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Der 8. Kreuzzug: Ein Studer-Heiri-Buch
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Der 8. Kreuzzug: Ein Studer-Heiri-Buch
eBook309 Seiten4 Stunden

Der 8. Kreuzzug: Ein Studer-Heiri-Buch

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Über dieses E-Book

Zuerst sind es nur Karikaturen und obszöne Bilder, die in verschiedenen Kirchen auftauchen und den Propheten Mohammed und Jesus Christus in anstössiger Weise zeigen. Dann eskaliert die Gewalt und ein Templerorden verübt blutige Massaker. Studer Heiri soll den Religionsfrieden retten. Dabei begibt er sich selbst in höchste Gefahr.
SpracheDeutsch
HerausgeberBookBaby
Erscheinungsdatum23. Feb. 2015
ISBN9783952447208
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    Buchvorschau

    Der 8. Kreuzzug - Kurt Tschan

    Kreuzzug

    Ein Studer-Heiri-Buch

    Copyright © 2015 Kurt Tschan

    Lektorat: Rosmarie Ujak

    Umschlag: Kurt Tschan (Foto und Gestaltung)

    ISBN 978-3-9524472-0-8

    www.kurttschan.ch

    Der 8. Kreuzzug

    Ein Studer-Heiri-Buch

    Roman

    Kurt Tschan

    1.

    Nichts ist alles. Alles ist nichts. Heiri trällert zwei Hauptsätze zu einem nachdenklichen Kanon. Immer wieder wechselt er die Melodie, um sie dann übereinanderzulegen und eine chorale Wirkung zu erzeugen. Nichts ist alles. Und alles ist nichts.

    „Ja spinnst du jetzt völlig", hätte Vreni gesagt, wenn sie ihn so gehört hätte, wie er singend, pfeifend und rezitierend die Istiklal Caddesi in Istanbul zum Taksim-Platz hochläuft. Nichts ist, weil alles etwas Wichtiges übersieht: das Nichts. Und weil nichts nicht etwas sein kann, gibt es alles gar nicht. Zu kompliziert, denkt Heiri. Warum mache ich mir solche Gedanken. An solch einem Tag. Deshalb muss alles nichts sein, wiederholt Heiri in Gedanken eine Gleichung, die die Mathematik noch erfinden musste, und beschleunigt seine Schritte. Er trägt mehrere Einkaufstaschen, weicht wie ein Slalomläufer Passanten aus und vergisst dann für kurze Zeit die Welt um sich. Als er die Augen wieder öffnet, ist er alleine in der Istiklal Caddesi. Die Rollläden der Einkaufsgeschäfte sind heruntergekurbelt. Massive Gitter sichern sie zusätzlich.

    Heiri weiss, was gespenstische Ruhe bedeutet. Er stopft sich die Einkaufstaschen wie einen Panzer in sein dunkelblaues Hemd, was seine Erscheinung nur noch mächtiger macht, und rennt los. Alles kann nicht alles sein, denkt er, während der Kanon noch immer deutlich zu hören ist. Nichts ist nicht etwas. Nichts ist nichts. Heiri hört, wie Text und Chor etwas Fremdes werden. Sie plärren aus Lautsprechern, die an einer Hausfassade aufgehängt sind. Heiri gerät ausser Hörweite seines eigenen Songs. Er denkt an nichts und alles formuliert immer neue Gleichungen. Er will etwas in das Gegenteil umkehren und schafft es trotz grösster Anstrengung nicht. Die Gegensätze trotzen seinen Gleichungen. Das Gegenteil lässt sich nicht ohne Weiteres umkehren.

    Seine Schritte werden schneller. Heiri flüchtet nicht. Er rennt auch nicht um sein Leben. Aber er hat ein Ziel. Und sein Ziel ist die Meute vor ihm. Heiri befindet sich jetzt im Angriff. Wenn Menschen eine Gefahr wittern, flüchten sie. Wenn Heiri eine Gefahr erkennt, fühlt er sich von ihr magnetisch angezogen. Er stellt sich ihr. Schwinger sind halt so. Schwinger weichen nicht zurück. Sie stellen ihren Mann, gehen keinem Kampf aus dem Weg.

    Heiri ist einer der erfolgreichsten Kranzschwinger der Schweiz. Er weiss, wovon er spricht. Und wieder erklingen Kanon und Gesang in seinem Kopf. Alles ist nichts. Nichts ist alles. Noch immer ergeben die Worte keinen Sinn. Sie sind so verrückt wie Heiri selbst, dessen Gestalt die ganze Strasse zu füllen scheint.

    Wie eine Welle schwappt der Lärm durch die Istanbuler Altstadt. Wäre Sturm, würde man von einem Orkan sprechen. Ginge es um Wasser, bestünde die Gefahr eines Tsunami. Dann sieht Heiri die Welle. Sie ist tatsächlich riesig. Heiri ist jetzt nicht mehr zu halten. Er befindet sich im Kampf.

    Sobald der Geräuschpegel seinen Höhepunkt erreicht, bricht er ab. Die Ruhe wird gespenstisch. Die Nebengeräusche werden zu einer schrecklichen Kulisse. Heiri macht Schreie aus und das Stampfen, das die Summe unzähliger Schritte geworden ist. Füsse, die wie die Hufe von Pferden schwer auf dem Boden aufschlagen. Die Ruhe, die dem Lärm folgt, gibt der Angst ein Gesicht. Nach dem Nichts wird alles wirklich alles. Heiri kennt solche Geräusche. Sie bestehen aus roher Gewalt, gemeiner Zerstörung und ungebremster Aggression.

    Heiri rennt immer schneller. Das, was flüchtet, hält auf ihn zu und er hält auf die Gefahr zu. Plötzlich gibt es genug Platz und die Flüchtenden hetzen an ihm vorbei, ohne dass sie diesem Wilden in die Quere kommen. Manche schütteln den Kopf, andere jubeln ihm zu.

    Heiri ist ausser sich.

    Als sei eine Herde von Pferden von der Koppel geflüchtet, bebt die Strasse unter einem lauten und wilden Getrampel.

    Heiri ist nicht nur Kranzschwinger mit einem beachtlichen Leistungsausweis, sondern auch ein Held. Noch nie hat ihn ein Gegner am Emmentaler Schwinget bezwungen. Und wenn es gegen einen Gegner aus dem benachbarten luzernischen Willisau geht, wird Heiri zum Stier. Dann geht es um die Ehre. Und Heiri geht immer als Sieger aus dem Ring.

    Studer Heiri ist aber auch Lehrer an der Primarschule in Trachselwald und in dieser Funktion dabei, sich von den Strapazen eines Schuljahres zu erholen. Einige unbeschwerte Tage in Istanbul könnten ihm nur gut tun. Vor allem dann, wenn sie auf Vermittlung von jemandem zustande gekommen sind, der bei den Katholiken als Brücke zur Ewigkeit gilt. Ja, es war der Papst, der ihn quasi, wenn auch nicht persönlich, aber doch über Umwege und letztlich über den bernischen Erziehungsdirektor Schnyder Mäni nach Istanbul beordert hatte. „Das Weitere erfährst du von Kardinal Stettler, einem alten Bekannten, wohl katholisch, aber trotzdem ein guter Mensch", wie Mäni, der Protestant, sich ausgedrückt hatte, als er ihn wie gewohnt bei Kaffi Lutz und dieses Mal mit von Frau Schneuwly gebackenen Bricelets in seinem Büro gütig gestimmt hatte.

    Wie kann alles auch nichts sein und somit das Gegenteil? Heiri will endlich begreifen, warum sich das Gegenteil ein- und eben nicht ausschliesst. Dann kontrolliert er, ob alles an seinem Körper am richtigen Ort sitzt. Er hat neue Jeans bei Mavi und T-Shirts bei Gap gekauft. Wer nach Istanbul reist, nimmt am besten leere Koffer mit. Die Stadt hat die besten Klamotten der Welt.

    Heiri hat die Kampfzone erreicht. Menschen schreien, andere rennen nach Luft ringend davon. Heiri macht in der Mitte des Taksim-Platzes einen Pulk aus. Menschen wie du und ich, die nicht weichen, bis Plastikgeschosse in Weichteile knallen und die Masse nach einem kollektiven Aufschrei zuerst geordnet und dann in Panik wegrennt. Die Gassen füllen sich und bissiger Rauch liegt wie eine schwere Glocke über dem Platz.

    Schreie können ein Abbild des Entsetzens sein, sie können aber auch lächerlich klingen, wenigstens in den Ohren eines Ilfis-Agenten, der nach einer solchen Attacke im besten Fall müde lächelt und dann unerbittlich zurückschlägt. Die Polizei von Istanbul ist ganz offensichtlich auf einen solchen Angriff nicht vorbereitet. Sie weiss nicht, wozu Heiri fähig ist.

    Es handelt sich um ein Bild, das Zeit braucht, ehe es Konturen annimmt. Auf der einen Seite Dutzende Polizisten in Vollmontur; in schwarzen Overalls mit Plastikschutz, weissen Helmen mit Plexiglas-Scharnier stehen sie einer Frau gegenüber, unter deren Rockzipfel sich einige Kinder verstecken. Okay, sie sind älter als Heiris Schüler. Aber alle würden wohl noch zur Schule gehen und Taschengeld von ihren Eltern beziehen. Ein Haufen Pubertierender, der plötzlich Angst vor der eigenen Courage hat.

    Für einen, der im Nahkampf ebenso ausgebildet ist wie in strategischer Kriegsführung, ist die Situation ernst, aber noch lange nicht ausweglos. Heiri handelt instinktiv. Der Ilfis-Agent ist jetzt ganz in seinem Element. Ihn trennen nur noch wenige Meter von der Polizei. Er überspringt Barrikaden, weicht Müllsäcken aus und kurvt um kleine Mauern, die zur Hauptsache aus aufgeschichteten Pflastersteinen bestehen. In ihrer Form erinnern sie ihn an aufgebaute Holzstere im Wald. Hier werden sie zu Wurfgeschossen gegen die Polizei genutzt.

    Auf dem Taksim-Platz brennen Palette und Baugerüste. Verkohlte Autos stehen herum. Sie wirken wie Skelette der Mobilität. Sollte es nicht lieber heissen: alles oder nichts. So wie jetzt, wo es nur noch Sekunden dauern wird, bis etwas Entscheidendes passiert. Heiri wird über den weiteren Verlauf des Kampfes entscheiden. Er alleine. „Was für Schweine", ruft er aus, während er die dichten Reihen der vorrückenden Polizisten begutachtet. Eine Frau, einige rotzfreche Gören und ihr mit eurem Auftrag für Ordnung zu sorgen.

    Was ist das für ein Staat, der Frauen und Kinder verdrischt, sie in Tränengaspetarden ertrinken lässt, die Rechte des Volkes mit Füssen tritt und der sich nicht darum schert, dass viele in diesen Kampf hineingezogen werden, obwohl sie damit gar nichts zu tun haben! Wie werdet ihr erst reagieren, wenn ich euch eins auf euren Hohlkopf gebe!

    Die türkische Staatsgewalt verhält sich derweil so, als habe sie ihn noch gar nicht bemerkt. Oder ignoriert sie ihn gar? Wasserwerfer schleudern ihre Geschosse ab und schiessen sie im hohen Tempo in die Masse. „Scheisskerle!, schreit Heiri. „Ich werde euch Anstand lehren! Die gepanzerten Wasserwerfer fahren wie Schneepflüge durch zugeschneite Strassen. Nur, dass hier Tausende Menschen einfach auf die Seite geschleudert werden, als wären sie nichts weiter als Dreck, der möglichst schnell beseitigt werden muss.

    Die Frau in der Mitte des Platzes ist ruhig geworden. Nur ihr Brustkorb bewegt sich rasend schnell. Das Schluchzen der Kinder gefriert. Vor ihnen stehen Dutzende schwer bewaffnet und mehrere Panzer. Keiner der Polizisten schaltet den Denkapparat ein. Keinem käme es in den Sinn, die Schutzmaske abzuziehen, das Gewehr wegzulegen und die Kinder zu trösten. Die Einsatzkräfte haben sie umzingelt. Jetzt fehlen nur noch Sekunden, bis sie brutal zuschlagen. Einige der Soldaten schwingen bereits bedrohlich mit ihren Knüppeln. Aber die Frau bleibt einfach stehen. Sie strahlt Ruhe und Sicherheit aus. Ihren linken Arm hat sie über die rechte Schulter eines Jungen gelegt, der am ganzen Körper zittert. Jetzt, wo die Situation aussichtslos geworden ist, fällt Druck von ihr ab. Heiri glaubt sogar, dass sie lächelt. Ihre Lippen bewegen sich leicht. Dann bückt sich die Frau und hebt eine Occupy-Maske auf. Heiri sieht, dass sie praktisch weiss ist. Sie stellt einen Mann mit charakteristischem Schnauz- und Spitzbärtchen dar. Heiri kennt die Maske aus dem Film V wie Vendetta. Die Handlung spielt in einem faschistoiden Grossbritannien der Zukunft. Der Film hätte ebenso gut in der Türkei gedreht werden können. Als die Frau die Maske demonstrativ aufsetzt, schiessen mehre Polizisten gleichzeitig auf sie. Tränengas und Plastikgeschosse treffen sie praktisch gleichzeitig. Heiri schliesst die Augen und hört auf zu atmen. Er befindet sich noch gut zwei Meter hinter der Frau, als er sieht, wie sie zusammenbricht. Der Brustkorb hebt und senkt sich unkontrolliert. Heiri fliegt durch die Luft und erwischt ein halbes Dutzend türkischer Polizisten. Er stürzt für einmal nicht kopfüber in eine Aktion. Nein, er entschliesst sich für eine Variante in horizontaler Richtung. Er schlägt mit den Beinen gezielt um sich. Er winkelt die Knie an und ballt die Hände zu Fäusten. Noch ehe er ganz ausgeatmet hat, schnappt er sich die Gasmaske eines am Boden liegenden Polizisten, zieht sie über und greift sich einige der Gewehre, die am Boden liegen. Er schiesst und trifft. Die übrigen Polizisten sind so verdutzt, dass sie für einen Moment nicht wissen, was zu tun ist. Auf einen solchen Gegner sind sie nicht vorbereitet. Heiri stösst hier einem Polizisten den Gewehrkolben in den Magen, packt dort einen anderen an der Maske und wirft ihn wie einen leblosen Sack durch die Luft. Einen weiteren packt er an den Beinen, als dieser gegen ihn tritt und schleudert ihn gegen heranrückende Polizisten. Durch die Wucht des Aufpralls fallen sie wie Pins beim Bowling um.

    Nichts, denkt Heiri. Nichts kann ihnen jetzt mehr helfen. Jetzt bin ich am Zug. Alles ist möglich. Sie haben mit nichts gerechnet und jetzt ist ihnen alles passiert.

    Heiri will nur etwas Spass. Eine gute Übung für einen Agenten der Eidgenossenschaft auf einem realen Schlachtfeld. Wer konnte dagegen etwas einwenden – vor allem weil es ja um hilflose Frauen und Kinder geht. Heiri schiesst und schlägt um sich. Jetzt sind es die Polizisten, die plötzlich um ihr Leben rennen. Als sich Heiri nach der Frau bücken will, um ihr beim Aufstehen zu helfen, sieht er erst, dass sie kaum mehr atmet. Er schnappt sich einige der herumliegenden Flaschen und giesst ihr Wasser übers Gesicht. Langsam kommt sie zu Bewusstsein und reicht ihm instinktiv die Hand. Sie hat noch immer grosse Mühe beim Atmen. Spontan nimmt Heiri sie in seine Arme und küsst sie.

    Der erste Wasserstrahl erwischt ihn an den Beinen, dem zweiten weicht er aus und den dritten sieht er knapp an sich vorbeischiessen. Heiri hat die Frau geschultert und rennt los. Wo die Kinder geblieben sind, ist unklar. Heiri sieht sie nicht mehr. Wahrscheinlich haben sie sich im Durcheinander aus dem Staub gemacht und sich in Sicherheit gebracht. Heiri sieht vor sich ein Gebäude, dessen Eingangstür ihm keinen allzu soliden Eindruck macht. Er schlägt mit dem Bein dagegen und das Schloss springt auf. Anschliessend schliesst er sie, indem er einige schwere Kisten, die im Flur stehen, davorschiebt. Heiri öffnet die Tür auf der Rückseite des Gebäudes, schliesst sie, nachdem er den Schlüssel gezogen hat, und rennt mit der Frau weiter.

    Die Altstadt von Istanbul fällt auf dieser Seite dem Halic zu. Das Goldene Horn glänzt matt aus einem Tränengasnebel, der in Form einer Wolke bedrohlich über der Stadt hängt. Heiri nimmt die sieben Kilometer lange Bucht, die den europäischen Teil der Stadt in einen südlichen und nördlichen Bereich teilt, wie einen von Konflikten unberührten Flecken Erde wahr. Es ist zwar nicht das Paradies. Aber die in den Hang gebauten Wohnviertel bieten einen guten Schutz und erst noch eine fantastische Aussicht. Plötzlich hört Heiri Rufe. Menschen winken ihn heran. Die Frau, die noch immer benommen in seinen Armen liegt, und nur unregelmässig atmet, nickt. Heiri übergibt sie der Fürsorge der Menschen, die rasch die Tür hinter sich schliessen. Heiri steigt den Hang hoch. Er hört Sirenen, Schreie und dumpfe Schläge. Schneller als erwartet befindet er sich wieder auf dem Schlachtfeld.

    Die Strasse ist zu eng, dass zwei Wasserwerfer nebeneinander fahren könnten. Heiri greift die Polizisten von hinten an, schlägt sie mit Füssen und Fäusten, schnappt sich ihre Waffen und rennt auf den Wasserwerfer los, der wie ein Rieseninsekt durch die enge Gasse fährt. Aus vollem Lauf schiesst er mehrere Plastikgeschosse ab und trifft die Polizisten, die den Panzer eskortieren. Dem Wasser weicht er geschickt aus. Heiri weiss, wie Panzer funktionieren. Er hat auf dem Waffenplatz Bure eine entsprechende Ausbildung absolviert. Als der Panzer ihn zu überrollen droht, springt Heiri hoch und drückt ab. Er schiesst eine volle Ladung Tränengas in den Kanoneneingang. Dann fixiert er eine Luftklappe des Panzers und schiesst ein erneutes Geschoss ab. Wenig später öffnet sich der Panzer. Drei Polizisten rennen voller Panik um ihr Leben. Als Erstes kriegen sie eine Tracht Prügel von den aufgebrachten Demonstranten, die dem Panzer in die Gasse gefolgt sind. Dann fährt die Ambulanz vor und Heiri denkt: alles halb so schlimm. Sie werden sie schon nicht lynchen.

    Plötzlich ist alles einfach. Die Besatzung eines anderen Panzers, der von der Gegenseite heranrollt, flüchtet freiwillig, als Heiri mit dem Tränengasgewehr auf sie zielt. Heiri schlüpft durch die offen stehende Luke. Dann mal los, sagt er sich, bedient einige Knöpfe, stellt ein, was eingestellt werden muss und steuert den Panzer durch eine Seitengasse auf den Taksim-Platz. Als Erstes rast er in hohem Tempo auf einen anderen Panzer zu. Noch ehe sein Pflug ihn erwischt und zur Seite bugsiert, macht sich auch seine Besatzung davon, mit dem Resultat, dass auf der Strasse wieder Polizisten verprügelt werden und die Ambulanz vorfährt.

    Die Masse schreit vor Entzücken. Etwas Elektrisierendes liegt plötzlich über Istanbul. Die Leute jubeln und hüpfen wie an einem Popkonzert vor der Bühne. Mit dem einzigen Unterschied, dass sie inzwischen selbst zur Bühne geworden sind. Ohrenbetäubend laut werden Parolen skandiert und Atatürk-Fahnen geschwungen. Als sich Heiri weitere Panzer nähern und signalisieren, den Kampf aufzunehmen, drückt er das Gaspedal durch und fixiert sie. Dann spritzt er den ganzen Wassertank leer. Er springt durch die Luke und verschwindet dort, wo er die Frau in Sicherheit gebracht hat. Der Lärm, als die Panzer ineinanderkrachen, ist ohrenbetäubend. Er erstickt selbst die Siegesgesänge der Demonstranten.

    *

    Ist denn der Tag plötzlich Nacht, weil alles wie nichts in allem und nichts ist? Gibt es keine Nacht, weil ständig irgendwelche Lampen brennen? Oder gehört nicht eben künstliches Licht zu einer Nacht? So wie der Tag Nacht ist, weil vieles im Dunkeln liegt? Ein Hauch von Leben ist selbst im Tod, denkt Heiri. Dann wird es dunkel und er spürt ein Pieksen, einen kleinen Stich. Dann ist definitiv alle so gut wie nichts.

    ER zieht die Rasierklinge aus einem kleinen Frischhaltebeutel und stellt sie in ein Glas, das voller Flecken ist. Der dünne Wandschrank an der nassen Betonmauer ist rostig. Er öffnet ihn, entnimmt ihm eine Schere. Dann schneidet er ihr als Erstes die Haare. Später holt er Seife aus der obersten Schublade eines kleinen Möbels, das schon in seiner Kindheit in seinem Zimmer stand und reibt den Kopf mit dem Seifenwasser ein. Er rasiert ihn vorsichtig. Zärtlich streicht er über den Kopf der Frau. Würde sie jetzt die Augen öffnen, sie würde nichts sehen, denkt ER. Sie würde nicht begreifen, was ihr geschieht. Ist hier noch ein Rest Schminke? Er nimmt eine Lupe hervor, ärgert sich über sich selbst und wäscht der Frau erneut das Gesicht.

    2.

    Istanbul erwacht wolkenverhangen. Über der Stadt liegt Regen. Die Kuppeln der Moscheen sind endlich dort angelangt, wo sie hin wollten – im Himmel. Vielleicht haben sie sich einen freundlicheren Empfang gewünscht. Vielleicht gehört es zum Paradies, dass es nicht gleich von Anfang an seine ganze Schönheit preisgibt, denkt Heiri.

    Das Bett ist warm und es riecht frisch. Die Frau neben ihm schlummert. Fatma hat ihren Kopf auf seine Brust gelegt und die Beine angewinkelt. Sie liegen schräg über seinem Bauch. Sie wirken wie ein Schlussstrich, der etwas zu üppig geraten ist. Heiri ist erregt, aber er ist auch hungrig. Er denkt nach und kommt zum Schluss, dass es besser ist zu essen.

    Der Himmel hat die Moscheen zurückgewiesen. Er hat sich erhoben. Zwischen den Kuppen und den ersten Wolken liegt jetzt wieder ein blassblaues Band. „Sag nichts", flüstert Heiri. Die Zeitungen werden den Rest erzählen. Fatma nickt. Ihre Occupy-Maske liegt unbeachtet auf dem Holzboden der Wohnung. Eine kleine Terrasse führt direkt zum Bosporus. Auf der anderen Seite ist der Taksim-Platz. Noch immer hocken Rauchpinsel auf ihm, als gäbe es keine Ruhe mehr in diesem Land, bis sich etwas Wesentliches geändert hat und das Leben in die Verantwortung jedes Einzelnen zurückgekehrt ist.

    Die Wolken verdichten sich. Sie werden dunkler und bleiben wie eine Glucker auf ihren Kücken sitzen. Der Freiheitskampf ist schrecklich. Er ist schmerzhaft und er führt immer in eine Niederlage, denkt Heiri. „Wenn das nur mal gut geht, sagt Heiri und die Frau nickt. „Aber in einem hast du unrecht: Jede Niederlage, jeder Schmerz ist ein Sieg mehr auf dem Weg in die Gerechtigkeit.

    Heiri küsst sie. Er streicht ihr durchs Haar. Er fährt mit seiner rechten Hand zwischen ihren Brüsten bis auf ihren Bauch. Dann ruht seine Hand und sie sagt ganz einfach: „Danke". Sie legt ihren Körper auf seinen und dann verschmelzen sie, ohne dass sie wissen wollen, wer in wen eingedrungen ist. Sie fühlen sich eins und vergessen die Zeit um sich. Als Heiri wieder erwacht, riecht es verführerisch in der Küche. Wollte ich eigentlich nicht schon früher essen?, fragt er sich, ehe er schmunzeln muss. Er schaut auf die Uhr. Noch bleibt Zeit, denkt er. Ich werde sie zu nutzen wissen.

    Sie sitzen am Tisch und essen. Sie reden und er hält ihre Hand, wenn er sie berühren will. Sie trägt ein T-Shirt und Boxershorts. Er findet, dass Fatma umwerfend aussieht. „Weisst du,, sagt Heiri. „Du lagst so hilflos vor diesem Rudel durchgeknallter Polizisten. Da musste ich doch…

    „…ich weiss, sagt sie. „Ich wünschte mir, du hättest sie alle weggehauen. Und wir hätten ein für alle Mal unser Ziel erreicht. Ihre Stimme wird resoluter, die schwarzen Haare fallen ihr über die Schultern, während sie den Kopf hebt: „Weg mit dieser Regierung, diesem totalitären System, das in seiner eigenen Welt lebt und das Volk als einen Haufen Hunde betrachtet, die zum ewigen Gehorsam verpflichtet sind."

    Heiri isst und jetzt ist sie es, die ihn streichelt. Ihre Füsse massieren seine Unterschenkel. „Du bist ganz schön verspannt, sagt sie und lacht. Dann wird sie nachdenklich. Sie zieht ihre Füsse zurück, ehe sie ihre Beine übereinanderschlägt und an ihren Boxershorts zupft. „Schön wäre es, wenn man sie einfach weghauen könnte. Aber die Zahl der Polizisten wird immer grösser. Sie ziehen sie aus allen Landesteilen zusammen und schaffen sie in Überlandbussen her. Als hätte die Polizei keine andere Aufgabe, als die eigenen Leute zu schikanieren! Fatma trinkt Kaffee und knabbert an einem Brötchen. Sie schaut Heiri an und dieser vergisst für einen Moment seinen Hunger. Ihr Blick geht tief und Heiri spürt plötzlich ein Kribbeln in seinen Adern. Fatma ist eine Frau, die mich gefangen nehmen kann, denkt Heiri. Wohin soll das noch führen? Ich muss doch gleich los.

    „Meinungsfreiheit zu verbieten, ist eine Schande. Diese Regierung kann mich mal, sagt sie, steht auf und küsst ihn innig. Dann setzt sie sich auf seinen Schoss und sagt: „Wenn du noch Zeit hast, können wir wieder verweilen.

    Eine halbe Stunde später macht sie sich an der Nespressomaschine zu schaffen. Sie sitzen wieder am Tisch und schauen sich an. „Was waren das überhaupt für Kinder?", will Heiri wissen.

    „Ich weiss es nicht", antwortet Fatma.

    „Ich dachte, es seien deine."

    „Vielleicht hast du recht, erwidert Fatma. „Sind wir gewissermassen nicht alle eine einzige grosse Familie. Dabei kenne ich nicht mal ihre Namen. Sie lacht und sie umarmen sich, ehe sie duschen und sich anziehen.

    Die Kuppeln der Moscheen sind wieder ganz zur Erde zurückgekehrt. Sonne ist aufgekommen und hat die Wolken zum Fliegen gebracht.  Sie schieben jetzt drei Etagen höher Blumenkohl auf einem unsichtbaren Band von Westen nach Osten. Die Gläubigen würden noch lange beten müssen, bis sich ihr Wunsch nach dem Jenseits erfüllen würde.

    3.

    Hast du ein Gewitter im Kopf? Schlagen Blitze in dein Hirn? Rollt der Donner vom linken zum rechten Ohr und schüttelt dann deinen Körper, als sei er ein Mehlsack, der gleichgültig auf die Ladefläche eines Anhängers geworfen wird? Heiri spürt, dass sein Körper ausser Kontrolle geraten ist. Er spürt etwas Feuchtes. Und er ist sich sicher, in die Hose gemacht zu haben. Er drückt. Er verkrampft sich. Er windet sich. Nein, er glaubt bloss, dass er sich windet. Er liegt regungslos da, unfähig zu einer Bewegung. Er öffnet die Augen und sieht das Schwarz, das man sieht, wenn man die Augenlider geschlossen hält. Heiri hat keine Angst, aber er registriert ein ernstzunehmendes Problem, das er nicht näher lokalisieren kann. Er ist gefangen und doch fühlt er sich jetzt wieder so, als sei er ein Vogel und würde fliegen.

    *

    Der Bosporus ist erwacht. Tausende unsichtbarer Spiegel schwimmen darin. Jeder einzelne reflektiert die Sonnenstrahlen und macht schwindlig. Auf der Galatasaray-Brücke sind Hunderte Demonstranten unterwegs. Aus vielen Fahrzeugen werden türkische Fahnen geschwenkt. Die Fahrer hupen oder rufen den Demonstranten aufmunternde Worte zu. Fatma wirkt entspannt. Wären nicht diese Sorgenfalten gewesen, die wie Furchen um ihre Augen liegen. Heiri wünscht sich, er könnte sie wegzaubern. Sie errät seine Gedanken und drückt ihm die Hand. Nach der Brücke hält das Taxi. Heiri muss das Zentrum umfahren, um rechtzeitig bei der Georgskathedrale anzukommen. Fatma steigt aus. Sie küsst ihn ein letztes Mal und streichelt seine Wangen. Ihre Hände werden zu einer Muschel und Heiris Blick verschwindet darin. Dann öffnen sich seine Augen und Fatma ist verschwunden. Er spürt ihre Hände noch

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