Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

In Liebe, Sheila
In Liebe, Sheila
In Liebe, Sheila
eBook371 Seiten5 Stunden

In Liebe, Sheila

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Beim Basler Bankenplatz detoniert eine Bombe. Gleichzeitig stirbt vor dem angrenzenden
Music Store ein Mann. Kriminalkommissär Conradin Styger übernimmt
den Fall. Zur gleichen Zeit verlassen Islamisten ihr Ausbildungszentrum im Norden
Afghanistans und gelangen auf abenteuerlichem Weg ans Rote Meer. Als sie dort
ankommen, verbringt Sheila, die Geschäftsführerin des Music Stores, gerade Ferien.
Sie lernt Leander kennen, der als Tauchlehrer im Hotel arbeitet und verliebt
sich in ihn. Als Sheila schon glaubt, dass sie Leander vergessen hat, besucht er sie in Basel.
Schliesslich befällt Sheila ein furchtbarer Verdacht. Leander könnte ihre Liebe
missbraucht haben. Er ist im Besitz von Dokumenten, mit deren Hilfe er am Rhein
eine verheerende Flutwelle auslösen kann.
SpracheDeutsch
HerausgeberBookBaby
Erscheinungsdatum9. Okt. 2016
ISBN9783952447215
In Liebe, Sheila

Mehr von Kurt Tschan lesen

Ähnlich wie In Liebe, Sheila

Ähnliche E-Books

Darstellende Künste für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für In Liebe, Sheila

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    In Liebe, Sheila - Kurt Tschan

    8

    1.

    «Die Hülle ist leer. Das ist immer so. Würden CDs darinstecken, wären wir schon längst verlumpt.» Sheila lässt die Locken ihrer dunkelbraunen Haare wellenförmig tanzen. Schlangen bewegen sich so. Aber wer will schon Schlangen im Haar.

    Steht sie so, spitzbübisch lächelnd, hinter dem Tresen, nimmt man eher die Kasse mit Rosabildschirm zur Kenntnis als sie. Sheila ist klein. Sie macht sich auch nicht grösser als unbedingt nötig. Manchmal verschwindet sie hinter allem und nichts.

    «Ach, so», sagt der Mann, bald einmal 50, gut über 90 Kilogramm schwer, mit zunehmend grauen Haaren, die ihm schlechter stehen als seine braunen, die seltener werden. «Diese Musik, es ist ein Wunder, dass es sie noch gibt.»

    «Dafür sind wir ja schliesslich da», sagt Sheila und schüttelt den Kopf. Ihre Locken kommen in Schwung. Sie wollen sich kaum mehr beruhigen. «Wie oft wurde schon der Film totgesagt. Aber er lebt weiter», sagt sie.

    «Da haben Sie recht», sagt der Mann, «obwohl die Kultur oft unter die Räder kommt. Es wird nur noch produziert, was rentiert.» Er zückt einen 50-Franken-Schein und legt ihn Sheila in die Hand. «Jetzt brauch ich noch die CD…»

    «….und Sie kriegen auch Ihr Wechselgeld: 25 Franken», sagt Sheila und schiebt von Keith Jarrett in die Hülle. «Ach, wissen Sie was: Bewahren Sie den Rest für meinen nächsten Besuch auf. So habe ich einen Grund wiederzukommen.» Der Mann geht zur Tür, wartet vor der Lichtschranke, bis die Glasscheiben seitlich aufgehen und tritt ins Freie. Er spürt die heisse Luft, die aus unsichtbaren Düsen strömt. Dann hört er einen Knall. Wenig später ist es totenstill. Schneiter atmet aus. Zum Einatmen kommt er nicht mehr .

    Die Feuerwehr ist schneller als die Polizei. Und die Polizei hat alle Mühe damit, für Ordnung zu sorgen. In gewisser Hinsicht selbst ausser Kontrolle geraten, legt sie sich mit jedem an, der sich ihr in den Weg stellt.

    «Wenn ihr euch nicht verpisst, spritze ich euch mit dem dicken Wasserrohr ab», schreit ein entnervter Feuerwehrmann und kämpft sich durch den dichten Kordon von Polizeikräften, der der Sicherung von Spuren grössere Bedeutung beimisst als der Rettung Verletzter.

    Die Schalterhalle einer benachbarten Bank ist zerfetzt. Aus dem Sichtmauerwerk klaffen Löcher mit aufgerissenen Rändern. Zerborstene Schaufensterscheiben liegen als gefährlicher Scherbenteppich auf Gassen und Strassen. Nach dem grossen Knall herrscht lähmende Stille, bis Schreie einsetzen. Blaue und gelbe Lichter blitzen in der Abenddämmerung. Der Himmel ekelt sich und schüttet Eisregen über Grossbasel aus.

    Jens Schneiter war chancenlos. Die Druckwelle riss aus dem Hauseingang eines benachbarten Gebäudes eine Eisenverstrebung und rammte sie ihm mitten in die Brust, als er durch den Druck der Explosion meterweit durch die Luft geschleudert wurde. Schneiter liegt begraben unter einem Haufen herausgesprengter Steine. Die Druckwelle hatte ihn nicht nur auf der Stelle getötet, sondern auch gleich noch sein Grab geschaufelt. Sein Blut ist auf dem ausgewaschenen Kopfsteinpflaster einseitig auf die vom Herzen abgewandte Seite geflossen und versickert jetzt dort wie ein dunkler Schatten ohne Zuordnung.

    Sheila steht hinter der Kasse. Sie hört einen penetranten, gleichbleibenden Pfeifton. Noch ehe sie das Ausmass der Explosion registrieren kann, kippt sie um und schlägt hart mit dem Kopf auf dem Boden auf. Sie weiss nicht, wie lange sie bewusstlos auf dem Boden gelegen ist, ehe sie sich hochrappelt. Ihre Hände umklammern den Tresen. Noch kann sie nicht stehen. Ihre Beine zittern. Sheila steht unter Schock. Der Pfeifton ist einem lauten Summen gewichen. Sonst hört sie nichts.

    Kraftlos sinkt sie zu Boden. Ihre Hände gleiten geräuschlos dem Tresen entlang. Zuerst tastet sie ihr Gesicht ab. Dann putzt sie mit dem Ärmel ihres beigen Pullovers ihr Gesicht. Das Graubraun des Staubs ist getränkt in dunkelrotem Blut.

    Sie hustet und spürt einen stechenden Schmerz im rechten Arm. Der Pfeifton schwillt an und zieht steif wie Sturmwind durch den Raum. Sheila hält die Hände vors Gesicht. Erst jetzt bemerkt sie, dass sie weint.

    Der vordere Teil des Music Store gleicht einem Schlachtfeld. Die bodenlange Schaufensterfront hat sich verwandelt in herausgespuckte unförmige Glaskügelchen und spitze Scherben, die weit verstreut herumliegen. Die Scheiben der Eingangstür sind aus ihren Halterungen gerissen worden. Die Explosion hat aus einer Glastür einen offenen Durchgang gemacht.

    Der Pfeifton wird leiser. Er bricht nicht ab. Er wird aber auch nicht bestimmter. Sheila ist noch immer nicht in der Lage etwas zu hören. Sie vernimmt einfach diesen gleichbleibenden Klang als etwas, das Teil ihres Schmerzes geworden ist.

    Sie sitzt da. Sie ist benommen und regungslos. Wären da nicht ihre Tränen, nichts würde sich bewegen. Nicht in ihr. Und nichts an ihr.

    Es braucht Zeit, bis der gleichbleibende Ton abnimmt. Und sie steht bereits, als er nur noch ein Surren ist. Der Ton fühlt sich jetzt an wie Schüttelfrost. Sheila schwitzt und im gleichen Moment ist ihr kalt. Ihr Mund ist trocken. Und was sie sieht, kann sie nicht zuordnen. Es gibt Bilder, die fremdgehen. Sie werden nie zur eigenen Wahrnehmung.

    Sheila vernimmt das Surren einer Lautsprecherbox, dann setzt Musik ein. Abba passt nicht zu einer solchen Katastrophe, denkt sie und stellt die Musik ab. Sie findet die Fernbedienung auf Anhieb. Gewisse Reflexe funktionieren noch. Mit der Stille wird der Pfeifton wieder lauter.

    Nachmittags um fünf haftet Basel etwas Gespenstisches an. Auf dem Bankenplatz sieht es aus wie nach einem Fliegerangriff. Die herrschaftlichen Fassaden sind wie billige Kulissen aus ihrer Verankerung gefallen. Was geblieben ist, legt Nüchternheit frei. Menschen fluchen oder fallen sich weinend in die Arme. Das Blaulicht der Rettungskräfte zerschneidet mit einer unangenehmen Schärfe das Dunkelgrau der aufgekommenen Dunkelheit an diesem Januarnachmittag. Die Sirenen heulen wie Hunde, denen der Schwanz bei lebendigem Leib herausgerissen wird. Die Stadt blutet und dadurch wird das Wetter noch garstiger.

    Sheila hält noch immer das Wechselgeld in der Hand. Einen Zwanziger, einen Fünfliber und eine 50-Rappen-Münze. Sie hält fest, was festgehalten werden kann, während sie sich eingestehen muss, dass mehr oder weniger alles futsch ist.

    Es braucht Überwindung und eigenen Zuspruch, damit sie die rechte Hand öffnen kann. Sie braucht dafür die Unterstützung ihrer linken Hand. Sie nimmt Finger um Finger in die Hand. Dann fallen die beiden Münzen klirrend auf Scherben, die auf dem Kassentisch liegen. Die Note muss sie von der Innenfläche ihrer Hand lösen. Sie ist an Blut geklebt. Sobald ihre rechte Hand die Starre überwunden hat, sammelt sie das Geld ein. Sie hält es wieder fest. Sie will es nicht hergeben. So wie sie gerne alles rückgängig machen möchte. Was ist nur aus dem Mann geworden, der ihr das Geld gegeben hat? Und würde er je wieder im Musikgeschäft vorbeischauen und wie versprochen eine weitere CD vom kaufen?

    Aus den Halterungen gesprengte Storen quietschen. Sie hängen an ihre eigene Schnüre gewickelt herab. Als Erstes versucht Sheila sie wieder einzuhängen. Der Versuch misslingt. Sie fallen auf den Boden.

    Erst kürzlich, nach einem Kurzschluss in der Energiezentrale des sechsstöckigen Gebäudes, blieben die Türen des Music Store während einer halben Stunde geschlossen. Niemand konnte mehr ein und aus. Es gab nur noch einen kleinen Notausstieg auf der Rückseite des Ladens.

    Der Durchlass, nicht höher als einen Meter hoch, war jedoch zu eng. In diesen ungewissen Minuten setzten die Kunden, die im Laden eingesperrt waren, einfach Kopfhörer auf und hörten ihre Musik. Sie taten so, als sei nichts passiert. Sie verdrängten, was war, weil sie die Realität, so wie sie war, nicht akzeptieren wollten. Sie versetzten sich in musikhörende Kunden in einem Musikgeschäft, die sich noch nicht entschieden hatten, welche CDs sie kaufen wollten.

    Nie wäre es Sheila in den Sinn gekommen, jetzt aufzulegen, obwohl sie noch immer an nichts anderes als an diesen Kunden denken kann, der eben erst den Laden verlassen hat und, just als er die Schiebetüre passiert hat, von einer ungeheuren Explosion erfasst wurde. Erstmals hält es Sheila für wahrscheinlich, dass der Anschlag ihm gegolten hat. Aber warum nur? Sheila findet die Fernbedienung. Sie drückt auf die Abspieltaste. Keith Jarrett beginnt Klavier zu spielen. Die Töne erinnern an Tropfen, die vom Himmel fallen und immer anders klingen. Immer wenn die Melodie gängig wird, verändert sie sich. Das Spiel wird nicht lauter, aber eindringlich.

    Der Saum ihrer Jeans spannt. Sheila öffnet den obersten Knopf, atmet aus und schiebt ihren beigen Pullover über den Hosensaum. Dann greift sie nach der Schublade der Kasse und stellt fest, dass sie geschlossen ist. Sie weiss nicht, ob sie deswegen erleichtert sein soll. Wenigstens ist nichts gestohlen. Auch jetzt existiert noch eine gewisse Ordnung. Sie weiss nicht, was sie davon halten soll. Sie nimmt sie einfach zur Kenntnis. Ihre Wahrnehmung ist weiterhin eingeschränkt. Sie sieht alles durch feinen Nebel. Sheila schüttelt den Kopf und reibt sich die Hände, die immer noch bluten. Auch der Stirn klafft eine Wunde. Warum nur, denkt sie, verspüre ich keinen Schmerz? Lebe ich überhaupt noch?

    Nein, wir waren nicht gemeint. Wir sind kein Ziel für einen Anschlag, denkt Sheila. Wenn, dann war eine Bank gemeint. Davon haben wir in der Nachbarschaft wahrlich mehr als genug. Aber gewiss doch! Jemand hat einen schrecklichen Anschlag auf eine Bank verübt. Vielleicht auf die grosse Schweizer Bank, die ständig im Gerede ist, weil sie dabei geholfen hat, ausländischen Kunden bei der Steuerhinterziehung zu helfen. Oder die Basiliensis, die im Sog der grossen Banken damit begonnen hat ihre Geschäfte zu kopieren. Oder die Sparkasse, die sich auf Hypotheken spezialisiert hat.

    Plötzlich ist der Pfeifton wieder da. Er zieht wie ein gerader an Metall kratzender Stift durch ihren Gehörgang. Sheila kann ihn noch immer nicht zuordnen. Kommt er von draussen oder steckt er tief in ihr drin? Sie stützt sich am Kassentisch ab und schliesst die Augen. Ein Schwindel erfasst sie. Sie atmet kräftig durch und öffnet die Augen, als alles zur Ruhe gekommen ist. Dann schreit sie.

    Erschrocken blickt sie in das freundliche Lachen eines jungen Manns, der vor ihr steht. Ihr Schrei erstickt. Ihr Mund bleibt offen. Sheila wird kreideweiss, sperrt ihren trockenen Mund auf und spannt die Nasenflügel. Sie hält die Hände so, als müsste die eine Hand die andere führen. Als ihre Beine zittern, beugt sie ihren Oberkörper über den Tresen und schliesst wieder die Augen.

    «Geht es Ihnen gut?», fragt der junge Mann besorgt. Sheila richtet sich auf, nickt, schluckt leer und blickt ihn erstaunt an.

    Er ist nicht älter als 25 Jahre. Sein schwarzes Kraushaar glänzt vom vielen Festiger, den er aufgetragen hat. Er trägt ein weisses Hemd und eine dunkle Lederjacke und um seinen Hals hängt ein dünnes goldenes Kettchen. Er dürfte aus dem Orient kommen. Er ist gewiss nicht von hier.

    «Kann ich Ihnen helfen?», insistiert der junge Mann. Seine Stimme klingt sanft, seine Sorge wirkt echt.

    «Danke, es geht. Was ist bloss passiert?», will Sheila wissen.

    «Keine Ahnung. Ich war ganz hinten im Laden», sagt der junge Mann und zeigt mit ausgestrecktem Arm in die Richtung. «Dort, wo Keith Jarrett zu Hause ist», ergänzt er zögerlich.

    Sheila weiss nicht, ob er sich deswegen schämt. Wirkt Keith Jarrett

    etwa anstössig. Der junge Mann zeigt mit dem rechten Arm an die Decke zu den Lautsprechern. «Hören Sie nicht, !», sagt er. «Ich war bei ihm, als es gekracht hat.»

    «Komisch, ich hab Sie gar nicht eintreten sehen.»

    Der junge Mann hält zwei CDs in seiner rechten Hand und reicht sie Sheila. Mit der anderen Hand greift er zum Portemonnaie. Jetzt zögert sie. Die Situation irritiert sie. Ist es möglich so zu tun, als ginge das Leben seinen gewohnten Gang? Jetzt, nach dieser fürchterlichen Explosion, wo Menschen verletzt oder sogar getötet worden sind?

    Sheila weiss nicht, was sie tun soll. Sie denkt nach, ohne dass sie sich entscheiden könnte. Sie schüttelt einfach den Kopf. «Tut mir leid, die Kasse funktioniert nicht mehr», sagt sie. «Wegen der Explosion hat es einen Stromunterbruch gegeben.»

    «Macht nichts», sagt der junge Mann und streckt ihr das Geld hin. «Ich habe den Betrag abgezählt. Kein Problem. Eine Quittung brauch ich nicht.»

    Sheila nimmt das Geld reflexartig entgegen und legt es auf den Tresen. Sie geht zum Jazz-Regal, schaut sich um und geht unverrichteter Dinge wieder zur Kasse. Als sie dort eintrifft, sind auch die 46 Franken weg.

    *

    Die Sonne ist auf den Stoff eines Klapprollos gemalt, das am Fenster hängt. Als Sheila die Sonne aufrollt, weil sie den Stoff hochzieht, fällt gleissendes Licht in das Schlafzimmer. Es fliesst mit grosser Energie in den Raum und legt auf dem dunkelbraunen Riemenparkett eine Schicht Staubpartikel frei. Sie schweben scheinbar schwerelos durch den Raum. Die dunkelgrüne Zimmerpflanze, die sie erst vor wenigen Tagen in der Migros gekauft hat, ist noch zu klein, um die schwere Holzkommode zu verändern. Beide passen nicht zusammen, denkt sie und überlegt sich einen anderen Standort.

    Sie öffnet die Tür zum Bad und setzt sich aufs Klo. Aus einer Ablage holt sie sich eine Frauenzeitschrift und beginnt darin zu blättern. Die Körper der Models sind bereits mit zwei Fingern abzudecken. Wer so schlank ist, denkt Sheila, hat immer Hunger. Sie betätigt die Spülung und holt sich in der kleinen Essküche einen Müsliriegel. Dann schenkt sie sich ein Glas Apfelsaft ein. Wenig später verströmt ihre Nespresso-Maschine den Duft von Kaffee. Sheila trinkt ihn mit Süssstoff. Sie will abnehmen.

    Der Tag beginnt wie immer an einem Samstag. Sheila bleibt lange liegen, auch wenn sie nicht mehr schlafen kann. Dann steht sie auf, betätigt das Klapprollo und lässt das Tageslicht herein. Sie geht aufs Klo, isst eine Kleinigkeit und genehmigt sich einen guten Kaffee. Sheila wohnt im Gundeli-Quartier, in einer Seitenstrasse, die zu einer Einbahnstrasse führt. Hätte sie ein Auto, wäre die Zufahrt kompliziert. Sie müsste einen Umweg fahren, weil es nicht möglich ist, auf der gleichen Strasse das Haus zu erreichen. Sie müsste daran vorbeifahren, auf der gegenüberliegenden Seite wenden und die Zufahrt zum kleinen Innenhof erwischen, wo sich die Parkplätze befinden.

    Sheila denkt nicht daran, sich ein Auto zu kaufen. Sie hat nicht einmal einen Führerschein. Bewegung versteht Sheila ohnehin anders als die meisten. Bewegung beginnt für sie im Kopf. Reisen, sagt Sheila, wenn sie danach gefragt wird, besteht zur Hauptsache aus Sitzen – sei es in einem Flugzeug, in der Bahn oder im Auto. Wer wirklich vorwärts kommen will, muss tief in sich selbst gehen. Erst dann beginnen die wirklichen Reisen, setzt Bewegung ein.

    Sheila packt sich ihre zwei mit dreckiger Wäsche vollgestopften blauen Ikea-Taschen und legt die Tragriemen über die Schultern. Dann läuft sie zwei Stockwerke runter, ehe sie die Kellertreppe erreicht. Unten riecht es wie immer miefig. Das Licht hier ist nur ungenügend. Der Lampenschirm ist demontiert worden. Seitdem hängt eine nackte Glühbirne von der Wand. Die kleine Waschküche des Mehrfamilienhauses befindet sich in einem gefangenen Raum. Licht kommt nur von der Decke: Die 100-Watt-Birne sorgt für eine konturlose Klarheit, wenn sie brennt. Allerdings nur im Eingangsbereich. Weiter hinten, wo die Maschine steht, ist es dunkler. Sheila hat die Wäsche bereits in der Wohnung sortiert: Sie stellt den ersten Regler der Siemens-Maschine auf 40 Grad und den zweiten auf Buntwäsche. Dann drückt sie einen Knopf und die Maschine beginnt zu laufen. Die andere Tasche stellt sie neben die Maschine und steigt wieder hoch. Wie so oft lässt Sheila das Licht brennen. Es kostet sie ja nichts. Also macht es auch keinen Unterschied, ob es angeschaltet bleibt oder nicht.

    Im Briefkasten steckt die Zeitung, die sie abonniert hat, weil sie gerne am Morgen etwas im Briefkasten vorfindet, das sich gut in die Hand nehmen lässt und das ihr die Zeit im Tram verkürzt. Die kommt heute gleich zweifach. Die Sondernummer, die noch spät am Abend verteilt wurde, findet sich auch in der ordentlichen Ausgabe vom Samstag. Das ist des Guten zu viel, denkt Sheila. Verbrechen sollte man nicht zu viel Beachtung schenken. Die Täter werden deswegen nur noch wichtiger.

    Sie zieht einen Brief der Swisscom aus dem Briefkasten und einen grösseren, hellbraunen Umschlag, der sich weich anfühlt. An der Innenseite der Versandtasche sind Luftpolster angebracht. Sie legt die Briefe in die Zeitung und begibt sich nach oben. Manchmal nimmt sie zwei Stufen auf einmal. Sie atmet schneller und spürt wie ihr warm wird. Im ersten Stock ist eine Eingangstür nur angelehnt. Sie gehört zur Wohnung von Franz. Franz ist Student, er ist zerstreut und hat seine liebe Mühe mit geschlossenen Räumen. Manchmal schliesst er seine Tür ab, obwohl sie noch offen steht, weil auch er manchmal glaubt, den Anschein von Ordnung wahren zu müssen.

    Auch heute schiebt das Türblatt Millimeterarbeit entlang des weiss gestrichenen Rahmens. Vergeblich, der vorgeschobene Riegel verhindert, dass die Tür ins Schloss fallen könnte.

    Dass ihn das Quietschen nicht stört, denkt Sheila, drückt den Griff nach unten, dreht den Riegel zurück und schliesst die Tür. Dann steigt sie eine weitere Treppe hoch.

    Die Rechnung der Swisscom ist hoch. Viel zu hoch, findet Sheila. Die Handykosten betragen über 100 Franken, die Liste der getätigten SMS umfasst mehrere, eng beschriebene Seiten. Sheila besieht sich die Nummern, ohne sich sofort an die Menschen zu erinnern, denen sie Mitteilungen geschrieben hat: Gut, da waren die Mutter, der Bruder, einige Freunde. Aber auch andere. Irgendwie, denkt Sheila, war das meiste, das ich geschrieben habe, entbehrlich. Es war nichtssagend, fehlerhaft. Ich habe Präsenz markiert, ohne präsent zu sein. Ich habe Aufmerksamkeit geweckt, ohne am Tisch Platz zu nehmen.

    Ich zahle zu viel für Verzichtbares, das mitgeteilt werden will. Auch das Unwichtige hat seinen Platz im Leben, nimmt sich Sheila in Schutz. Sie entschliesst sich, es nicht zu bereuen, so viel Geld für Belangloses ausgegeben zu haben. Auch wenn ich nicht mehr sein sollte, so bin ich es doch.

    Sie zerreisst die Blätter der Rechnung so lange, bis keine Nummer mehr vollständig ist und wirft die Schnitzel in den Müll. Die Rechnung schickt sie gleich hinterher. Die erste Mahnung ist ja gratis. Verzugsschäden können nicht geltend gemacht werden, auch wenn das viele anders sehen und sie belasten wollen. Für diesen Fall hat Sheila einfach einen Musterbrief bereit. Sie verschickt ihn ohne Porto.

    Die Zeitungen stapeln sich auf dem Küchentisch. Manchmal bewahrt Sheila alte Zeitungen auf. Sie benutzt sie nach dem Lesen. Sie wickelt Dinge darin ein, Gemüse etwa, oder sie putzt damit Fensterscheiben. Manchmal fertigt sie auch Collagen an. Sheila blättert sich durch alte Ausgaben der . Im Verhältnis zu den Bildern werden die Texte immer unbedeutender. Während die Bilder auf Dramatik aufbauen, sind die Texte oberflächlich, vielfach auch schlecht geschrieben. Nirgendwo anders als in Zeitungen lässt sich das Aussterben der Sprache besser beobachten. Immer häufiger werden Texte durch Symbole oder Bilder ersetzt.

    Später reisst sie den dicken Umschlag auf: Die Reiseunterlagen für die Ferien am Roten Meer fallen in zwei dünnen Blöcken heraus. Flug und Hotel sind in einem kleinen Set untergebracht. Eine Woche Badeferien am Meer benötigt mindestens 20 Seiten Bestimmungen, Kleingedrucktes eben. Sheila überfliegt die Unterlagen, in dem sie das Heft durch die Finger gleiten lässt. Bestünden die Buchstaben aus kleinen Zeichnungen, würde eine Handlung ersichtlich, ein kleiner Film liefe ab, der wenigstens etwas Unterhaltung böte. Aber so bleibt es bei einem Nichts voller Buchstaben.

    Abflug ist am kommenden Freitag kurz vor elf Uhr. Zeit genug, um die Koffer zu packen, ein gutes Buch zu kaufen, den MP 3-Player mit neuen Songs aufzurüsten und von Sonne und Meer zu träumen.

    Sheila bückt sich über die Zeitungen, gleicht die Sonderausgabe mit der regulären Samstagszeitung ab und kommt zum Schluss, dass sie identisch sind. Der Sprengsatz ist in einem Mülleimer explodiert, liest sie auf der Front. Durch die Wucht der Detonation seien Schaufensterscheiben zerborsten. Fensterrahmen seien herausgebrochen und mit ihnen Mauerteile. Betroffen seien vor allem Geschäfte unweit des Bankenplatzes. Die Banken selbst beklagten zwar kleinere Schäden. Diese seien aber marginal. Die Sicherheitstüren hätten den Druck ausgehalten, im Innern der Banken sei nichts passiert.

    Der Sprengsatz sei an der Peripherie des Platzes deponiert worden, dort, wo die Überwachung weniger rigoros sei. Die Detonation sei viel stärker auf der anderen Seite des Platzes zu spüren gewesen, dort, wo sich einige Büros, Einkaufsgeschäfte und Wohnungen befänden. Sheila blickt von der Zeitung auf. Sie nimmt das offene Küchenfenster wahr. Noch immer ist die Ruhe von einem leisen Pfeifton gestört. Sie kann ihn nicht lokalisieren. Er muss aber von ganz weit innen stammen.

    Sheila liest weiter. Ein Mann sei beim Verlassen des Music Store von einer Eisenverstrebung, die aus einer Mauer gesprengt worden sei, in der Brust getroffen worden und noch an der Unglücksstelle gestorben. Das Eisen sei direkt in sein Herz gedrungen, jeder Rettungsversuch erfolglos gewesen. Sheila spürt ihre Tränen erst, als diese ihre Lippen erreicht haben. Sie schmecken salzig.

    Wem gebe ich jetzt das Wechselgeld zurück?, fragt sie sich. Warum habe ich es überhaupt eingesteckt?

    Sie geht zur Garderobe, steckt ihre Hand in die Jackentasche und holt das Geld hervor. Sie betrachtet den Geldschein und die Münzen. Dann kommt sie zum Schluss, dass Geld nichts Persönliches an sich hat. Sie lässt es auf dem Küchentisch liegen und macht sich an der Spüle zu schaffen. Nachdem sie das Geschirr gereinigt, abgetrocknet und wieder versorgt hat, steckt sie das Geld in ihr braunes Portemonnaie. Es wirkt jetzt nicht mehr fremd. Es hat seinen Platz gefunden.

    Sie trinkt einen weiteren Kaffee und nimmt sich den nächsten Artikel vor. In der Nähe des Mülleimers habe sich zum Zeitpunkt der Explosion niemand befunden. Trotzdem seien fünf Personen schwer verletzt worden. Hinzu kämen 42 Leichtverletzte, zumeist Passanten, die das Pech hatten, sich dort aufzuhalten, wo die Bombe hochgegangen war. Neun von ihnen befänden sich weiterhin in Spitalpflege. Der Sachschaden wird nach ersten Schätzungen auf mehr als drei Million Franken beziffert. Die Polizei geht von einem terroristischen Anschlag aus. Noch habe sich aber niemand zum Anschlag bekannt. So ist es immer, denkt Sheila. Die Terroristen sind an allem schuld, auch wenn es dafür keine Beweise gibt.

    Sheila steht am Fenster, blick auf die gegenüberliegenden Gebäude. Das ist aus seiner Starre noch nicht erwacht. Bodenfrost liegt auf den wenigen Grünflächen. Die aufgetauten Dächer sind nass. Es sind nur wenige Menschen zu sehen. Plötzlich kommt ihr der junge Mann in den Sinn, der so tat, als sei nichts passiert, der zwei CDs bezahlen wollte und dies auch tat. Wo mochte er wohl stecken und warum war er einfach so verschwunden? Hatte er das Geld wieder eingesteckt oder die CDs zurückgelegt? Sie versucht, sich an ihn zu erinnern. Alles, was sie vor sich sieht, sind seine dunklen Haare und die dünne Goldkette. Nicht gerade viel, um jemanden wiedererkennen zu können. Vieles fehlt in ihrer Erinnerung: seine Hände, sein Gesicht, sein Gang, seine Stimme. Vielleicht habe ich mir alles nur eingebildet. Vielleicht war der Schock einfach zu stark. Sheila vertröstet sich auf Dienstag. Sie wird, sobald sie wieder arbeitet, nachschauen, ob zwei CDs fehlen.

    *

    Auch zwei Gehminuten entfernt ist das Quartier das gleiche. Die geschlossenen Häuserzeilen erinnern an Linien, die mehrfach mit dem Lineal nachgezogen worden sind und deswegen Entschlossenheit und Dominanz ausstrahlen. Eigentlich stehen die Gebäude Spalier, wenn man an ihnen vorbeiläuft, denkt Sheila, während sie – einen leichten Buckel machend – scheu zu ihnen hochblickt. Gebäude wirken auf Sheila einschüchternd. Sie sind gross und unverrückbar. Sie kommt sich klein und wacklig vor. Schon ein Luftzug kann ihr Gleichgewicht stören.

    Wenigstens schafft es die Witterung kleine Unterschiede herzustellen. Je nach Lage sind die Fassaden stärker verwittert.

    Sheila hat ihren Wocheneinkauf hinter sich. Sie schleppt einen vollen Rucksack und vier Einkaufstüten mit sich rum. Kommt ihr jemand auf dem Gehsteig entgegen, hält sie vorsorglich an. Sie gibt Acht, dass nichts aus den Tüten herausfällt. Meistens weichen Passanten auf die Fahrbahn aus, wenn sie ihr begegnen. Sheila füllt nämlich mit ihrem Einkauf den ganzen Bereich des Gehsteigs.

    Im Gundeli gibt es viel Einbahnverkehr. Das macht das Ausweichen schwieriger. Sheila läuft den Fahrzeugen entgegen. Wer ihr ausweicht, hat den Verkehr im Rücken.

    Einbahnverkehr ist nicht sicherer als Gegenverkehr, findet Sheila.

    Während sich im Gegenverkehr die Richtungen aufheben und sich ein gewisser Fluss ergibt, wirken Einbahnstrassen richtungslos. Wer nicht zurück kann, kommt irgendwie auch nicht vorwärts.

    Schon wieder spritzt Fahrwasser hoch und zwingt sie zu einem Ausfallschritt. Er misslingt ihr. Der linke Fuss kommt auf dem glitschigen Untergrund ins Rutschen. Mit Wucht schlägt sie mit dem Knie an einen Kandelaber. Die äussere Tasche der linken Hand reisst. Salat, Brötchen, Aufschnitt und Käse, aber auch eine Tube Mayonnaise und Gebäck fallen auf den Boden. Sheila stellt die übrigen drei Taschen ab, bückt sich und versucht zu verhindern, dass etwas auf die Fahrbahn gerät. In diesem Moment stolpert sie, verliert endgültig ihr Gleichgewicht und plumpst auf den Boden. Eine weitere Tasche ist gerissen: Tiefgefrorenes, aber auch ein Rätselheft und mehrere Packungen Kaugummi liegen auf der Strasse. Apfelsinen werden von vorbeifahrenden Autos zerquetscht. Ein Teil des Saftes spritzt ihr ins Gesicht. Das linke Knie schmerzt, die Hüfte brennt und Sheila ist benommen.

    «Kann ich Ihnen helfen?», fragt eine männliche Stimme. Sie hört daraus einen Akzent. Das ist nicht ungewöhnlich. Die Stadt ist multikulturell.

    Der Ausländeranteil liegt bei über einem Drittel. Sheila stockt der Atem, Tränen schiessen ihr ins Gesicht, sie keucht und schreit vor Schmerz. Dabei hat sie immer noch diese gebückte Haltung, auch jetzt, wo sie auf dem nassen Gehsteig sitzt und sich blöd vorkommt, weil sie es nicht einmal schafft, ihren Wocheneinkauf nach Hause zu bringen.

    Schamröte steigt ihr ins Gesicht. Es ihr peinlich, dass sie einen Jupe angezogen hat, obwohl dafür kein Wetter ist. Zuerst reagiert sie auf die Aufforderung nicht. Sie ignoriert den Mann und schaut in eine andere Richtung. «Kein Problem, alles unter Kontrolle», sagt sie wenig später, als der junge Mann vor sie getreten ist, seine Hand ausstreckt und sie anlächelt. Gleichzeitig reisst eine weitere Tasche. Das Papier ist nass geworden und löst sich auf. Ihr Einkauf liegt wie ein Graffiti auf dem glänzenden schwarzen Asphalt. Wie schaffe ich das jetzt bloss nach Hause, fragt sie sich, schnäuzt sich mit einem Papiertaschentuch die Nase und trocknet die Tränen. Als sie das Tuch einsteckt, sieht sie schwarze Farbe darauf. Auch das noch, fährt es ihr durch den Kopf.

    Jetzt hält auch das Make-up nicht mehr.

    Der Mann ist wohl etwas älter als 30 Jahre und als es seine hohe Stimme vermuten lässt. Er ist kräftig gebaut. Seine Bewegungen strahlen Eleganz aus. Einer der gut tanzen würde, denkt Sheila. Einer, der weiss, wie mit Frauen umzugehen ist. Seine schwarzen Haare sind kurz geschnitten. Sie sind nicht länger als sein Bart. Er trägt verwaschene Jeans, eine graue Daunenjacke und eine Wollmütze, die er vom Kopf genommen hat, bevor er sie ansprach. So viel Galanterie in einer solchen Unpässlichkeit hat Stil, findet Sheila, der die Situation mit jeder Sekunde weniger peinlich wird. «Na, dann packen Sie mal an», fordert sie den Mann auf. Sie staunt über den Befehlston in ihrer Stimme. Sie streckt den Arm aus. Dann steht sie wie von selbst auf. Die ersten Schritte schmerzen. Aber es ist nichts gebrochen. Und sie blutet nicht.

    «Alles halb so schlimm», sagt sie. Erst dann realisiert sie, dass sie seine Hand noch immer hält.

    «Eine Tasche ist unversehrt», sagt der Mann. «Wissen Sie was. Ich hol Ihnen im Laden um die Ecke einige neue Taschen. Dann helfe ich Ihnen den Einkauf nach Hause zu bringen.» Noch ehe Sheila etwas erwidern kann, ist der Mann verschwunden. Vorsichtig bückt sich Sheila und holt von der Fahrbahn, was noch nicht plattgefahren ist. Sie achtet darauf, dass sie nicht noch mehr kaputt macht und staunt, wie schnell der Mann zurück ist. Sie hält die Taschen und er füllt sie. «So, und jetzt tun wir einfach so, als wäre nichts geschehen», sagt er, schnappt sich die vier Taschen, während Sheila ihren Rucksack umschnallt.

    Die Strumpfhose ist gerissen. Sie spürt im linken Bein einen stechenden Schmerz. Aber sie geht und folgt dem Mann. Erst später realisiert sie, dass er gewusst hat, wo sie wohnt. Im Moment ist es einfach, jemanden vor sich

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1