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Studer Heiri unter Strom
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eBook287 Seiten4 Stunden

Studer Heiri unter Strom

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Über dieses E-Book

Studer Heiri soll seinen Führungsoffizier Louis während eines Aufenthalts in Teneriffa beschützen. Kurze Zeit später verschwindet dieser spurlos. Die Jagd nach den Verbrechern führt ihn schliesslich wieder zurück in die Schweiz. Als alle glauben, die Sache sei ausgestanden, fängt die Geschichte erst richtig an gefährlich zu werden. Heiri, der Agent der Eidgenossenschaft, geht bis zum Äussersten, um einen Blackout im schweizerischen Stromnetz zu verhindern.
SpracheDeutsch
HerausgeberBookBaby
Erscheinungsdatum8. Nov. 2013
ISBN9783033042995
Studer Heiri unter Strom

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    Buchvorschau

    Studer Heiri unter Strom - Kurt Tschan

    Studer Heiri unter Strom

    Roman

    Kurt Tschan

    Studer Heiri muss am Emmentaler Schwinget die Ehre der Heimat verteidigen und verspricht Vreni voreilig einen Muni. Heiri hält Wort und geht als grosser Sieger aus dem Sägemehlring, aber weil Vreni nicht käuflich ist, muss er in den nächsten Wochen hartes Brot essen. Ein Auftrag des Sonderkommandos Ilfis kommt ihm da gerade recht. Er soll seinen Führungsoffizier auf Teneriffa bewachen. Ein Schoggi-Job, der aber rasch zum Albtraum wird. Louis wird entführt und der Fall nimmt immer grössere Ausmasse an. Heiri sieht sich mit einer Unabhängigkeitsbewegung auf den Kanarischen Inseln konfrontiert und muss auf den Kapverden Louis befreien. Als er glaubt, der Fall sei gelöst, fängt er erst richtig an. Die Schweizer Strombarone geraten in das Visier einer international tätigen Bande, die in der Lage ist, die Stromversorgung des Landes zu zerstören, nachdem sie im grossen Stil Sprengstoffbestände der Armee geklaut hat.

    Autor

    Kurt Tschan, geboren 1958. Lebt und arbeitet in Kleinlützel.

    Studer Heiri in Vietnam

    Copyright © 2013 Kurt Tschan

    Lektorat: Rosmarie Ujak

    Umschlag: Kurt Tschan (Foto und Gestaltung)

    ISBN 978-3-033-04299-5

    www.kurttschan.ch

    1.

    Die Sonne ist hell. Sie ist die Mutter des Lichtes und macht den Unterschied zur Nacht, die der Dunkelheit zuarbeitet. Manchmal scheint die Sonne auch nachts. Selbst bei Temperaturen um die zehn Grad. Heute ist so eine Nacht. Vreni rennt auf die Kuppe zu. Sie ist auch von Weitem gut zu sehen. Heiri eilt ihr nach. Auch er ist nackt. Er erwischt sie im Niemandsland zwischen Pferdeweide und Besenbeiz. Sie fallen über einander her. Und sie lieben sich hemmungslos. Heiri hat noch nicht genug. Und Vreni steht auf und sagt: „Jetz isch gnue. Muesch noh ässe. Verdammi! Däich an Muni, wo muesch morn heibringe!"

    2.

    Der Schweiss besteht manchmal aus Schweiss. Und manchmal aus rääsem Emmentaler. Manchmal riecht ein Schwinger den Schweiss seines Gegners. Und manchmal den rääsen Emmentaler, den er sich selber eingerieben hat. Rääser Emmentaler gibt Kraft. Wenn ein Emmentaler rääsen Emmentaler an sich selbst wahrnimmt, wächst er über sich hinaus. Heiri ist Emmentaler durch und durch. Es muss ihm schon besonders schlecht gehen, wenn er sich rääsen Emmentaler einreibt. Er isst ihn nämlich für sein Leben gerne. Am liebsten auf heisser Rösti. Aber er hat Vreni versprochen, den Muni heimzubringen. Und dafür muss er jeden seiner Kämpfe gewinnen. Da ist alles erlaubt: selbst rääser, auf die nasse Haut geriebener Emmentaler Käse. Ein besseres Dopingmittel für einen Emmentaler Schwinger gibt es nicht.

    Es ist Anfang März und die Lebensfreude wagt sich immer noch nicht aus ihren Löchern. Dafür ist es einfach zu kühl. Es weht ein eisiger Wind beim Schulhaus Stockhorn. Die meisten der 10 000 Zuschauer tragen dicke Jacken. Villiger Stumpen und Brissago ergeben ein dünnes Geflecht von Rauchpinseln, die dem Hellblau des Himmels auf den ersten Metern über der Haupttribüne ein feines Netz verleihen, das etwas Berauschendes an sich hat und beständig nach Süden driftet. Es weht eine kräftige Bise aus Norden.

    Das Frühlingswetter in Konolfingen ist so ungewiss wie der Ausgang des grossen Emmentaler Schwinget. Noch hat die Sonne die Temperaturen nicht über die Zehn-Grad-Marke gehievt und schon hat es leicht zu regnen begonnen. Auf den Tribünen wird geflucht. Die Stumpen werden nass und die Rauchpinsel verdichten sich zu Nebelschwaden, die in Hals und Nase kratzen.

    Die 86 Kämpfer verschwinden in der Aula oder holen sich an einem Imbissstand eine Bauernbratwurst mit einem grossen Stück Zopf. An einem Schwinget ist der Hunger ein ständiger Begleiter. Das Tagessoll von fünf Kämpfen weckt einen Kalorienbedarf, der einer Königsetappe an der Tour de France entspricht.

    Auf den Hügeln liegt trotzig Schnee, die Wiesen wirken so unordentlich wie eine Frisur zehn Wochen nach dem letzten Frisör-Besuch. Der Frühling schlummert noch unter den Äckern und Wiesen. Er würde bald aufwachen müssen, um den Bauern das Jahr nicht zu vermiesen.

    Es ist zu früh, um die Felder zu bestellen und für den ersten Schnitt auf den Wiesen. Der absterbende Winter ist so stur, als wäre er eine Glucke auf ihren Eiern, die sich Zeit lässt, ihre Kücken ins Leben zu entlassen.

    Das Wetter im Emmental ist wie Vreni: Es verlangt viel ab und überrascht einen doch immer wieder aufs Neue.

    Das Emmentaler Schwinget nähert sich langsam seinem Höhepunkt. Es ist 15 Uhr an diesem Sonntagnachmittag. Es ist noch immer kalt, aber die Wolken haben sich verzogen. Die Rauchpinsel der Stumpen ziehen vertikale Striche und lassen erahnen, wo die Ewigkeit beginnt.

    Der Himmel liegt in einem matten Grau. Keine imposante Kulisse für den wichtigsten Tag der Emmentaler Schwinger.

    Heiri befördert seinen Gegner in die Luft, als wäre er nichts weiter als ein Kartoffelsack, den es zu schultern gilt. Heiri packt ihn über seine rechte Schulter, ehe er ihn fallen lässt, so dass er heftig mit der Brust auf dem Sägemehl aufschlägt. Im nächsten Moment wirft sich Heiri auf ihn, fasst mit seinen Pranken unter seinen verschwitzten Oberkörper und wendet ihn wie ein Stück Fleisch auf dem Grill. Das Volk jubelt.

    Soeben hat Heiri seinen vierten Sieg am Emmentaler Schwinget eingefahren. Auf den Tribünen verkünden Massen-Plops das Öffnen neuer Flaschen Gurten-Bier. Das Zischen der Streichhölzer schmerzt wie der scharfe Schnitt einer Sense in den Ohren. Die Glut an den Zigarren wird grösser. Gierig ziehen die Zuschauer den Rauch in die Lunge und spülen mit einem kräftigen Schluck Bier nach. Dunst entweicht aus gierigen Mündern. Rauchpinsel zeichnen Notenschlüssel. Hätten die Emmentaler eine Hymne, sie würden singen wie ein Rockstar.

    Das Emmental ist stolz auf seinen Helden. Auf Heiri, der am Emmentaler Schwinget noch nie verloren hat. Und jedes seiner Unentschieden bleibt strittig. Nicht alle Richter gönnen Heiri den Sieg. Die Luzerner mögen die Emmentaler nicht. Manchmal schliessen sie Allianzen, um den Emmentalern eins auszuwischen. Das ist nicht schön. Aber nicht immer siegt die Gerechtigkeit, selbst im Sägemehl nicht, wo die Bösen regieren.

    Manchmal hatten sich die Richter getäuscht, als sie Heiri nicht gewinnen liessen. Manchmal wussten sie, was sie taten. Aber es ist ihnen noch nie gut bekommen. Seitdem Heiri weiss, wie Richter ticken, kämpft er auf Sieg. Einen Sieg können sie ihm schliesslich nicht aberkennen.

    Trotzdem ist Heiri auch dieses Mal auf alles vorbereitet. Erfahrungsgemäss verfolgen die Willisauer eine klare Taktik. Sie erscheinen mit einem Grossaufgebot an Schwingern. Unter ihnen besteht eine klare Hackordnung. Es gibt Wasserträger, die im Kampf gegen einen eigenen Mann nur scheinbar Gegenwehr entwickeln und so den eigentlichen Herausforderern eine gute Ausgangslage verschaffen, weil sie weniger gefordert werden. So gewinnen die gesetzten Willisauer einen Teil ihrer Kämpfe ohne grosse Kraftanstrengung, während die Emmentaler nie Geschenke machen und immer an ihre Leistungsgrenze gehen. Sie durchschauen zwar die Taktik der Willisauer. Nie aber würde es einem Emmentaler in den Sinn kommen, freiwillig zu verlieren. Dafür sind Emmentaler zu stolz. Und auch zu stark in ihrem Willen, dass niemand ausser ihnen selbst über ihr Schicksal entscheidet.

    Ein Emmentaler kommt nicht aus seiner Haut. Bei jedem Kampf geht es für ihn um Leben oder Tod. Nur durch grösste Anstrengung erarbeitet er sich das Recht, das Gesicht zu wahren. Nur dann wird eine Niederlage akzeptabel.

    Willisauer neigen im Gegensatz dazu, sich auf die sichere Seite zu stellen. Sie trauen sich alleine nicht viel zu und verfolgen lieber eine Taktik, die sich dem Kollektiv unterordnet. Emmentaler können damit nichts anfangen. Hier kämpft jeder für sich allein. Das Emmental ist kein Staat, nicht mal ein Kanton. Das Emmental ist ein Chromosom, das genetische Wurzeln hat.

    Heiri klopft dem Willisauer das Sägemehl vom Rücken. Er bleibt ernst und geht auf Zuschauerrufe nicht ein, die Verlierer verhöhnen und ihn zum Helden schreien. Heiri ist jetzt in einer anderen Welt. Er ist der Kämpfer, der nur noch seinen Gegner wahrnimmt und sonst nichts. Er hat gewonnen und zollt seinem Gegner Respekt. Sein Gegner soll erhobenen Hauptes aus dem Ring steigen können. Es sind heilige Regeln, die jeden Kampf überdauern und jeden Schmerz, so wie jede Freude darin aufgeht wie ein Nichts, das nur seine kurze Berechtigung hat, weil das Schwingen primär aus dem Kampf selbst besteht.

    Obwohl das Emmentaler Schwinget nicht so gross ist wie das Willisauer, steht es in der Agenda der Emmentaler Schwinger zuoberst. Kein anderer Sieg ist schöner und kein anderer Kranz wichtiger. Hier werden die Geschichten für die Ewigkeit geschrieben. Hier kriegt die Ewigkeit ein Gesicht. Es wird zum Spiegelbild einer stolzen Arena, die jedes Jahr grösser wird. In diesem Jahr sind schon über 20 000 Zuschauer gekommen.

    Heiri weiss, wovon er spricht. Er ist hier Seriensieger. Beim ersten Mal war er 18 Jahre alt und stand unter den Fittichen von Mäni, der ihn nicht nur trainierte, sondern der am Gymnasium Burgdorf auch sein Lehrer war. Er schob im Schwingkeller Zusatzschichten und büffelte gleichzeitig für die Aufnahmeprüfung an die Pädagogische Hochschule Bern. Mäni war nicht nur sein Lehrer, sondern auch sein Mentor. Und gewissermassen sein Vorbild.

    Heute ist Mäni Regierungsrat des Kantons Bern. Er leitet die Erziehungsdirektion, weil ihn Mitte-Links nicht im Volkswirtschaftsdepartement haben wollte. Dafür hätte Blaser Rüedu selbst seine Seele verkauft. Dies hatte er schon einmal getan, als er aus der SVP ausgetreten war und sich einer Dissidenten-Gruppe angeschlossen hatte. Mäni kann zwar mit den Zürcher Parteikollegen auch nicht viel anfangen. Aber er wäre deshalb nie auf die Idee gekommen, die Partei zu verlassen.

    Noch heute spricht Mäni im vertrauten Kreis von einer Schande, weil er nicht in die Volkswirtschaftsdirektion gewählt worden ist. Erstmals in seiner Geschichte habe der Berner Regierungsrat nämlich in geheimer Abstimmung eine Departementszuteilung vorgenommen, obwohl von Anfang an klar gewesen sei, dass die Linke, den Rüedu und nicht ihn wählen würde.

    Manchmal ist Mäni ganz froh, dass es im Berner Regierungsgebäude keinen Sägemehlring gibt. Er würde keinen Augenblick zögern und Rüedu herausfordern. Er würde ihm wie früher die Jutehose zuwerfen und seine eigene anziehen. Gott behüte. Das würde ein Kampf!

    Heiri war 18 und stand in seinem ersten Schlussgang. Er hatte seine fünf Kämpfe gewonnen. Er verdiente sich damit zwar nicht die besten Stilnoten. Aber es gelang ihm jedes Mal, zwei Drittel des Rückens seiner Gegner ins Sägemehl zu drücken. Heiri strotzte vor Kraft und Selbstbewusstsein und war stolz, dass ihm Mäni spontan nach dem vierten Sieg das Du angeboten hatte. „Gäll das giult – osser während de Schuel-Stunde", hatte Mäni gesagt und Heiri hatte mit seinen Pranken so viel Wasser aus dem Holzbrunnen geschaufelt, dass das Becken danach halb leer war. Heiri hatte sich zwar nicht abgekühlt. Sein Körper brannte noch immer. Aber er fühlte sich etwas entspannter.

    Favorit für den Schlussgang war Deppert Sepp gewesen, ein Willisauer, der vier Jahre älter war und bereits einmal einen Schlussgang an einem Eidgenössischen erreicht hatte. Der Kampf dauerte weniger als fünf Minuten. Heiri stand wie eine Eiche im Ring und Deppert turnte an ihm herum wie ein Berserker, ohne ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Mit einem Urschrei packte ihn Heiri schon nach wenigen Minuten, hielt ihn eng umklammert und presste ihn wie Stroh zu einem Ballen. Sepp sackte zusammen und blieb während Sekunden regungslos in den bleischweren Armen von Heiri liegen. Sepp hatte keine Luft mehr und war ohnmächtig geworden. Sein Kreislauf kam erst nach einer Minute wieder in Schwung. Sepp lag in dieser Zeit regungslos im Sägemehl. Dem Publikum stockte der Atem. Das Bier gefror in den Plastikbechern. Es war der Moment, wo Heiri sich über gewisse Dinge klar wurde. Heiri schwingt seitdem nicht schlechter. Aber es ist ihm nie mehr passiert, dass einer seiner Gegner nicht selbstständig aufstehen und ihm den Rücken abklopfen konnte.

    Es war jener Deppert Sepp gewesen, der letzten Oktober vor den Augen von Heiri auf offener Strasse in Vietnam erschossen worden ist. Die Willisauer hatten sich aber gehütet, zu grosse Nachrufe auf ihn zu schreiben. Sepp war schwul gewesen. Schwinger sind böse, aber nicht schwul. Die Sache hatte sich zwar in der Szene herumgesprochen. Die Szene hatte sich aber zur Verschwiegenheit entschlossen, sodass selbst die Boulevardpresse keinen Wind davon bekommen hatte.

    Heiri gehört zu den besten Schwingern des Landes. Letzte Saison hat er einen neuen Rekord aufgestellt und gleich sechs Kränze geholt. Dieses Jahr will er ihn egalisieren, obwohl ihm nicht genügend Zeit zum Training bleibt. Heiri unterrichtet nicht nur an der Primarschule von Trachselwald. Er gehört auch dem Sommerkommando Ilfis an, das im Auftrag der Eidgenossenschaft in heikler Mission unterwegs ist. Sein erster Fall hatte ihn nach Vietnam geführt. Er sollte Sepp zurückschaffen, nachdem er vom vietnamesischen Volkskomitee unter dem Verdacht verhaftet worden war, sich an einem minderjährigen Mädchen vergriffen zu haben. Dabei hatte Sepp nur seinem vietnamesischen Freund geholfen, der für eine Kinderschutzorganisation tätig ist und den Schleppern und Zuhältern das Leben im Grenzgebiet zwischen Laos, Vietnam und China schwer macht.

    Die Reise nach Vietnam ist an Heiri nicht spurlos vorübergegangen. Er kam nicht nur im nasskalten Emmentaler Winter braun gebrannt zurück. Er hatte danach auch gewisse Schwierigkeiten, den normalen Trainingsbetrieb im Clubkeller Chäsblüemli wieder aufzunehmen. Heiri hatte gewissermassen ein Motivationsproblem. Dieses stand zweifellos in Verbindung mit Cai, einer Stewardess von Vietnam Airline, die ihn bei ihren Flügen nach Zürich in ganz anderer Hinsicht forderte.

    Heiri aber ist es gelungen, sich aufzufangen. Cai hat er seit zwei Monaten nicht mehr gesehen. Ganz offensichtlich führte sie die Arbeit in letzter Zeit zu anderen Zielen.

    Vreni sitzt auf einer dieser unzähligen mattgrünen Plastikschalen. Reihe 16 ist noch gut zu sehen. Jetzt befördert Vreni ihren Kaugummi gelangweilt von einer auf die andere Mundseite. Sie kaut und gähnt. Sie würde an die viele Arbeit auf dem Hof denken: an die Kühe und Pferde, das halbe Dutzend Schweine und die Besenbeiz. Die vielen Gäste, das Essen, das zubereitet werden sollte und die Zimmer, die gemacht werden mussten. Vreni baut ständig aus. Nach den Stallungen für die Kühe kamen die Pferde an die Reihe, dann die Schweine und Hühner. Dann eröffnete sie eine echte Emmentaler Beiz und jetzt auch noch eine Pension.

    Wenigstens ist sie da, denkt Heiri. Sie wird den Muni mit nach Hause nehmen wollen. Wegen des Munis ist sie schliesslich gekommen. Das Schwingen sagt ihr nicht viel. Sie kämpft nicht nach bestimmten Regeln. Eine wie Vreni ist in kein Schema zu pressen. Bei einer wie Vreni muss man sich ständig anpassen. Sie ist eben wie sie ist.

    „Sag nie, du schenkst mir einen Muni, wenn du dich dann von einem Willisauer ins Sägemehl legen lässt. Das machst du nur einmal!", hatte sie ihn gewarnt, als sie sich zu einem Besuch des Schwinget überreden liess, weil ihr Heiri spontan den Hauptpreis versprochen hatte.

    Der Termin kam ihr äusserst ungelegen. Vrenis Hof gleicht seit Anfang des Jahres einer grossen Baustelle. Eine Kuh würde bald kalbern und der Störmetzger war am Samstag gekommen. Das Fleisch musste rasch verarbeitet werden. Ein Teil würde in der Räucherkammer landen, der Rest in der Gefriertruhe.

    Noch steht der Schlussgang aus. Noch ist der Muni nicht im Stall. Vreni spuckt den Kaugummi in die rechte Hand, rollt ihn und wirft ihn achtlos zwischen den Holzverstrebungen auf den Boden. Heiri lacht und schaut ihr amüsiert zu, während Vreni ihn nicht zu beachten scheint. Erst als er sich abwendet, atmet sie erleichtert aus. Sie mag es nicht, wenn Heiri sentimental wird und sie beobachtet. Sie benimmt sich dann immer so, als würde sie ihn nicht bemerken.

    Es ist Anfang März und überhaupt noch nicht die Zeit, um als Schwinger im Sägemehl zu stehen. Aber Mäni wäre nicht Mäni, wenn er diesen Termin nicht mit Absicht gewählt hätte. Genau sechs Monate später würde das Eidgenössische stattfinden. „Die Frühform ist entscheidend. Wer im März nicht fit ist, kann im September keinen Kranz gewinnen", hat Mäni gesagt. Es ist noch nicht lange her. Es war vor einer Woche in der Besenbeiz von Vreni. Sie haben knusprige Rösti mit einer rääsen Scheibe Emmentaler gegessen und auf den Tisch geklopft, weil sie noch nie gesehen hatten, wie ein Rösti fliegt. Vreni fand das gar nicht lustig. Sie baute sich vor ihnen auf wie ein Cowgirl, das jederzeit seinen Colt ziehen würde. Wie kleine Buben assen sie anschliessend die Rösti auf. Solche Rösti serviert Vreni auf einer grossen Platte. Jeder Gast kriegt einen Löffel, aber keinen eigenen Teller. Als Beilage gibt es dünne Scheiben des rääsen Emmentalers, Schinken, Spiegeleier und Rettiche.

    Vorderlaub Ärnstli hat sich im Schulhaus noch einige Scheiben mageren Specks auf einem Vollkornbrot genehmigt. Er kaut den Speck mit Bedacht. Das Fett gibt den Kräutern eine besondere Note. Er beobachtet Heiri: seinen Gegner im Schlussgang. Er sitzt wie ein Schüler auf der Bank und starrt wie benommen auf seinen kleinen Bildschirm. Ein riesiger Kopfhörer schirmt ihn von der Aussenwelt ab. Heiri bewegt sich unkontrolliert, wie Ärnstli findet. Vielleicht hatte er Schiss. Vielleicht war die Zeit gekommen, die Eiche endgültig zu fällen.

    In fünf Minuten würden sie im Sägemehl stehen. Wer gewinnt, sollte den Muni kriegen. Wer verlor, würde um einige Ränge zurückrutschen, aber immerhin noch einen Kranz und einen Tombolapreis erhalten. Irgendetwas, das ein Schwinger ohnehin nicht gebrauchen konnte.

    Heiri furzt. Und er furzt laut. Ärnstli, einen Kopf kleiner, aber breiter als die meisten Schwinger, fährt sich durch sein hellblondes Kraushaar und steht auf. Er atmet tief ein und lässt, als er an Heiri vorbeigeht, ebenfalls einen kräftigen Furz los. Dann marschiert er weiter. Er lacht und zieht sich ein neues weisses T-Shirt an. Es riecht frisch. Er geniesst den frischen Duft und wünscht Heiri gleichzeitig ins nächste Gülleloch.

    Später verschwindet Ärnstli im Klo, pisst stehend und zieht die Klobrille nicht hoch. Einige kleine Tropfen bleiben darauf liegen. Ärnstli wünscht sich, dass Heiri sich auf gerade diese Klobrille setzen würde. So wie der furzte, würde er vor dem Schlussgang noch kacken müssen.

    Noch immer auf dem Klo, holt Ärnstli eine kleine Dose mit Milchfett hervor. Genüsslich reibt er seine Arme damit ein. Heiri sollte ihn nicht so leicht zu fassen kriegen. Ärnstli schmiert lange und genüsslich und vergisst auch den Nacken nicht. Als er die Klotür hinter sich schliesst, wäscht er die Hände so lange, bis das Fett weg ist. Er atmet tief ein und geht durch die Garderobe, wo Heiri immer noch wie benommen vor seinem Bildschirm sitzt, und betritt das Freie. Der Geruch von frischer Schweinsbratwurst und gebrannten Zwiebelringen erfasst wie die Trophäen eines verfrühten Sieges seine Geschmacksnerven. Besser kann es vor einem Kampf nicht riechen, denkt Ärnstli und steigt als Erster in den Ring. Als Heiri seine Hose packt, furzt er, und Ärnstli atmet alte Kacke ein, die erbärmlich stinkt. „Saukerl, raunt er. „Scheiss doch in die Hose, wenn du Angst hast!

    Heiri reisst an seinem Gegner und kontert dessen Attacken geschickt. Er hält das Gleichgewicht, obwohl Ärnstli permanent seine Schienbeine traktiert. Ärnstli hat Stahlkappen in seine Schuhe eingebaut. Heiris Beine schmerzen höllisch. Nach drei Minuten wird Heiri alles zu bunt und er holt zu einem speziellen Schwung aus. Wie ein Wahnsinniger reisst er seinen eigenen Körper und damit Ärnstli mit sich auf den Boden. Sekundenbruchteile bevor Heiri aufschlägt, rollt er sich zur Seite, sodass beide auf der linken Schulter im Sägemehl aufschlagen. Blitzartig legt Heiri sein Gewicht auf Ärnstlis rechte Schulter und drückt ihn heftig zu Boden. Der Schreckensschrei auf den Tribünen geht über in ungebremstes Gejohle. Die Angst, dass sich Heiri selbst auf den Rücken gelegt haben könnte, weicht der Freude über einen Sieg. Ein besonders kühner Wurf. Ein besonders grosses Risiko, das Heiri auf sich genommen hat. So kennen die Emmentaler ihren Heiri. Ärnstli ging das alles zu schnell. Er liegt wie benommen da, während Heiri schon wieder steht, einen Riesensprung macht und die Arme hochreisst.

    Der Knall ist bis Reihe 16 zu hören, wo Vreni bereits aufgestanden ist und sich Richtung Muni aufmacht. Für Ärnstli endet der Schlussgang voreilig in einem Notfallwagen. Mathys, der Fahrer des Krankenwagens, kann nicht länger darauf warten, endlich einen der ungeliebten Willisauer abzutransportieren, und fährt rassig vor. Sägemehl wirbelt auf und die Menge staunt. Am liebsten würde sie klatschen. Aber das geziemt sich nicht. Selbst jetzt nicht, wo doch endlich einer dieser Luzerner standesgemäss im Krankenwagen abtransportiert werden kann.

    Sonntags fährt Mathys nie. Ausser am Schwingfest. Sollte tatsächlich einmal ein Emmentaler, was bis jetzt – Gott sei Dank! – nie vorgekommen ist, Hilfe benötigen, sollte er die beste erhalten, die man sich nur denken kann. Jedes Mal aber, wenn Heiri einen dieser blöden Luzerner etwas zu hart anfasst; ihm einen Finger bricht, eine Schulter auskugelt oder eine Rippe bricht, ist dies gleichbedeutend wie ein Gefühl des Triumphs, wenn der verletzte Luzerner abtransportiert wirdn. Es ist ein Gefühl, als habe Mathys selbst einen Kranz gewonnen. Luzerner waren Trophäen. Nie war es schöner, als Samariter im Einsatz zu stehen, als  wenn einer dieser Rahmkäse-Produzenten auf dem Schragen landete.

    Mathys mag Luzerner nicht. Gäbe es sie nicht, wäre das Emmental grösser und würde bis zu den Alpen reichen, gewiss aber bis zu den Seen, die Mathys mag und die er den Luzernern nicht gönnt. Historisch betrachtet gab es letztlich keinen stichhaltigen Grund, warum sein geliebter Kanton Bern nicht auch noch diesen Zipfel, am besten bis zu den Massiven des Gotthards einverleibt hätte.

    Wie auch immer. Ärnstli sieht ziemlich benommen aus und Mathys rennt. Möge er bloss nicht aufstehen und ruhig liegen bleiben...!

    „Den Luzerner schaffe ich nach Willisau. Bei uns will ich den nicht haben", sagt er als Erstes zu einem Sanitäter, der sich über Ärnstli beugt.

    „Das würde dir so passen, du Scheisskerl", japst Ärnstli und schaufelt sich den Sanitäter vom Leib, indem er mit den Armen wild rudert. Dann steht er auf. Mathys steht benommen da und blickt konsterniert. Wie ungerecht die Welt doch sein konnte. Er würde mit Heiri ein ernstes Wort reden müssen und ihn auffordern, das nächste Mal etwas härter anzupacken..

    Ärnstli wankt, als er den Ring verlässt, aber er fällt nicht. Er geht auf Heiri zu. Er hält seine Arme wie einen riesigen Fächer in die Luft und klopft ihm das Sägemehl vom Rücken. Die Menge tobt. So etwas hat das Emmental noch nie erlebt. Der Tote steht auf und klopft als Erstes dem Gegner den Rücken ab.

    Wenig später versinkt Ärnstli auf einem Stuhl. Die Schulter schmerzt. Ein Arzt aus Willisau muss sie wieder einrenken. Ein Finger ist geschwollen. Die Unterlippe geplatzt. Der linke Fuss ist so taub wie ein Ohr nach einem Rockkonzert. Dabei hat Ärnstli mit

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