Dori: Inspektor Matteo ermittelt. Sein letzter Fall
Von Dietmar Wachter
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Buchvorschau
Dori - Dietmar Wachter
Mystiker
Gruselkabinett
Nach über drei Jahrzehnten Polizeidienst hatte sich auch der alte Tiroler Kriminalinspektor Matteo Steininger das Prädikat „abgebrüht verdient, und es gab wohl nur wenig Spektakuläres, Sonderbares oder Trauriges, was ihm in seiner Karriere bisher noch nicht untergekommen wäre. Er hatte mit Erhängten, Geräderten, Erstochenen, Vergifteten, Erschossenen und Verwesten zu tun, ein wahres Gruselkabinett an morbiden Erinnerungen schlummerte tief in seiner Seele. Doch als er sich an einem schwülen Sommertag des Jahres 2013 ins kühle Kellerarchiv zurückzog, um ein wenig auszuruhen und die leeren Akkus aufzuladen, stach ihm eine vergilbte Zeitung ins Auge, die in einer kaputten Schublade lag, die windschief in einem noch desolateren Schrank steckte. Er blätterte die Tageszeitung durch und las, dass der pazifische Inselstaat Tuvalu in die Vereinten Nationen aufgenommen und ein Korrespondent aus Tadschikistan in seiner Wohnung mit einer Axt erschlagen worden war. Auch erfuhr er, dass in Argentinien Wrackteile eines seit 1947 verschwundenen Flugzeugs gefunden worden waren. Matteo blickte auf das Erscheinungsdatum und konnte nur September 2000 entziffern; Mäuse und Ratten hatten ganze Arbeit geleistet. Steininger verzog sich auf das Klosett und blätterte weiter. Zwischen einem Felssturz in Schwaz, einem Kochrezept für Tiroler Knödel, dem Tageshoroskop und dem Almabtrieb im hintersten Ötztal fiel dem alten Haudegen ein schockierender Artikel auf, der in einer winzig kleinen Spalte unter Internationale Meldungen zu lesen war. Ein Straßenmusikant aus dem Osten habe auf deutschen Jahrmärkten seine kleine Tochter Männern überlassen und je nach Dauer des Vergnügens kräftig abkassiert. Steininger empfand beim Abrollen des Klosettpapiers tiefste Verachtung für den Kerl. „Ich scheiß’ auf solch‘ kaputte Typen
, schimpfte Matteo vor sich hin, als er sich den Hintern putzte. Er warf die Tageszeitung ins Altpapier und befasste sich wieder mit dem einzigen Fall, der derzeit auf seinem Schreibtisch lag – ein leidiger Akt, dem die nötige Reife fehlte und der daher noch immer auf seine Erledigung wartete.
Ein belgischer Tourist hatte sich nicht nur vom Geläut der Landsteiner Kirchenglocken gestört gefühlt, sondern auch vom Gockel des benachbarten Bauern, der ihn täglich frühmorgens aus den Federn gekräht hatte.
Kurzerhand hatte der Belgier eine Hacke zur Hand genommen und versucht, dem Hahn die Rübe abzuschlagen. Der hatte sich heftig gewehrt und war dem Urlauber mit seinem Schnabel und den scharfen Zehen ins Gesicht gefahren. An dieser Stelle war der Bauer Karl Hofmeister ins Spiel gekommen, der gerade die Kühe gemolken und seinen Kostgänger jämmerlich schreien gehört hatte! Er war zum Hühnerstall geeilt, wo das ländliche Spektakel seine Fortsetzung gefunden und in eine handfeste Rauferei mit dem renitenten Urlaubsgast gemündet hatte. Summa summarum: In aller Herrgottsfrüh ein Riesenauflauf in der Landsteiner Pampa, Rettung und Notarzt waren zum Stadtrand geeilt, um die Wunden des Belgiers zu versorgen.
Steininger blieb nichts anderes übrig, als gegen seinen Freund Karl zu ermitteln. Der Akt langweilte ihn zutiefst, und er warf ihn in die Schublade, als ihn die Kopfhaut zu jucken begann. Als er später unter den Händen seiner Leibfriseuse Trude Reisenhofer saß und sich den Haarboden mit feinsten Kräutershampoons massieren ließ, diskutierte er mit ihr über das schlimme Verbrechen an dem hilflosen Mädchen, über das er heute gelesen hatte. Die kinderlose Trude ging mit diesem Thema allerdings recht locker um und sah solche Ferkeleien allgegenwärtig.
„Matteo, schlag die Zeitungen auf und sag mir, was in unserer verrückten Welt noch normal sein soll?", philosophierte sie und erwähnte eine Gruppe von Männern und Frauen, die in Frankreich ein psychisch labiles Mädchen als Sklavin gefangen gehalten und sexuell schwer misshandelt hatten. Oder eine Schülerin in Philadelphia, die ihre Mutter vergiftet hatte, weil ihr von dieser das Handy abgenommen worden war. Oder einen jungen Herrn aus Bolivien, der mit dem abgetrennten Kopf seiner Mutter spazieren gegangen war. Trude schien sehr belesen zu sein, und Matteo legte mit der Geschichte des jungen Chinesen das Trumpfass nach; dieser hatte seine Eltern ermordet, deren Leichen zerstückelt, gesalzt, gekocht und seinen Freunden mit Reis und Sojasauce serviert hatte. Das Herz hatte er in der Kühltruhe aufbewahrt, das würde er wohl demnächst mit Zwiebeln, Majoran und Lorbeerblättern auftischen?
„Weniger Theater machte ein junger Österreicher, der seinen Freund erschoss und gemeinsam mit seinem Großvater die Leiche verscharrte", warf die rothaarige Apothekersgattin Reinhilde von Hornauer ein, die neben Steininger unter der Haube saß.
„Matteo, du kannst jede Zeitung aufschlagen, die hier herumliegt. Überall die gleichen Schreckensmeldungen. In Bayern verschwindet am helllichten Tag ein fünfjähriges Mädchen spurlos von einem Spielplatz, in Oberösterreich fesselt eine Prostituierte ihren Freier an einen Heizkörper und fackelt die Wohnung ab, in Italien hält ein Mann eine junge Frau monatelang in seiner Wohnung gefangen und missbraucht sie, und in Südafrika vergewaltigen und töten zwei junge Männer eine fast neunzigjährige Nonne!", legte Reinhilde noch ein paar üble Geschichten aus dem Tagesgeschehen nach.
„Du hast völlig recht, von diesen schrecklichen Dingen und Sexualdelikten liest man schon fast jeden Tag!", warf die Gemeindesekretärin Erika Schaumburger ein, die Dame mit der weißen Leber, die gerade an der Kasse für die Maniküre bezahlte.
Trude stutzte Steininger noch den Ohrenbart und erzählte von abscheulichen Übergriffen in Internaten und Erziehungsheimen, und Matteo war sich nicht mehr ganz sicher, ob er dem Straßenmusiker im friedlichen Salon der Trude Reisenhofer nicht an Ort und Stelle den Kragen umgedreht hätte, wäre er bei der Tür hereinspaziert. Nur gut, dass Matteo zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, dass er in den letzten zwei Jahren seiner Polizeikarriere noch tief in diesen Fall hineingezogen werden würde.
Viel tiefer, als ihm lieb sein sollte.
Der Fisch zappelt
Ein zartes Mädchen mit rabenschwarzen Haaren liegt im Sommer 2001 regungslos am Strand eines kleinen Badeorts am Gardasee. Beine und Unterleib treiben im seichten Wasser, die dünnen, feinen Arme umklammern verkrampft den glitschigen Holzpflock eines Bootsstegs. Möwen und Enten zanken um Brot, das ihnen zwei voll tätowierte junge Damen brockenweise ins Wasser werfen. Passanten stehen ratlos herum, braun gebrannte Frauen mit Badetüchern unter dem Arm, Kinder mit Schwimmreifen und Väter, Opas und Omas, vollbepackt mit Zeitschriften, Kühltaschen und Sonnenschirmen.
„Ist sie tot?", fragt ein dicker, älterer Kerl mit Glatze und protzigen Goldketten am Hals, der auf einer Bank sitzt, an der Rolle seiner Angelrute dreht und gemächlich den Köder einholt.
„Nein, eher nicht! Sehen Sie nicht, das Mädchen atmet noch und bewegt ab und zu seine kleinen Finger. Sicher ein Zigeunerkind, ein Sprössling dieser lästigen Landfahrer aus dem Osten, die bei uns hausieren und ihren Müll auf unseren Campingplätzen zurücklassen. Stinkende Roma, die unsere Gäste belästigen, sie bestehlen und mitunter ausrauben! Lass sie liegen, die Göre, die findet schon wieder zu ihrer Sippe, wenn sie ausgenüchtert ist", lästert die dicke Alte mit dem adretten Sonnenhut, bevor sie an ihrer Eistüte weiterknabbert. Sie gehen einfach weiter. Der Angler freut sich über einen Cavedano, der im Kescher zappelt, und summt vergnügt eine Arie aus Verdis Don Carlo. Niemand beachtet das Mädchen und sieht die blauen Flecken auf seinem zierlichen Körper. Keinem fallen die frischen Wunden im Gesicht und das Blut auf seinem bunten Kleid auf. Später kriecht es durch den feinen Sand hinauf zur Seepromenade, rappelt sich auf und schleppt sich an einer Steinmauer entlang zu einem großen Eisentor, das zu einer Villa führt. Ein Hund kläfft im Nachbarsgarten, und sein Kopf hämmert wie verrückt. Verschwommen nimmt es im üppig bewachsenen Garten Zitronen- und Olivenbäume wahr, Oleander, Zypressen und Agaven. Es verkriecht sich wie eine waidwunde Kreatur zwischen Hecken, Mandelbäumen und duftenden Rosenstöcken.
Das Mädchen legt sich auf den warmen, weichen Boden und ballt seine Fäuste. Es verzerrt sein Gesicht, sein Körper zuckt und spielt verrückt. Überall schmerzt es. Nur den Unterleib spürt es nicht mehr. Irgendwann fällt es in leichten Schlaf und träumt vom Schutzengel und von den liebenswerten Menschen in seiner Heimat Rumänien. Es sieht Onkel Florin mit dem markanten Schnurrbart, Frack und Zylinder, der in der Manege versucht, zwei niedlichen Schimpansen in Matrosenanzügen das Schreiben beizubringen. Dann die Wagen der Fahrenden mit der bunten Welt der Schausteller, Dompteure, Messerwerfer, Kunstreiter und Zauberer. Der bizarre Kosmos des Außergewöhnlichen mit all seinen Schlangenmenschen, Frauen mit Schwanenhälsen und Männern, die vor dem staunenden Publikum eine Glühbirne im Mund zum Leuchten bringen. Zuletzt sieht es einen Clown, der neben Onkel Florin im Zirkuszelt steht und ihm freundlich zuwinkt. Der Vorhang fällt, die Scheinwerfer gehen aus, und es wird dunkel. Finsternis.
Der Stärkere gewinnt
Ich bin Dori und fünf Jahre alt. Meine Freunde nennen mich Do, weil das einfacher ist. Manche sagen auch Dorne oder Dobermann zu mir. Je nachdem, wie ich gerade aufgelegt bin. Meistens bin ich recht nett, manchmal aber auch grantig oder kratzig, und mitunter kann ich auch ziemlich bissig sein. Je nachdem. Ich bin zwar noch klein, beiße mit meinen Zähnchen aber auch gern zu, wenn es bedrohlich für mich wird. In unserer kleinen Karpatenstadt verbringen wir Kinder den ganzen Tag auf der Straße und spielen mit allen möglichen Utensilien, denn Kinderkram gibt es bei uns keinen. Deshalb erfinden wir jeden Tag neue Spiele, meistens auf der steinigen Straße, im tiefen Morast oder auf dem feuchten Erdboden. Meistens spielen wir mit Seilen, Holzstücken, Brettern, Ziegeln, Steinen und allem, was wir sonst noch finden. Natürlich wird auch viel gerauft und gezankt, und dabei sind wir nicht gerade zimperlich. Keiner von uns ist zart besaitet, wir lernen von klein auf, uns zu behaupten und durchzusetzen. „Der Stärkere gewinnt", sagt mein Papa Gabor immer.
Meine drei Brüder und vier Schwestern sind älter als ich, und dabei ist unsere Mama Mala noch sehr jung. Ihre Kinder hat sie in Schuppen oder Scheunen zur Welt gebracht. Dabei ist sie immer ganz alleine. Als Unterlage genügt ihr ein alter Teppich oder ein Bündel alter Fetzen. Meinen Bruder Stevo hat sie im Wald hinter einem Gebüsch geboren, und Catalin ist im Keller eines Rohbaus zur Welt gekommen. Meine Mama hat eine gute Natur und ist meistens schon am Tag nach der Geburt wieder auf den Beinen. Papa gönnt ihr keine Ruhe und will, dass sie ihrer gewohnten Arbeit nachgeht. Mit acht Kindern wird sie in unserem Dorf sehr respektiert, das letzte Wort hat aber immer unser Vater Gabor. Mama wäscht ihm die Füße, und auf der Straße läuft sie immer ein paar Schritte hinter ihm. Meine Eltern sind sich kaum vertraut, sind nie zärtlich zueinander, küssen einander nie und pflegen einen eher groben Umgang. Mama erträgt seine Prügel mit Demut und empfindet jeden Schlag als Zeichen seiner tiefen Zuneigung. Manchmal gehen meine großen Brüder dazwischen, wenn er gar zu heftig wütet und sie mit nassen Windeln schlägt. Einmal hat er Mama der Untreue bezichtigt, sie hätte es mit unserem Nachbarn Istvan getrieben. Alle lachten darüber, denn Istvan ist ein Invalide mit nur einem Bein, der den ganzen Tag säuft und auf der Matratze herumlungert. Papa prügelte sie trotzdem, und Onkel Aleksandar schnitt ihr zur Strafe die pechschwarzen Haare vom Kopf. Das war im Sommer 1994.
Einen solchen Tag vergisst man nicht. Ich war damals fünf Jahre alt. Mama kann weder lesen noch schreiben, und ihr fehlt jegliches Gefühl für Raum und Zeit. Sie besitzt keine Uhr und orientiert sich am Schlagen der Turmuhr. Unsere Geburtsdaten weiß sie nicht genau, nur das Jahr. Ungefähr. Immer noch besser als meine Tante Ceija, die nie sagen kann, wie viele Kinder sie überhaupt geboren hat. Jedenfalls kenne ich die Frauen unserer trostlosen Siedlung nur stillend, mit einem Kind am Arm und einigen am Rockzipfel. Sie gehören zu unserem Straßenbild wie der milchig trübe Fluss, in dem wir unsere Kleider waschen.
Rübe ab
Papa ist nur selten daheim. Er ist unser Boss und mein ganz persönlicher König. Wir sehen ihn fast nie, denn er ist Landfahrer. Oft ist er mit unseren Verwandten unterwegs, und ich habe keine Ahnung, wie viele es davon eigentlich gibt. Siebzig? Zweihundert? Auch Mama hat keine Ahnung, wie viele das sein könnten. Manchmal kommen einige von ihnen zu Besuch, bringen Spanferkel, Wein, Schnaps und lebende Hühner. Catalin hackt ihnen die Rübe ab, und Mama rupft die Federn. Dann gibt es ein Fest, bei dem sich alle die Bäuche vollschlagen.
Wir Kinder haben es recht gut. Anstatt uns mit Büchern zu langweilen oder uns gar rechnen oder schreiben beizubringen, lauschen wir den Erzählungen unserer Ahnen. Unsere Familiengeschichten haben lange Tradition, und die Märchen und Heldensagen werden stets in unserer bildhaften Sprache erzählt. Nur für uns, für unseren Clan, für meine Sippe. Und keine der vielen Legenden wirst du je in einem Geschichtenbuch finden! Oft gehen wir Mädchen zusammen mit unseren Müttern in die größeren Städte, um zu betteln oder wahrzusagen. Die Frauen bringen uns Tricks bei, wie man sich demütig und untertänig gibt, um barmherzigen Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen. „Wenig, aber das oft, macht auch eine Menge", sagt Papa Gabor immer.
Noch bin ich klein, und ich habe viele Freiheiten, weil ich die Jüngste in der Familie bin. Meine älteren Schwestern müssen schon ordentlich anpacken und Mama im Haushalt helfen, die kleinen Geschwister versorgen, einkaufen und kochen. Das Leben in unserer halb verfallenen Hütte an der staubigen Landstraße am Rand der Stadt ist beschwerlich. Zwischen uns und den wohlhabenden Bewohnern haben sie vor Jahren eine hohe Betonmauer errichtet, die unser Elend im Zaum hält. Unsere baufällige Rumpelkammer besteht aus Holzlatten, Kartons, Planen und Lehm. Auf das Dach hat Papa Bleche genagelt, die uns halbwegs vor Regen und Schnee schützen. Wenn es durchtropft, stellt Mama einfach einen Kübel unter. Mit unseren nächsten Nachbarn teilen wir einen einzigen Wasserhahn. Strom oder Gas sind bei uns unbekannt. Auch Toiletten gibt es keine, und wir verrichten die Notdurft im Freien. Die gewaschenen Kleider hängen wir in der kalten Jahreszeit in unsere schimmelige Hütte. Röcke und Blusen werden nie ganz trocken, und wir müssen oft feuchte Wäsche anziehen. Dadurch werden wir krank, bekommen Husten und Erkältungen, was wir dank unserer robusten Natur aber immer recht gut überstehen. Wir Mädchen schlafen zu dritt auf einer feuchten und muffigen Matratze, weil eine von uns ständig ins Bett macht.
„Ein Heiliger schläft nicht in weichen Betten", sagt mein Papa immer. Vor unserem windschiefen Häuschen steht eine Sommerliege mit zerrissenem Leinenstoff, auf der Papa oft seinen Rausch ausschläft. Auf der Erde liegen schmutzige Decken, leere Schnapsflaschen, löchrige Kochtöpfe, rostige Tierfallen und ein demolierter Kohleofen. Katzen streunen herum, manchmal stöbern abgemagerte, räudige Hunde im Schlamm nach Fleischresten oder Hühnerknochen.
Roter Stern Belgrad
Seit letzter Woche ist es besonders lustig. Mein Opa Janos hat den vielen Kindern unserer Siedlung aus alten Elektrokabeln eine Schaukel gebastelt, auf der wir uns wie Tarzan über den Boden schwingen. Wer auslässt, schneidet sich die Hände auf. Das ist eine amüsante Sache, und wer mit blutigen Tatzen nach Hause läuft, hat verloren. Dadurch werden wir zu richtigen Überlebenskünstlern. Mittendrin spielt mein Bruder Catalin Fußball. Natürlich barfuß, denn wir besitzen keine Schuhe. Er ist sehr mager, und auf seinen dürren Knochen trägt er ein Leibchen von Roter Stern Belgrad, das ihm Papa auf seiner letzten Fahrt organisiert hat. Er ist sehr stolz darauf. Unsere Erwachsenen halten nichts von Sport und bewegen sich alle recht gemächlich und langsam. Ein Besucher mag den Eindruck gewinnen, dass deren Leben in Zeitlupe abläuft.
Manchen Familien geht es noch schlechter als uns. Onkel Gitano lebt mit seiner Sippe unter der Autobahnbrücke, und zwei seiner fünf Kinder haben ihren ersten Geburtstag nicht erlebt. Er rühmt sich, ein direkter Nachfahre mittelalterlicher Vagabunden zu sein, die sich einst dem Sterndeuten, Handlesen und Wahrsagen verschrieben hatten.
In unserem Dorf gibt es keine Schule, und Papa duldet nicht, wenn er mich mit Papier und Buntstiften am Tisch sitzen sieht. Ich male und zeichne nämlich gern. Manchmal nehme ich mir rote Ziegelbrocken mit nach Hause und zeichne auf Sperrholzplatten. Papa will das nicht und erwartet von uns, dass wir dort anzupacken, wo wir gebraucht werden. Für Bildung hat er rein gar nichts übrig, und er ist stolz, als Zigeuner geboren zu sein.
„Der Wolf stirbt in der Haut, in der er geboren wurde", heißt es. Meinem ältesten Bruder Stevo bringt Papa das Kupfer- und Kesselschmieden bei, und Papa ist ein weit-um geachteter Meister seines Fachs. Er ist ein Künstler aus dem einfachen Volk, der hauptsächlich für die arme Bevölkerung arbeitet und nie die Gelegenheit gehabt hat, Herrenhäuser, Kirchen oder gar Paläste mit seinen Kunsthandwerken auszustatten. Mit primitiven Mitteln zaubert er aus Kupfer kleine Weihwasserkessel, verzinnt Vasen und Eimer und flickt alte Töpfe. Auch mit Zigeunergold weiß er gut umzugehen und fertigt Messingpfannen, die in unserer Region sehr begehrt sind. Oft zieht er von Dorf zu Dorf, breitet auf den Dorfplätzen seine Werkzeuge aus und flickt alles, was die Bewohner anschleppen – darunter Küchengeräte, Rollstühle und Beinprothesen! Auf den Jahrmärkten verkauft er mit seinen Söhnen Waren aller Art und bringt ab und zu ein bisschen Geld nach Hause. Oder einen Sack Kartoffel oder Kohl.
Vater schärft meinen Brüdern immer wieder ein, sich ja nichts gefallen zu lassen. Als meinem Bruder Stevo unter der Nase der erste schwarze Flaum zu sprießen begann, schenkte ihm