Yara aus ihrem Weltuntergangsszenario.

    „Erstens bin ich nicht dein kleiner Bruder, nur weil du fünf Minuten vor mir auf die Welt gekommen bist, und zweitens ist mein Leben – im Gegensatz zu deinem – geprägt von Qualität, nicht von Quantität", betonte Samuel, wobei er das letzte Wort übertrieben in die Länge zog und seine Schwester mitleidig musterte, als wäre sie ein vollkommenes Dummerchen.

    Yara beschloss, sich auf keine weitere Diskussion mit diesem zum Menschen mutierten PC einzulassen. Sei eine Frau, ermahnte sie sich, und gewinne ihn als Mitstreiter. Es gab zwei Möglichkeiten, dies zu erreichen. Sich geschlagen geben, verführerisch mit den Augen klimpern und einen auf hilflosen Welpen machen, oder den eitlen Mann auf Samuels Festplatte zum Leben erwecken. Yara wusste instinktiv, dass die Welpennummer bei Samuel nicht ziehen würde; wahrscheinlich würde er laut zu lachen anfangen und ihr einen Plüschteddy zuwerfen. Also musste der große Beschützer aktiviert werden. Traurig ließ sie sich in den frei im Raum schwebenden Hängestuhl fallen.

    „Kannst du nicht nochmals mit Mum und Dad sprechen? Du bist in solchen Dingen viel besser als ich. Wäre doch klasse, wenn wir ein paar Leute mehr einladen dürften, oder?", säuselte sie Samuel in der Hoffnung entgegen, dass er sie bestärken würde.

    Doch der schüttelte abweisend den Kopf. „Dir ist klar, dass das nicht geht. Es ist viel zu gefährlich. Dad hat das Ritual erst einmal mit zehn Personen durchgeführt, und wie du weißt, konnte er damals gerade noch ein Unglück abwenden."

    „Ich weiß ja auch, dass es nicht ganz ohne ist, erwiderte Yara, „aber ich bin sicher, dass du ihn dazu bewegen kannst. Sieben oder acht wären doch ein guter Kompromiss?

    „Ist es nicht und Kompromisse, das lass dir gesagt sein, Schwesterlein, sind etwas für lauwarme Opportunisten oder Politiker. Dad fällt Entscheidungen unabhängig davon, ob er damit bei anderen aneckt. Vergiss nicht, dass auch wir erst einmal am Ritual teilgenommen haben. Alle anderen haben keinerlei Erfahrung damit, und wir reden hier von Jugendlichen, ihr seid unberechenbar."

    „Ihr?", fragte Yara zynisch und musste wieder erkennen, dass sich ihr Bruder tatsächlich nicht mehr der Gattung Jugendliche zuordnete.

    Samuel überging die Bemerkung. „Sei froh, dass er es überhaupt macht. Es wird eine einschneidende Erfahrung für alle werden, die dabei sein dürfen."

    Wütend schüttelte Yara den Kopf. Wie sollte sie ihren Vater überzeugen, wenn ihr Bruder, dieser Eremit, sie nicht unterstützte. Mit einem Ruck sprang sie aus dem Hängestuhl und verließ wortlos Samuels Zimmer.

    Minuten später hatte sich Yara wieder einigermaßen im Griff. Sie war auf den kleinen Balkon ihres Zimmers hinausgetreten. Nachdenklich blickte sie über die sanft abfallenden Wiesen des Anwesens. Ein quirliges Bächlein durchschnitt den weitläufigen Garten und gab blubbernde Geräusche von sich. Sie liebte die beruhigende Kraft der Natur und war dankbar, in einer abgeschiedenen Villa vor den Toren Münchens leben zu dürfen. Es gestattete ihr den Luxus zu wählen. Dreißig Minuten mit der S-Bahn, und sie tauchte ein in das pulsierende Leben einer Großstadt mit all ihren Shops und angesagten Locations. Überladen mit Tausenden von partysüchtigen Jugendlichen, die nichts anderes wollten, als sich zu vergnügen und kennenzulernen. Blieb sie jedoch zuhause, verborgen hinter den schützenden Mauern ihres elterlichen Grundstückes, musste sie mit keiner Seele auch nur ein Wort wechseln – ihren verdrehten Bruder ausgenommen. Aber vielleicht hatte Samuel ja recht? Ihre Eltern waren niemals leichtfertig gewesen, wenn sie das Ritual begingen. Sie wussten um die Gefahren, die darin lauerten. Ihr Vater hatte ihr klar zu verstehen gegeben, dass die Sicherheit aller oberste Priorität hatte. Er würde nicht nachgeben. Er konnte nicht nachgeben!

    Mit einem Seufzer ging Yara zurück in ihr Zimmer. Egal, sie würde mit ihren Freundinnen einfach nachfeiern – ohne Samuel. Schon wesentlich besser gelaunt ließ sie sich in ihren knallroten Fatboy fallen. Ihr Blick fiel auf eine Fotocollage. Ein Sammelsurium aus Bildern ihrer letztjährigen Klassenfahrt nach Rom. Ein dunkelhaariges Mädchen war auffällig oft darauf zu erkennen. Mit einem Mal wusste Yara, welche ihrer Freundinnen sie neben Valentin zum Ritual einladen würde.

    --

    3. VALENTIN ZWEIG

    Wie ein Baum, der seine mit Früchten beladenen Zweige

    tief herabsenkt,

    Es sind nur die kahlen Bäume,

    die ihre Zweige stolz in die Höhe recken.

    Das würde definitiv Ärger geben. Ein Umstand, der Valentin vertraut war. Das Schuljahr war gerade mal zwei Tage alt und er hatte bereits den ersten Verweis eingefahren. Das war rekordverdächtig. Was für ein Schlamassel. Seine Mutter würde ausflippen. Dabei hatte er noch Glück gehabt. Hätte ihn die alte Schachtel, Konrektorin Grabner, erwischt, wäre er vermutlich von der Schule geflogen. Lohn der Mühe? Er würde morgen DAS Gesprächsthema der Schule sein – im Gegenzug dafür lediglich einen Verweis zu kassieren, war angemessen. Einziges Problem – er musste es noch seiner Mutter verklickern.

    Er wischte sich energisch durch sein kurzes brünettes Haar und bog mit schwerem Schritt in die Akeleistraße ein. Am Ende der Straße wohnte er. Er und seine Mutter teilten sich eine schicke Dreizimmerwohnung. Einen Vater hatte er nicht, das hieß, natürlich hatte er einen Vater, aber der war laut seiner Mutter verstorben, als Valentin zwei Jahre alt gewesen war. Seine Mutter blieb zurück, stolz und stark genug, sämtliche Türen zu ihrem Exmann verschlossen zu halten und ihn weiterhin für tot zu erklären. Dass sein Vater nicht bei einem Autounfall hopsgegangen war, sondern in Köln eine neue Lebensgefährtin gefunden hatte, beichtete ihm seine Mutter an seinem vierzehnten Geburtstag. Helau, was für ein Fest! Seither hatte er ein Problem und wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. Er verachtete diesen Mann, obwohl er ihn nicht kannte. Und er fürchtete ihn. Warum, wusste er nicht. Vielleicht musste man Väter immer etwas fürchten? In Müttern steckt die Urliebe, sie können gar nicht anders als ihr Kind lieben. Warum sollte man also Angst vor ihnen haben. Mit den Vätern war das anders. Für die Liebe und Achtung des Vaters musste man etwas tun. Er konnte einen zurückweisen, das zumindest glaubte Valentin zu wissen.

    Sein Leben war chaotisch, in der Schule kämpfte er fortwährend um die Eins der kleinen Leute. Alles, was besser als eine Fünf war, sicherte den Klassenerhalt und war als Erfolg zu werten. Die Summe seiner Einzelnoten lag erstaunlich hoch.

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