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Die Nacht der Grillen: Kriminalroman
Die Nacht der Grillen: Kriminalroman
Die Nacht der Grillen: Kriminalroman
eBook424 Seiten5 Stunden

Die Nacht der Grillen: Kriminalroman

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Über dieses E-Book

Im Zentrum der Geschichte steht der frühpensionierte Kriminalkommissar Alex Menton, der zur Lösung einer rätselhaften Mordserie in seinem Ruhestand in einem andalusischen Fischerdorf reaktiviert und zurück an den Rhein gelockt wird. Bei der schwierigen Recherchearbeit trifft Menton mit seinem Team auf Neid, Missgunst, und schwere Intrigen. Was als scheinbar einfacher "Mordfall Metzger" begann, entwickelt sich schliesslich zu einem komplexen Drama von tiefer, psychologischer Bedeutung.
SpracheDeutsch
HerausgeberEdition RELEGE
Erscheinungsdatum25. Sept. 2014
ISBN9783958490376
Die Nacht der Grillen: Kriminalroman

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    Buchvorschau

    Die Nacht der Grillen - Arturo Buzzetti

     Aruro Buzzetti

    Die Nacht der Grillen

    Impressum

    1. Auflage November 2008

    © 2008 by Arturo Buzzetti, Basel

    Umschlaggestaltung und Satz: Rolf Doebelin

    Kontakt

    Edition Relege, Basel

    Mail  buzzetti@gmx.ch

    Internet  www.buzzettiart.ch

    Bevor er starb, sagte er noch:

     »Ich schäme mich, ein Mensch zu sein.«

     VORWORT

    Der Grillenkampf ist eine traditionelle chinesische Tiersportart. Schon seit fast 2000 Jahren werden Grillenkämpfe ausgetragen und wurden zum chinesischen Nationalsport. Es ranken sich viele Geschichten um diese Leidenschaft. So soll es einen Kaiser gegeben haben, der eine Grille gegen eines seiner besten Pferde eintauschte. Als die Kaiserin sich das Tier ansehen wollte, wurde es von einem Hahn gefressen. Darüber war die Kaiserin so besorgt, dass sie Selbstmord beging. Als der Kaiser von ihrem Schicksal erfuhr, beging auch er Selbstmord.

    Auch heute noch ist der Grillenkampf, nicht nur in China, weit verbreitet. Es gibt überall Märkte, auf denen Grillen und Zubehör für Pflege und Haltung der Tiere verkauft werden.

    Beim Kampf stehen sich zwei männliche Grillen gegenüber und boxen mit den Vorderbeinen aufeinander los, bestrebt, den Gegner aus dem Gleichgewicht zu bringen. Sobald eines der beiden Tiere auf dem Rücken liegt, ist der Kampf zu Ende. Der Verlierer erkennt dann seine Niederlage an und trollt sich, während der Sieger einen lauten Gesang anstimmt.

    Die Passion für das »Grillenspiel«, wie es im Chinesischen wörtlich heisst, durchdringt die Gesellschaft quer durch alle Schichten. Es ist ein klassenloses Vergnügen, für das sich der Kaiser ebenso begeisterte, wie die einfachen Leute.

    In Lima fangen die Strassenkinder ihre männlichen Grillen selbst und veranstalten jedes Jahr am 28. Juli, dem Tag der Unabhängigkeit von Spanien im Jahr 1821, ein grosses Turnier mit Grillenkämpfen. Das ist ihre Art, den Nationalfeiertag zu feiern. Gerraldo „Lima" Cortes hat das Turnier schon drei Mal gewonnen.

    Und damit beginnt unsere Geschichte. 

    PROLOG

    Antonio Lugar Y Feche de Namiento sitzt wie jeden Tag vor seinem kleinen Haus in einem heruntergekommenen Aussenquartier von Lima und bohrt in seiner Nase.

    Auf jeden Fall war es einmal ein Haus. Der Mörtel der Fassade ist morsch und im Laufe der letzten Jahre fast bis auf die Grundmauern abgebröckelt. Aus den Ritzen spriessen Unkraut und wilde Mauerblumen. Die elektrischen Leitungen baumeln wie Spaghetti, mit Klebebändern umwickelt, vom Giebel herunter. In riesigen Buchstaben hat jemand das Wort „Asesino" auf die Fassade geschmiert.

    Es ist Sonntag. Die Gassen dieser Gegend sind menschenleer. Der Strassenbelag ist aufgerissen und der Müll liegt übelriechend herum. Es ist dreckig. Nur ein paar ausgehungerte Hunde streunen umher. Die brütende Mittagssonne, die sich über Lima ausgebreitet hat, ist fast unerträglich. Seit die Regierung diesen Stadtteil systematisch aushungert, um neuen Projekten Platz zu machen, sind nur noch ein paar Familien und ihre Anhängsel geblieben – die Ärmsten der Armen. Ausgestossene. Menschen, die man einfach nicht mehr will.

    Die Leitungen sind verstopft und die letzten Bewohner holen das Wasser schon längst aus dem abgelegenen Brunnen. Das Essen erbetteln sich die Kinder in den Hotelküchen der Touristenhotels im blühenden Zentrum von Lima.

    Aber auch Gesindel hat sich hier niedergelassen. Sie haben ihr Kartonschachtelzuhause aufgegeben und sich in einer der verlassenen Hütten eingenistet. Es stinkt penetrant.

    »El Viejo«, wie ihn alle liebevoll nennen, stört das nicht. Er sitzt gebückt und ruhig auf seinem alten Holzschemel und erzählt wie immer seine Geschichten. Von seinen adeligen Vorfahren. Von der Vertreibung durch Aufständische. Von seiner Mutter. Von Liebe, Leid und Eifersucht. Von seiner verstorbenen Frau und vom Schicksal seiner zwei Kinder, die bei einem Busunfall in den Bergen von Peru ums Leben gekommen sind. Aber auch Anekdoten von seinen vielen Abenteuern mit temperamentvollen Prostituierten.

    Während des Sprechens verzieht sich sein altes, gegerbtes Ledergesicht fast clownhaft nur auf einer Seite. Dabei sieht man auch den letzten verbliebenen Zahn mit einer Goldfüllung blinken. Seine grossen Ohren wackeln bei jedem Wort. Sein linker Arm fällt kraftlos herunter. Den rechten stützt er auf einen Stock, auf dem seine Initialen und das Familienwappen eingeritzt sind.

    »El Viejo« hatte vor vielen Jahren einen leichten Schlaganfall und sich so weit erholt, dass er ohne Hilfe jeden Tag wenigstens auf seinem Stuhl sitzen kann.

    Niemand hört ihm zu.

    Die Erinnerungen an damals sind ihm geblieben, aber das Jetzt hat in seinem Kopf keinen Platz mehr. Er sitzt einfach da, palavert vor sich hin und hütet wie seit 38 Jahren seine kleine »tienda«. Traurig kleben noch ein paar vergilbte Buchstaben am Schaufenster. Früher hat er für die ganze Gegend das köstlichste Fladenbrot gebacken. Er bot das frischeste Fleisch und die besten Würste an und auch sein Gemüse, das er nur direkt vom Bauern bezog, wussten seine Kunden zu schätzen. Antonio Lugar Y Feche de Namiento war ein geachteter Mann.

    Jetzt sind die Regale fast leer und nur noch ein paar Haushaltsartikel liegen verloren und verstaubt auf den Holzgestellen herum. Der Laden ist dunkel und mieft. Die Seele hat sich schon lange davon geschlichen. Für »El Viejo« aber bleibt der Laden sein ganzer Stolz und er sieht ihn immer noch so, wie er einmal war. Als kulturellen Mittelpunkt der ganzen Gegend.

    Heute ist ein besonderer Tag: »Fiestas Patrias«. Seit dem 28. Juli 1821, als Peru seine Unabhängigkeit von Spanien erklärte, feiert das Land diesen Nationalfeiertag mit Zeremonien und Festlichkeiten. Jede Stadt und jedes Dorf hat seine eigenen Traditionen wie Stierkämpfe, Sportanlässe und andere Feste. Die stärksten Attraktionen sind jedoch die Militärparaden. Die wichtigste und grösste marschiert die Hauptstrasse Limas entlang.

    Nur in der Gegend, wo »El Viejo« wohnt, interessiert sich niemand dafür. Heute kommen hier aus allen Teilen Limas Gruppen von Strassenkindern zusammen und messen sich im Grillenkampf. Das ist ihr Tag der Unabhängigkeit. Die Kämpfe finden am Abend auf dem Platz vor einer abgebrannten Baumwollfabrik statt.

    »El Viejo« hat nicht bemerkt, dass sich eine Anzahl von Kindern an ihm vorbei geschlichen und im Hof hinter dem Laden unter einem Zitronenbaum versammelt hat.

    Es sind sechs Buben und ein Mädchen im Alter zwischen sieben und elf Jahren. Sie haben alle etwas gemeinsam. Sie tragen dreckige Leibchen und zerrissene Hosen. Ihre Hände sind schmutzig und die Haare ungepflegt. Ihre Gesichter sind gezeichnet vom seelischen Schmerz und vom gelegentlichen »Schnüffeln«. Ihre Eltern kümmern sich schon lange nicht mehr um sie. Sie halten sich über Wasser, indem sie in der Stadt Müll einsammeln, Schuhe putzen, stehlen oder sich sogar perversen Touristen hingeben. Sie sind die vergessenen Kinder von Lima.

    Nur ein zehnjähriger, grossgewachsener Junge fällt aus dem Rahmen. Sein schwarzes Haar ist gekämmt, seine Kleider sauber und das Gesicht strotzt vor Selbstsicherheit. Die Glut in den Augen verrät, dass er sich mit seinem Schicksal nicht zufrieden gibt und ehrgeizige Pläne für die Zukunft geschmiedet hat.

    Routiniert wickelt er ein langes schwarzes Haar des Mädchens um seinen Zeigefinger. Juanita wartet mit gespieltem, verzerrtem Gesicht und heruntergezogenen Mundwinkeln auf den kleinen Schmerz. Sie ist es gewohnt und weiss, dass es gleich ein wenig ziepen wird, aber die anderen sollen sehen, wie tapfer sie ist. Mit einem Ruck reisst er das Haar von ihrem Kopf. Alle lachen. Mit grosser Geschicklichkeit schlingt der Junge einen Knoten um eine lebendige Ameise und zieht ihn so zusammen, dass das Tierchen noch am Leben bleibt. Zappelnd hängt die Ameise nun am unteren Ende des Haares. Geschickt lässt er sie in ein kleines Erdloch gleiten. Nach vielen Versuchen hat sie endlich angebissen.

    Eine männliche ausgewachsene Grille.

    Wie auf Knopfdruck sind alle plötzlich fröhlich und frei von ihren Sorgen. Sie jubeln. Jetzt sind sie Kinder. Ihre Herzen haben sich geöffnet und ihr Fest kann beginnen.

    Der grosse Junge hat ihnen versprochen, dass sie heute gewinnen werden.

    Sein Name ist Gerraldo »Lima« Cortes.

    EINS

    28 Jahre später . . .

    Nachdem er seinen Mercedes 500 geparkt hatte, hetzte er durch den strömenden Regen in Richtung seiner Wohnung am Rhein. Es waren nur etwa 300 Meter, aber es genügte, um aus einem Fotomodelltypen einen bedauernswerten Clochard zu machen.

    Kein Mensch würde unter diesen Umständen freiwillig aus dem Haus gehen, dachte Liam Cortes und ärgerte sich über seine schwachsinnige Entscheidung. Der Wind und der Regen peitschten abgerissene Blätter zu tänzerischen Höchstleistungen über die Strasse, und Abfalleimer kotzten ihren stinkenden Inhalt auf den glänzenden Asphalt. Die Geräusche erinnerten an die Musik von Stockhausen. Eine Symphonie für klopfende Fensterläden und vibrierende Stromleitungen, unterlegt mit gierenden Scharnieren und heulenden Hunden. Vereinzelt sah man ein paar Schatten vorbeihuschen. Klatschnass und mit drei Einkaufstaschen, die jeden Moment auseinander fallen konnten, hatte Liam Cortes den gedeckten Eingang seines Hauses erreicht. Seine blauschwarzen Haare klebten an seinem Gesicht und das Regenwasser lief ihm unter dem blaugestreiften Versacehemd bis zu seinem Waschbrettbauch hinunter.

    »Madame Zimmermann! Madame Zimmermann!«

    Obwohl Liam Cortes genau wusste, dass seine Putzfrau aus dem benachbarten Elsass schon lange weg sein sollte, rief er aus Gewohnheit immer ihren Namen, bevor er seine Wohnung betrat.

    Einmal war er hastig nach Hause gekommen, hatte sich rasch entkleidet und sich mit angestauten geilen Phantasien wie ein pubertierender Jüngling auf seinem grossen Bett im Schlafzimmer befriedigt.

    Ob Frau Zimmermann, die unverhofft aus dem Badezimmer gekommen kam, genau gesehen hatte, was er tat, blieb bis heute ihr Geheimnis. Sie hatte nur gesagt: »Monsieur Liam, iisch bin eute später gekommen, weil die Ottomobil kaputt gegangen is.«

    Nachdem er sich der nassen Kleider entledigt hatte, zog er seinen seidenen weissen Lieblingskimono mit den goldenen Initialen «LC» an, zündete sich ganz zeremoniell eine Havanna an und liess sich erschöpft auf den ledernen Millerstuhl fallen.

    Die Wohnung befand sich im dritten Stock in einem Haus aus dem 16. Jahrhundert.

    Mit Blick auf den Rhein zog Liam genüsslich an seiner Zigarre und liess den Rauch verführerisch durch seinen wohlgeformten Mund gleiten.

    Dösend nahm er durch das Fenster die verschwommenen Konturen des Basler Münsters auf der anderen Seite des Rheins wahr.

    Es war Dienstag, 17.30 Uhr.

    Wie ein Schweizer Uhrwerk und mit der Disziplin eines Spitzensportlers begann Liam Cortes genau um 18.00 Uhr mit seinen Übungen, um seinen gestählten Körper in Form zu halten. Wie schon um 8.00 Uhr morgens absolvierte er ein speziell auf ihn abgestimmtes Fitnessprogramm. Nackt und mit dem unwiderstehlichen Drang, sich dabei im Wandspiegel zu bewundern, machte er sein Übungsprogramm.

    Lockerungen, Kniebeugen, Liegestützen, Schattenboxen und zum Abschluss 15 Minuten auf dem modernen computergesteuerten Laufband ackern. Liam hatte mit der Zeit langsam das Programm so gesteigert, dass er am Schluss ein Leiden erlebte, das ihm immer mehr Freude bereitete. Seine Haut glänzte wie poliertes Edelholz und der süssliche Schweiss rann ihm über den ganzen Körper. Zärtlich strich er über das Tattoo auf seinem linken Oberarm. Es zeigte ein verziertes Kreuz, das von einer feinen Hand umschlungen wurde. Das Kreuz erinnerte ihn wie ein Albtraum an seine traurige Kindheit in Lima. Liam Cortes war jetzt 38 Jahre alt.

    Sein Vater, ein sadistischer Ex-Nazi, wurde während der damaligen Unruhen in Peru von einem Demonstranten hinterrücks erschossen. Das war einer seiner glücklichsten Tage. Liam war damals sieben Jahre alt und von diesem Tag an wurde er jedes Jahr um drei Jahre älter.

    Seine Mutter, eine überforderte, kränkliche Peruanerin, war zu schwach, um ihm und seinem älteren Bruder den nötigen Rückhalt in dieser gewalttätigen Welt zu geben. Jahrelang wurde Liam, der damals noch Gerraldo hiess, von gewalttätigen Kriminellen und rücksichtslosen Geschäftemachern ausgenutzt. Seine äussere charmante Schale überdeckte die innere Leere und das aussichtslose Suchen nach dem Licht am Ende des Tunnels. So war es, bis er im Alter von 14 Jahren während der Naturkatastrophe in Peru einen Mann getroffen hatte, der seinem Leben von einem Tag zum anderen eine neue Perspektive gab.

    Auf dem Weg zum Badezimmer bemerkte Liam Cortes, dass der Telefonbeantworter drei Nachrichten anzeigte.

    »Liam, ich habe mit Doktor Walliser geredet und den Termin am nächsten Freitag um 10.15 Uhr bestätigen lassen. Bitte ruf mich an, wegen morgen Mittag. Bis bald.«

    »Danke!«, murmelte er vor sich hin. Seine Magenschmerzen plagten ihn schon seit geraumer Zeit und Simone, seine Sekretärin, hatte ihn zu dieser Untersuchung gedrängt.

    »Wenn ich mein Geld nicht bis nächste Woche bekomme, werde ich die ganze Sache dem Staatsanwalt übergeben!«, hörte er auf der Zwei.

    Das war keine ernst zu nehmende Drohung. Eher ein verzweifelter Hilfeschrei, dachte Liam Cortes. Diesen Unterschied hatte er in seiner langjährigen Tätigkeit als Finanzexperte oft erkannt. Und doch beunruhigte ihn irgendetwas in dieser Stimme.

    Geld? Und was wollte er der Staatsanwaltschaft übergeben? Wer war dieser Typ mit dem offensichtlichen Akzent eines Italieners?

    Ein leichtes Schaudern überfiel ihn. Immer noch nackt, drückte er abermals den Knopf am Beantworter.

    »21.00 Uhr!« Man hörte noch ein leichtes Klicken und schon hatte der dritte Anrufer aufgelegt.

    Liam Cortes wurde leichenblass und konnte sich gerade noch an der antiken Truhe festhalten. Die goldene Standuhr und die grazile Früchteschale aus Meissenporzellan zitterten leicht. Also doch, dachte er und setzte sich behutsam auf den fragilen Biedermeierstuhl daneben.

    Du musst das durchstehen. Nur keine Schwächen zeigen. Dies ist der letzte Akt. Liam, du kannst es ... Du bist der Beste. Liam Cortes stand, immer noch beduselt, langsam auf. Schon viele Male hatte er sich mit diesen Worten motiviert und nachdem er sich mit einer Xanax das Selbstbewusstsein zurückgeholt hatte, sich wieder an seine Stärken erinnert.

    Das leichte Zittern seiner linken Hand nahm Liam Cortes nicht wahr. Noch bevor er die gläserne Duschkabine mit den acht Düsen betrat, hatte er seinen löffelartig geschnittenen Nagel am kleinen Finger mit einer Prise des weissen Pulvers gefüllt und dieses durch die geröteten Nasenlöcher reingezogen. In seiner Euphorie genoss Liam Cortes die warmen Wasserstrahlen, die von allen Seiten seinen eingeseiften Körper verwöhnten. Ein verfängliches Glücksgefühl erregte ihn. 21.00 Uhr, dachte Liam Cortes, nun schon viel ruhiger.

    »Nun gut. Es ist das letzte Mal.«, flüsterte er vor sich hin.

    Abgetrocknet und mit einer feinen Feuchtigkeitscrème überzogen, ging Liam Cortes zum Schlafzimmerbett.

    Wie immer unternahm er vor dem Anziehen auf dem beigen Bisamfell eine peinlich genaue Auslegeordnung. Alles musste stimmen und es war für ihn ein Genuss, die ausgesuchten Kleidungsstücke und Accessoires wie ein Kunstwerk zu begutachten.

    Schuhe von Cumber & Mathys, Seidensocken von Riccardo, Hose und Cashmerejacke von Kiton, Krawatte von Andy Stutz, Hemd von Versace, Uhr von Lange und Söhne, Goldkette von Bulgari, Notenklammer und Brieftasche von Louis Vuitton, Ring von Cartier und ... ein neues farbiges Glücksbringerbändchen aus gezwirnter Baumwolle, das, um das Handgelenk geknotet, ewig halten sollte.

    Schon als Kind hatte Liam Cortes solche einfachen fröhlichen Bändchen getragen, aber bereits nach kurzer Zeit waren sie durchgeschunden abgefallen. Er legte eine CD mit einem Klavierkonzert von Mendelssohn in die Bang & OlufsenAnlage. Dann ging er ins Badezimmer, um sich zu rasieren.

    Langsam und lautlos öffnete sich die Wohnungstür und ein fast unsichtbarer Schatten huschte hinein.

    Liam Cortes war gerade dabei, sein fein geschnittenes Gesicht mit Rasiercrème einzureiben, als er im Spiegel den metallischen Glanz bemerkte.

    Doch es war schon zu spät.

    Ein gezielter harter Schlag spaltete seinen Hinterkopf und blockierte nullkommaplötzlich all seine Nerven. Wie ein Baum fiel Liam Cortes auf den crèmefarbenen Marmorboden. Die Augen blickten starr und sein Gesichtsausdruck blieb stehen.

    Das Licht seines jungen Lebens ging einfach aus. Es wurde dunkel.

    ZWEI

    Wie ein verschmitzter Junge klebt Alex Menton seine aus gedrückte Zigarette mit einem weichen Stück Brot auf die Tischplatte aus poliertem Nussbaumholz.

    »Jetzt sieht der Tisch aus wie eine Installation des Schwei zer Künstlers Daniel Spoerry«, scherzt Alex im Ernst, und alle lachen, aber keiner weiss natürlich, wovon Alex redet.

    Sie würden jetzt auch lachen, wenn ich ihnen sagen würde, dass das Haus hinter ihnen abbrennt, denkt Alex und versucht, seinen Gästen zu erklären, wer Spoerry ist. Doch nach der Fressorgie mit viel Rotwein und unzähligen Sherry aus Jerez scheint jeder Versuch zwecklos zu sein.

    Der Tisch ist tatsächlich ein Kunstwerk. Besäuselt fragt sich Alex, ob er die benutzten Teller, Gläser, Gabeln und Messer, die Fischreste, die Gambaschalen, den eingetrockneten Safranreis, die überfüllten Aschenbecher, die herumliegenden Brotkrümel und all die anderen Überbleibsel eines üppigen Geburtstagsessens ankleben und die ganze Tischplatte im Wohnzimmer aufhängen soll. Es bleibt bei der Idee. Karin und Saskia sind die ersten, die Alex noch einmal gratulieren und sich dann französisch verabschieden. Pepe und Maria Morales geniessen das letzte Stück Erdbeertorte. Diego versucht noch einmal lallend, eine Episode mit seiner just geschiedenen Frau zu erzählen und Stefan, der deutsche Bäcker, singt zum xten Mal Guantanamera. Nur Clara, seine Haushälterin, macht eine ernste Miene. Ihr Mann ist schon vor dem Dessert eingeschlafen und darüber ärgert sie sich schon seit über 30 Jahren. Doch dass sie mit vollem Bauch und all dem Wein im Kopf das ganze Chaos aufräumen soll, ärgert sie noch viel mehr.

    Alex steht überraschend auf.

    »Meine lieben Freunde, ihr habt mir heute eine grosse Freude bereitet, doch jetzt jage ich euch alle zum Teufel!«, Clara will gerade etwas sagen, aber Alex schneidet ihr das Wort ab.

    »Und dir, liebe Clara, möchte ich speziell danken. Du hast mir in den letzten drei Jahren mehr gegeben, als ich in den vorangegangenen 52 bekommen habe. Ich liebe euch alle und freue mich, dass ihr mir so ein schönes Geburtstagsfest beschert habt. Aber jetzt ist Siestazeit und aufgeräumt wird erst später.«

    Clara unterdrückt ein paar Tränen, und langsam löst sich die angeheiterte Gesellschaft auf.

    Glücklich und zufrieden über die gelungene Geburtstagsparty im Garten seines Hauses an der Costa del Sol überkommt Alex eine wohlige Müdigkeit. Er nimmt sein Buch und geht durch den Garten zu seinem Lieblingsplatz. Es ist eine alte Hängematte, die er zwischen zwei Pinienbäumen aufgehängt hat. Seit über 23 Jahren hat ihn dieses mit den Jahren abgenutzte Netz aus handgewobenen farbigen Baumwollfäden begleitet. Es hat ihm auch in hektischen Zeiten eine Ruhe vermittelt, die ihm kein noch so mit Superlativen angebotenes Bett bieten konnte. Aufgeschwatzt auf dem Markt von Tijuana hat ihm die Hamaca, wie die Mexikaner sie nennen, eine gewisse Teresa Vargas. Mit ihr erlebte er danach eine heisse Affäre und so ist es nicht verwunderlich, dass er noch immer die Leidenschaft, das Feuer und die Hingabe spürt, die er damals in dieser Hamaca empfunden hatte.

    Am Ast daneben hat Alex ein selbst konstruiertes Gestell angeschraubt, das es ihm ermöglicht, mit einem kleinen Schwung Bier, Nüsschen und Schleckereien zu erreichen. Darauf ist er besonders stolz.

    Diese Momente kompensieren alles Schlimme, Abgründige und Böse, das er als Kriminalkommissar in Basel erlebt und gesehen hat. Auch seine privaten Probleme kümmern ihn im Moment wenig. Es ist die Zeit, in der Uhren stehen bleiben und Glück seinen Namen verdient. Das Dämmern in eine heile und zufriedene Welt lässt ihn alle seine Sorgen vergessen.

    Mit halbgeschlossenen Lidern kann Alex gerade noch beobachten, wie am Strand ein hilfloses Kind nach seiner Mutter schreit und Leute offenbar darüber diskutieren, wie man ein solch zartes Geschöpf allein lassen kann. Ein Hund bellt, eine Amsel zwitschert und eine leichte Brise vom Meer her ersetzt den verrosteten Ventilator.

    Dann versinkt er in einen tiefen, festen Schlaf.

    Es ist nun fast drei Jahre her, seit sich Alex Menton nach seiner Demissionierung im spanischen Andalusien niedergelassen hat. Dass er gerade hierher gekommen ist, war reiner Zufall.

    Vielleicht wegen Picasso, der hier geboren wurde, seiner Vorliebe zum spanischen Rioja oder der unterdrückten Sehnsucht nach einer Teresa Vargas. Sein Instinkt hat ihm offensichtlich diesen Weg vorgegeben. Dieser Instinkt war es auch, der ihm bei der Aufklärung vieler Verbrechen geholfen hat.

    Warum sollte ich diesmal falsch liegen, hat er sich in seinen zwanghaften Selbstgesprächen immer wieder gefragt. Viele seiner ehemaligen Kollegen hielten ihn für arrogant, weil er immer wieder von seiner Nase sprach, die ihm sagte, dies wäre der richtige oder der falsche Weg. Er hatte nicht immer Recht. Ab und zu lag er leider daneben. Statistisch gesehen aber überwog die Nase bei weitem. Dass einige seiner karrieregeilen Kollegen ihm daraus einen Strick binden wollten, war ihm egal. Die nach oben buckelnden und nach unten tretenden Typen hat es immer gegeben. Damals, also vor drei Jahren, wunderten sich die Feinde und freuten sich die wenigen Freunde, als sie erfuhren, dass Alex mit Sack und Pack gen Süden verreist war.

    »Malaga, buenos dias«, waren die ersten spanischen Worte, mit denen er vom Schaffner in seinem Schlafwagenabteil vor Malaga geweckt wurde.

    »Buenos dias«, antwortete Alex Menton phonetisch. Ausser Paella, Vino tinto und ein paar Zerquetschten sprach er kein Wort Spanisch. Aber die vielen pantomimischen Gesten wie Pfeffer, Trinken, Essen, Bezahlen oder Zahnstocher usw. würden ihn vorderhand über Wasser halten. Schon im Bus nach Cabopino, einem kleinen Fischerdorf vor Marbella, konnte er sich mit Händen und Füssen weiter helfen. Ein Segler, den er flüchtig kannte, hatte ihm den kleinen Ort an der Costa del Sol wärmstens empfohlen. Noch ein paar Kilometer und Alex war am Ziel seines neuen Lebensabschnittes.

    Nachdem Alex in der kleinen Tapasbar vis-à-vis der Bushaltestelle per Handzeichen einige dieser spanischen Köstlichkeiten bestellt und mit Cerveza statt Birra wieder ein spanisches Wort gelernt hatte, fühlte er sich erschöpft, aber zufrieden.

    Verflogen waren die Spannungen der letzten Monate. Hoff nung machte sich breit und mit einem verschmitzten Lächeln stiess er mit sich selbst an und wünschte sich eine wunderbare Zukunft.

    Das Haus in den Dünen konnte er von Pepe Morales, einem hier bekannten Künstler, mieten. Maria, seine Frau, eine kleine pummelige Zigeunerin mit pechschwarzem Haar und mit einem ernsten Temperament, hatte es ihm gezeigt. Es war offensichtlich baufällig und heruntergekommen. Trotzdem lobte sie die Einmaligkeit, den Charme und die Lage des Hauses in einem Kauderwelschdeutsch, das man fast nicht verstehen konnte. Obwohl alles dem Zweck diente, den Preis in die Höhe zu treiben, stimmte er zu und bezahlte ihr die 3.900 Euro für die ersten drei Monate im Voraus. Er bereute es nie. Obwohl Maria den Preis vorgeschlagen hatte, blieb sie mürrisch, und Charme war offensichtlich ein Fremdwort für sie.

    Da sie ihn nur nach dem Namen gefragt hatte, war anzu nehmen, dass das Geld an der Steuer vorbei geschummelt wurde. Chemisch aufgelöst würde man das in der Szene nennen.

    Das erste, was Alex auffiel, war der Swimmingpool. Er war mit dicken Brettern abgedeckt und wurde offensichtlich nur noch als Flamencotanzfläche benutzt. An den Bäumen sah man noch die Eisenflanschen für die Scheinwerfer.

    Das Haus war spärlich eingerichtet und an den Wänden blitzten nur die leeren, hellen Flächen der abgehängten Bilder von Pepe Morales. Dass gerade die nicht sichtbaren Bilder seine Phantasie beflügelten, wunderte ihn. Dieses Gefühl erweckte seine Neugier auf den Maler. Was für ein Mensch war dieser Pepe Morales?

    Da er mehr und mehr mit der Renovierung des Hauses beschäftigt war, konnte Alex Menton die Gedanken an die zwei ungelösten schrecklichen Morde in Basel leichter verdrängen. Im Internet hatte er sich immer wieder informiert, konnte aber das Gefühl nicht loswerden, dass wieder einmal geschlampt wurde.

    Sein neues Leben brachte in ihm Talente und Empfin dungen zutage, die er nie in sich vermutet hätte. Einerseits hatte er viel Freude daran, das Haus zu renovieren und andererseits genoss er eine Freiheit, die ihm bis anhin fremd war.

    Wie ein Besessener hatte Alex das Buch »Mit 400 Wör tern spanisch lernen« auswendig gelernt. Sich stundenlang Hör-CDs angehört, nur um sich an den Sound der Sprache zu gewöhnen. Hatte Filme angeschaut, die er bis heute nicht verstand und zwischendurch hatte er mit Teresa Vargas als visionärer Gesprächspartnerin Konversation getrieben.

    Da Alex in der Zwischenzeit aber das Nötigste an Spanisch gelernt hat, vermag er nun auch einer Diskussion mit Pepe Morales einigermassen standzuhalten.

    Pepe Morales ist ein liebenswürdiger, quirliger Spanier aus Cadiz. Mit Bäuchlein, aber für seine 66 Jahre quicklebendig. Seine grauen wilden Haare und der weisse Bart vermitteln den Eindruck eines vitalen, kreativen Menschen. Seine wallenden Kleider trägt Pepe in einer Farbe, die eigentlich gar keine ist. Schwarz. Nur in seinen dunklen Augen entdeckt Alex manchmal etwas Unerklärliches. Ein grüner Seidenschal lockert das dunkle Outfit farbig auf.

    Meistens trinken sie Wein, rauchen, und manchmal, wenn Alex wieder einmal nicht verstanden hat, was Pepe gesagt hat, muss er zur Strafe einen Sherry aus Jerez trinken. Einmal war er so betrunken, dass er aus Versehen vor Freude in den »Swimmingpool« sprang und sich dabei so am Kopf verletzte, dass man ihn ins Spital einliefern musste.

    Die Bretter muss ich einmal wegnehmen, nimmt er sich jedes Mal vor, wenn er wieder einmal Kopfschmerzen hat.

    Pepe Morales ist ihm langsam ans Herz gewachsen und er ihm offenbar auch. So entwickelte sich mit der Zeit eine echte Männerfreundschaft, wie er sie zu Hause nie erfahren konnte.

    »Was hast du eigentlich in Basel beruflich gemacht?«, fragt Pepe immer wieder.

    »Ich werde es dir ein andermal erzählen«, lautet stets die knappe Antwort von Alex.

    Oft streiten sie über Stierkämpfe und Tierschützer, über Drogen und Alkohol, über Philosophen und Scharlatane, über Picasso und Pepe Morales, über Weiber und Geilheit und meistens lachen sie am Schluss über alte Witze . . .

    Nur über Zigeuner reden sie nie.

    Engumschlungen liegt Alex mit Teresa Vargas am schneeweissen Sandstrand auf einer der kleinen Inseln der Malediven. Die untergehende Sonne spiegelt sich tiefrot im glasklaren blauen Wasser. Die Cocktails auf dem Teakholztischchen sind längst warm geworden. Ihre weichen Lippen umkreisen zart seine Brustwarzen und seine Hand berührt die harten Knospen ihrer prallen Brüste. Ihre langen schwarzen Haare streicheln bei jeder Bewegung seinen gebräunten Oberkörper. Langsam öffnet Teresa das Tor der Begierde. Mit erregtem Verlangen massiert Alex ihre Backen mit beiden Händen und gefühlvoll streichelt Theresa seinen vibrierenden Schwanz mit ihren zarten Händen und flüstert ihm vulgäre Wünsche in die Ohren. Lustvoll verlangt er nach mehr.

    »Señor Menton!«

    »Señor Menton!«

    Mit geziegerten Augenliedern und einem eingeschlafenen Bein schreckt Alex verärgert aus seiner Traumwelt auf. Die Hängematte wippt noch immer, als er endlich seinen Gärtner erkennt, der mit dem mobilen Telefon aufgeregt vor seinem Gesicht herum fuchtelt.

    »Señor Menton, dieser Mensch hat schon viermal angerufen und mich gezwungen, Sie zu verbinden.«

    »Was für ein Mensch?«, fragt Alex barsch.

    »Un hombre de mierda.«

    »Menton.«

    »Alex, ich bin‘s. Ich gratuliere dir zu deinem Geburtstag und wünsche dir alles Gute und vor allem weiterhin gute Gesundheit.« Natürlich hat Menton seinen alten Kollegen Henning König sofort erkannt, aber so eine Süssholzraspelei hat er von ihm noch nie gehört.

    »Was ist denn das für ein Name „Ich bin’s"?«, knurrt Alex.

    »Alex, mach jetzt keine blöden Sprüche! – Hier spricht Henning König. Der neue Chef vom Kriminalkommissariat Basel –.« Sein Stolz ist nicht zu überhören.

    »Was?«

    »Ja mein Lieber, wir haben es endlich geschafft!«

    »Ich gratuliere dir auch, aber was heisst schon „mein Lieber und „Wir? Wir haben über sechs Monate lang kein Wort miteinander gewechselt und du

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