Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Die prophezeite Königin
Die prophezeite Königin
Die prophezeite Königin
eBook823 Seiten18 Stunden

Die prophezeite Königin

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Unter der Herrschaft eines unrechtmäßigen Königs leidet das Reich von Skala unter Hungersnot, Seuchen und Krieg. Nun aber ist die Zeit des rechtmäßigen Thronerben und der Rückkehr zur Tradition der Kriegerköniginnen gekommen. Eine uralte Prophezeiung soll sich endlich erfüllen: Solange eine Tochter königlichen Geblüts das Reich verteidigt und regiert, wird Skala niemals unterjocht werden. Durch ein mystisches Feuer offenbart sich unter der Hülle von Prinz Tobin Prinzessin Tamír, ein Mädchen an der Schwelle zur Frau - eine Königin, die nach einem Leben hinter einer Maske und unter dem Schutz von Zauberern und Hexen bereit ist, ihr Geburtsrecht einzufordern. Aber werden ihr Volk, ihre Armee und die Freunde, die zu täuschen sie gezwungen war, sie akzeptieren? Schlimmer noch, wird sich der zweite Thronanwärter, ein Freund von Tobin, Tamír gegenüber zum Feind wandeln und einen gnadenlosen Bürgerkrieg um Skala entfachen?

SpracheDeutsch
HerausgebereFantasy
Erscheinungsdatum30. Okt. 2011
ISBN9783902607584
Die prophezeite Königin
Autor

Lynn Flewelling

Lynn Flewelling was born in Presque Isle, Maine, in 1958. She has had a variety of jobs including, house painter, sales clerk, teacher, and copy writer. Among her favourite writers and influences are: Tom Stoppard, Mary Renault, Umberto Eco, Stephen King, Peter Straub, Ray Bradbury, and Anne Rice. Lynn Flewelling currently lives in western New York, with her husband Doug.

Mehr von Lynn Flewelling lesen

Ähnlich wie Die prophezeite Königin

Ähnliche E-Books

Fantasy für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Die prophezeite Königin

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Die prophezeite Königin - Lynn Flewelling

    Zuallererst gilt mein Dank Dr. Doug, meiner wichtigsten Muse und meinem besten Freund. Ferner Pat York, Anne Groell, Lucienne Diver, Matthew und Timothy Flewelling, Nancy Jeffers, Dr. Meghan Cope und Bonnie Blanch für ihre hilfreichen Rückmeldungen und ihre Geduld, und all meinen Leserinnen und Lesern, die mir im Verlauf der Jahre so großartigen Rückhalt gewährt haben.

    Das skalanische Jahr

    I. Wintersonnenwende

    Nacht der Trauer und Fest des Sakor. Gedenken der längsten Nacht und Feier der bevorstehenden, länger werdenden Tage.

    1. Sarisin: Kalben

    2. Dostin: Pflege von Hecken und Gräben. Aussaat von Erbsen und Bohnen für Rinderfutter.

    3. Klesin: Aussaat von Hafer, Weizen, Gerste (zum Mälzen), Roggen. Beginn der Fischfangzeit. Das Befahren offener Gewässer wird wieder aufgenommen.

    II. Tagundnachtgleiche

    Fest der Blumen in Mycena. Vorbereitungen zum Pflanzen, Feier der Fruchtbarkeit.

    4. Lithion: Butter- und Käseherstellung (vorzugsweise aus Schafsmilch). Aussaat von Hanf und Flachs.

    5. Nythin: Pflügen von Brachland.

    6. Gorathin: Unkraut jäten auf Getreidefeldern. Schafe werden gewaschen und geschoren.

    III. Sommersonnenwende

    7. Shemin: Monatsbeginn – Heu wird gemäht. Monatsende und Anfang Lenthin – Blütezeit der Getreideernte.

    8. Lenthin: Getreideernte.

    9. Rhythin: Ernte wird eingebracht. Felder werden gepflügt und mit Winterweizen oder -roggen bepflanzt.

    IV. Erntefest

    Ende der Erntezeit, Zeit der Dankbarkeit.

    10. Erasin: Schweine werden in die Wälder getrieben, um nach Eicheln und Bucheckern zu suchen.

    11. Kemmin: Weiteres Pflügen für den Frühling. Ochsen und andere Fleischtiere werden geschlachtet, das Fleisch wird gepökelt und geräuchert. Ende der Fischfangzeit. Stürme gestalten das Befahren offener Gewässer gefährlich.

    12. Cinrin: Innenarbeiten, einschließlich Dreschen.

    Kapitel 1

    Die kalte Brise drehte sich und blies brennenden Rauch vom Lagerfeuer des alten Teolin in Mahtis Augen. Der junge Hexer blinzelte ihn weg, harrte jedoch reglos kauernd aus, den Bärenfellmantel wie ein kleines Zelt um sich geschlungen. Es brachte Pech, während dieses letzten, entscheidenden Schrittes der Erschaffung zu zappeln.

    Der alte Hexer summte fröhlich vor sich hin, während er sein Messer wieder und wieder erhitzte, um mit der Spitze und der Schneide die Ringe der dunklen, verschlungenen Muster zu ritzen, die mittlerweile den Großteil der langen Holzröhre bedeckten. Teolin war steinalt. Seine runzlige, braune Haut, durch die sich die Knochen abzeichneten, umhüllte sein dürres Gerippe wie ein altes Tuch. Die Hexenmale in seinem Gesicht und an seinem Körper waren schwierig zu lesen, weil die Verheerungen der Zeit sie verzerrt hatten. Das Haar hing ihm in einem lichten Gewirr gelblicher Strähnen auf die Schultern. Etliche Jahre des Erschaffens hatten seinen klobigen, knorrigen Finger schwarze Flecken beschert, doch sie waren so geschickt wie eh und je.

    Mahtis letzter Oo’lu war in einer kalten Nacht im vergangenen Mittwinter gesprungen, nachdem er die Gallensteine eines Greises hinfortgespielt hatte. Es hatte einer monatelangen Suche bedurft, den richtigen Bildiast zu finden, um einen neuen herzustellen. Bildibäume waren nicht selten, allerdings brauchte man den Stamm eines Jungbaumes oder einen großen, von Ameisen ausgehöhlten Ast, zudem der richtigen Größe, um einen guten Klang zu erzielen. ›Hoch bis zum Kinn und vier Finger breit.‹ So war es ihm beigebracht worden, und so war es auch.

    Er hatte reichlich mangelhafte Äste in den Hügeln um sein Dorf gefunden: knorrige, gesprungene, andere, in deren Seiten Löcher genagt waren. Die großen, schwarzen Ameisen, die dem durch das Kernholz aufsteigenden Saft folgten, waren emsige, jedoch ungeschickte Handwerker.

    Letztlich hatte er einen entdeckt und seinen Hornstab daraus geschnitten. Aber es brachte Unglück, wenn ein Hexer sein eigenes Instrument anfertigte, auch wenn er die Begabung dafür besaß. Man muss es sich verdienen und aus der Hand eines anderen erhalten. Also hatte er sich den Ast über den Bärenfellmantel auf den Rücken geschnallt und war mit Schneeschuhen drei Tage und Nächte gewandert, um ihn zu Teolin zu bringen.

    Der greise Mann galt als der beste Oo’lu-Hersteller in den östlichen Hügeln. Seit drei Generationen suchten ihn Hexer auf, und er wies mehr ab, als er annahm.

    Es dauerte Wochen, einen Oo’lu anzufertigen. Während dieser Zeit bestand Mahtis Aufgabe darin, Holz zu hacken, Essen zu kochen und sich allgemein nützlich zu machen, während Teolin arbeitete.

    Zunächst schabte Teolin die Rinde ab und verwendete glühende Kohlen, um die letzten Überreste der Ameisen herauszubrennen. Als der Stab vollständig ausgehöhlt war, begab er sich außer Hörweite, um den Klang zu prüfen. Zufrieden ruhten er und Mahti sich eine Woche lang aus und tauschten Zaubersprüche, während der hohle Ast zum Trocknen im Gebälk nahe dem Rauchloch in Teolins Hütte hing.

    Er trocknete, ohne sich zu verziehen oder zu springen. Teolin sägte die Enden gerade ab und rieb das Holz mit Bienenwachs ein, bis es glänzte. Danach hatten sie zwei weitere Tage auf den Vollmond gewartet.

    In dieser Nacht stand das Ausharren an.

    An jenem Nachmittag hatte Mahti den Schnee vor seiner Hütte beseitigt und ein altes Löwenfell herausgeschleift, auf das sich Teolin setzte. Er entfachte ein großes Feuer, stapelte weiteres Holz in Reichweite und kauerte sich hin, um die Flammen zu schüren.

    Teolin nahm – eingehüllt in sein von Motten zerfressenes Bärenfell – Platz und machte sich an die Arbeit. Mit einem erhitzten Eisenmesser ritzte er die magischen Ringe in das Holz. Mahti beobachtete ihn voll gespannter Aufmerksamkeit, während er das Feuer hütete, und bewunderte, wie die Muster regelrecht von der Spitze der Klinge zu fließen schienen, fast wie Tinte auf Rehleder. Er fragte sich, ob es ihm ähnlich leichtfallen würde, wenn für ihn die Zeit kam, Oo’lus für andere anzufertigen.

    Mittlerweile stand das volle, weiße Antlitz der Mutter hoch am Himmel, und Mahtis Knöchel schmerzten vom langen Kauern, aber der Oo’lu war beinah fertig.

    Als der letzte der Ringe vervollständigt war, tunkte Teolin das Mundstück in einen kleinen Topf mit Wachs, dann rollte er einen weichen Klumpen davon zu einem dünnen Strang und drückte diesen in einen Ring, der zum gewachsten Ende des Hornes hin verlief. Er spähte zu Mahti, wog die Größe des Mundstücks ab und kniff das Wachs, bis die Öffnung etwa zwei Daumenbreiten maß.

    Endlich zufrieden, bedachte er Mahti mit einem zahnlückigen Grinsen. »Bereit, den Namen dieses Stücks kennen zu lernen?«

    Mahtis Herz schlug schneller, als er die steifen Beine streckte. Sein letzter Oo’lu, der den Namen Mondpflug trug, hatte ihm sieben Jahre lang gedient. In jener Zeit war er zu einem Mann und Heiler geworden. Zu Ehren des Zeichens des Mondpflugs hatte er bei Mutter Shek’mets Festen viele stramme Kinder in die Bäuche von Frauen gepflanzt. Seine Söhne und Töchter lebten über drei Täler verteilt, und einige der ältesten zeigten bereits Hexereibegabung.

    Als Mondpflug sprang, endete dieser Abschnitt seines Lebens. Er war dreiundzwanzig Sommer alt, und seine nächste Zukunft sollte ihm gleich offenbart werden.

    Er zog sein Messer, schnitt sich die rechte Handfläche auf und hob sie über das Mundstück des Oo’lu, das Teolin hielt. Einige Tropfen seines Blutes fielen hinein, und er sang den Inbesitznahmezauber. Die schwarzen Muster der Hexenmale in seinem Gesicht, an seinen Armen und auf seiner Brust kribbelten wie Spinnenfüße. Als er die Hand in das Feuer streckte, spürte er dessen Hitze nicht. Dann richtete er sich auf, ging zur anderen Seite des Feuers und sah dem alten Mann ins Gesicht. »Ich bin bereit.«

    Teolin hielt den Oo’lu aufrecht und sang den Segen, dann warf er ihn Mahti zu.

    Er fing ihn linkisch mit der Feuerhand auf und hielt ihn ein gutes Stück unterhalb der Mitte. Selbst hohl war es ein schwerer Gegenstand. Beinah entglitt er ihm, und wäre er gefallen, hätte er ihn verbrennen und von vorne beginnen müssen. Doch es gelang ihm, den Oo’lu festzuhalten. Er biss die Zähne zusammen, bis die Hexenmale an seinen Armen vollständig unsichtbar wurden, dann ergriff er das Horn mit der linken Hand und begutachtete es. Der glänzend schwarze Abdruck seiner Feuerhand war in das Holz gebrannt.

    Teolin nahm es zurück und untersuchte sorgfältig, wie die Abdrücke von Mahtis gespreizten Fingern die eingeritzten Muster kreuzten. Er ließ sich lange Zeit dafür, summte dabei und nuckelte an seinem Zahnfleisch.

    »Was ist?«, fragte Mahti. »Ist es ein ungünstiger Abschnitt?«

    »Das ist das Zeichen für Aufenthalt, das du gemacht hast. Spuck besser dafür aus.«

    Teolin kratzte mit dem Messer einen Kreis in die Asche am Rand des Feuers. Mahti trank einen Schluck Wasser aus der Kürbisflasche und spuckte kräftig in den Kreis, dann wandte er sich rasch ab, während sich Teolin hinkauerte, um die Zeichen zu deuten.

    Der alte Mann seufzte. »Du wirst unter Fremden reisen, bis dieser Oo’lu springt. Ob das Glück oder Pech ist, weiß allein die Mutter, und ihr ist heute Nacht nicht danach zumute, es mir zu sagen. Jedenfalls ist es ein starkes Mal, das du geschaffen hast. Es wird eine weite Reise werden.«

    Mahti verbeugte sich respektvoll. Wenn Teolin es sagte, würde es so sein. Es schien am besten, sich einfach damit abzufinden. »Wann breche ich auf? Werde ich noch miterleben, wie Lhamilas Kind geboren wird?«

    Teolin nuckelte erneut an seinem Zahnfleisch und starrte auf das Spuckemuster hinab. »Geh morgen geradewegs nach Hause und breite deinen Segen auf ihren Bauch aus. Du wirst ein Zeichen erhalten. Aber jetzt lass uns hören, wie dieses Horn klingt, das ich für dich gemacht habe!«

    Mahti presste die Lippen fest in das Mundstück aus Wachs. Es war noch warm und roch nach Sommer. Er schloss die Augen, füllte die Wangen mit Luft und blies behutsam durch die leicht geöffneten Lippen.

    Aufenthalts tiefe Stimme erwachte durch seinen Atem zum Leben. Mahti blieb kaum Zeit, seine Spielweise anzupassen, bevor das volle, stete Dröhnen das Holz in seinen Händen erwärmte. Er blickte zum weißen Mond empor und sandte einen stummen Dank zur Mutter. Wie sein neues Schicksal auch aussehen mochte, er wusste bereits, dass er mit Aufenthalt große Magie wirken und alles übertreffen würde, was er mit Mondpflug vollbracht hatte.

    Als er das Inbesitznahmelied beendete, fühlte er sich schwindlig. »Es ist ein gutes Instrument!«, stieß er hervor. »Bist du bereit?«

    Der Greis nickte und humpelte zurück in die Hütte.

    Die Bezahlung hatten sie bereits an ihrem ersten gemeinsamen Tag vereinbart. Mahti zündete die mit Bärenfett gefüllte Lampe an und stellte sie neben die aufeinandergestapelten Felle der Schlafpritsche.

    Teolin streifte seinen Mantel ab und löste die Schnüre seines formlosen Kittels. Die Elch- und Bärenzähne, die ihn schmückten, klickten leise, als er ihn fallen ließ. Dann streckte er sich auf der Pritsche aus, und Mahti kniete sich hin, um die Augen über den Leib des alten Mannes wandern zu lassen. Dabei spürte er, wie in seinem Herzen mit Traurigkeit vermischtes Mitgefühl aufkeimte. Niemand wusste, wie alt Teolin war, nicht einmal der greise Hexer selbst. Die Zeit hatte den Großteil des Fleisches von seinem Gerippe gezehrt. Sein Glied, das angeblich über fünfhundert rituelle Begattungen vollbracht hatte, ruhte wie ein schrumpeliger Daumen an den unbehaarten Hoden.

    Der alte Mann lächelte freundlich. »Tu, was du kannst. Mehr verlangen weder die Mutter noch ich.«

    Mahti beugte sich vor, küsste die zerfurchte Stirn des Greises und zog das muffige Bärenfell zu Teolins Kinn hoch, um ihn warm zu halten. Dann ließ er sich neben der Pritsche nieder, legte das Ende des Horns dicht an die Seite des alten Mannes, schloss die Augen und spielte das Bannlied.

    Mit den Lippen, der Zunge und seinem Atem verwandelte er das Dröhnen in ein volltönendes, gleichmäßiges Pulsieren. Das Geräusch füllte Mahtis Kopf und Brust aus, brachte seine Knochen zum Beben. Er sammelte alle Kräfte und entsandte sie durch Aufenthalt in Teolin. Mahti konnte fühlen, wie das Lied in den Greis eindrang und die starke Seele von dem zerbrechlichen, von Schmerzen gebeutelten Leib emporhob, ihn durch das Rauchloch aufsteigen ließ. Im Licht des Vollmonds zu baden, das war äußerst heilsam für eine Seele. Sie kehrte gereinigt in den Körper zurück und verlieh ihm klaren Verstand und Gesundheit.

    Zufrieden veränderte Mahti das Lied, schürzte die Lippen, um Aufenthalt das nächtliche Krächzen eines Reihers, das kehlige Quaken eines Großvaterfrosches und den hohen, schnarrenden Chor all der kleinen Geschöpfe zu entlocken, die des Regens Geheimnisse kannten. Damit wusch er den heißen Sand aus den Gelenken des Greises und beseitigte die winzigen beißenden Geister aus seinen Eingeweiden. Dann suchte er tiefer und spürte einen Schatten in Teolins Brust auf, dem er zu einer dunklen Masse im oberen Lappen der Leber folgte. Der Tod darin schlummerte noch, eingerollt wie ein Kind im Mutterleib. Dies konnte Mahti nicht entfernen. Manchen war vorherbestimmt, den eigenen Tod mit sich herumzutragen. Teolin würde es verstehen. Vorläufig hatte er zumindest keine Schmerzen.

    Mahti ließ den Geist durch den Körper des alten Mannes wandern, linderte die alten Brüche in der rechten Ferse und im linken Arm, presste den Eiter aus der Wurzel eines gesplitterten Backenzahns, löste die Körner in der Blase und den Nieren des Greises auf. Trotz des runzligen Aussehens war Teolins Glied noch stark. Mahti spielte das Lied eines Waldbrandes in seinen Hoden. In dem alten Mann steckte genug Kraft für weitere Feste; er sollte der Mutter ruhig mit einer weiteren Generation dienen, durch die sein edles, altes Blut fließen würde.

    Zuletzt verblieben nur alte Narben, längst verheilt oder als gegeben hingenommen. Aus einer Laune heraus spielte Mahti den Ruf der weißen Eule durch Teolins lange Knochen, dann lockte er die Seele zurück – herab in das greise Fleisch.

    Als er fertig war, stellte er überrascht fest, dass rosiges Sonnenaufgangslicht durch das Rauchloch hereinschien. Er war schweißüberströmt und zitterte, zugleich jedoch von einem Hochgefühl beseelt. Mahti fuhr mit den Händen die polierte Länge des Oo’lu hinab und flüsterte: »Wir werden große Dinge vollbringen, du und ich.«

    Teolin rührte sich und schlug die Augen auf.

    »Das Eulenlied hat mir verraten, dass du einhundertundachtzig Jahre alt bist«, teilte Mahti ihm mit.

    Der Greis kicherte. »Danke. Ich hatte längst zu zählen aufgehört.« Er streckte den Arm aus und berührte den Handabdruck auf dem Oo’lu. »Ich habe für dich eine Vision empfangen, während ich schlief. Ich sah den Mond, aber es war nicht der runde Mond der Mutter, sondern eine Sichel, spitz wie ein Schlangenzahn. Ich hatte diese Vision davor erst einmal vor nicht allzu langer Zeit, damals für eine Hexe aus dem Dorf im Adlertal.«

    »Hat sie erfahren, was sie bedeutete?«

    »Das weiß ich nicht. Sie ging mit einigen Oreskiri fort. Ich habe nie etwas über ihre Rückkehr gehört. Ihr Name ist Lhel. Falls du ihr auf deinen Reisen begegnest, grüß sie von mir. Vielleicht kann sie dir die Bedeutung der Vision verraten.«

    »Danke, das werde ich tun. Aber du weißt immer noch nicht, ob mein Schicksal gut oder schlecht ist, oder?«

    »Ich bin nie auf dem Pfad des Aufenthalts gewandelt. Vermutlich hängt es davon ab, wohin die Füße dich tragen. Marschiere auf allen deinen Reisen tapfer, ehre die Mutter und vergiss nie, wer du bist. Tust du das, wirst du weiterhin ein guter Mann und ein hervorragender Hexer sein.«

    Mahti verließ die Lichtung des alten Mannes im Morgengrauen des nächsten Tages. Teolins Segen kribbelte noch auf seiner Stirn.

    Während er über den knirschenden Schnee stapfte und Aufenthalt als beruhigendes Gewicht in einer Schlinge über den Schultern trug, roch er die ersten Anzeichen des Frühlings in der morgendlichen Luft. Später, als die Sonne über den Gipfeln aufging, hörte er von den kahlen Ästen Wasser tropfen.

    Er kannte diesen Pfad gut. Das gleichmäßige Knirschen und Schaben seiner Schneeschuhe lullte ihn in einen leichten Dämmerzustand, und seine Gedanken begannen, umherzutreiben. Er fragte sich, ob er nun andere Kinder zeugen würde als unter dem Zeichen des Mondpflugs. Und wenn er so weit reisen sollte, würde er dann überhaupt Kinder zeugen?

    Es überraschte ihn nicht, als ihn die Vision ereilte. Das kam häufig in Augenblicken wie diesem vor, während er alleine durch den friedlichen Wald wanderte.

    Der gewundene Pfad wurde unter seinen Füßen zu einem Fluss; die Sehnen und das gebogene Eschenholz seiner Schneeschuhe verwandelte sich zu einem Boot, das sanft in der Strömung schaukelte. Statt des dichten Waldes befand sich auf dem fernen Ufer offenes Land, saftig grün und fruchtbar. Er wusste, dass dies das Südland sein musste, wo sein Volk einst gelebt hatte, bevor es von den Fremden und deren Oreskiri in die Hügel vertrieben worden war.

    Eine Frau stand an jenem Ufer zwischen einem großen Mann und einem Mädchen, und sie winkte Mahti zu, als kenne sie ihn. Wie er war sie eine Retha’noi, und sie war nackt. Sie besaß dunkle Haut, war klein, und ihren üppigen Leib bedeckten Hexenmale. Der Umstand, dass sie in der Vision nackt war, verriet ihm, dass sie tot war, ein Geist, der ihn mit einer Botschaft aufsuchte.

    Sei gegrüßt, mein Bruder. Ich bin Lhel.

    Mahtis Augen weiteten sich, als er den Namen erkannte. Dies war die Frau, von der Teolin gesprochen hatte – die sich mit den Südländern zu einem eigenen Aufenthalt begeben hatte. Sie lächelte ihn an, und er erwiderte das Lächeln; dies war der Wille der Mutter.

    Lhel bedeutete ihm, sich zu ihr zu gesellen, doch sein Boot wollte sich nicht bewegen.

    Er betrachtete die anderen eingehender, die bei ihr standen. Auch sie hatten schwarzes Haar, aber das des Mannes war kurz geschnitten und das des Mädchens hing lang und gewellt auf die Schultern hinab, glich nicht den krausen Locken seines Volkes. Außerdem waren die beiden größer und bleich wie Knochen. Den jungen Mann umgab eine Aura starker Magie; zweifellos ein Oreskiri, allerdings mit einem Hauch von Macht, die Mahti erkannte. Diese Hexe, Lhel, musste ihm etwas von ihrem Wissen beigebracht haben. Das empfand Mahti als beunruhigend, obwohl Teolin nicht schlecht von Lhel gesprochen hatte.

    Das Mädchen besaß keine Magie, doch Lhel deutete auf den Boden vor dessen Füßen, und Mahti sah, dass es zwei Schatten warf, einen männlichen und einen weiblichen.

    Er wusste noch nicht, was er von dieser Vision halten sollte. Bislang verriet sie ihm nur, dass die beiden Gefährten der Hexe lebendige Menschen und Südländer verkörperten. Mahti war weder verängstigt noch wütend darüber, sie hier in seinen Bergen zu sehen. Vielleicht lag es daran, wie die Hände der Hexe auf den Schultern des Mädchens ruhten und an der unverkennbaren Liebe, die aus Lhels Augen sprach. Die Hexe sah Mahti erneut an und wob ein Zeichen des Vermächtnisses. Sie übergab die beiden Fremden in seine Obhut – aber weshalb?

    Ohne nachzudenken, hob er seinen neuen Oo’lu an die Lippen und spielte ein Lied, das er nicht kannte.

    Die Vision verblasste, und rings um ihn kehrte der Waldpfad zurück. Er stand auf einer Lichtung und spielte immer noch jenes Lied. Mahti wusste nicht, wozu es diente; vielleicht war es für die Südländer. Er würde es für sie spielen, wenn sie sich begegneten, um herauszufinden, ob sie es kannten.

    Kapitel 2

    »Sein Schicksal anzunehmen,

    ist etwas völlig anderes, als es zu leben.«

    »Ich bin Tamír!«

    Ki stand im verwahrlosten Thronsaal, den der durchdringende Gestank der brennenden Stadt erfüllte, neben ihr und beobachtete, wie sich seine Freundin zu einer Frau und zur rechtmäßigen Thronerbin erklärte. Imonus, Hohepriester von Afra, hatte Ghërilains verschollene Goldtafel als Beweis mitgebracht. Sie war groß wie eine Tür, und er sah, dass sich Tamír darin widerspiegelte, gekrönt durch die uralte in die Tafel geritzte Prophezeiung:

    Solange eine Tochter der Linie des Thelátimos über das Reich herrscht und es verteidigt, wird Skala niemals unterjocht werden.

    Noch sah sie nicht wie eine Königin aus, eher wie ein zerlumptes, müdes, zu dünnes Mädchen in schlachtschmutziger Männerkleidung. Diesmal musste sie sich für die Versammelten nicht ausziehen. Doch auch so zeichneten sich die kleinen, spitzen Brüste unübersehbar durch das weite Leinenhemd ab.

    Mit einem Anflug von Schuldgefühlen wandte Ki die Augen ab. Der Gedanke daran, wie sich ihr Körper verändert hatte, verursachte ihm immer noch leichte Übelkeit.

    Iya und Arkoniel standen bei der Priesterschaft am Fuß des Podiums, nach wie vor in ihren dreckigen Gewändern. Sie hatten geholfen, die Wende der Schlacht herbeizuführen, aber mittlerweile kannte Ki auch über sie die Wahrheit. All die Lügen waren ihr Werk gewesen.

    Das Ablegen allerlei Eide und die Rituale zogen sich schier endlos hin. Ki ließ den Blick über die Menge wandern und versuchte, dieselbe Freude zu empfinden, die er ringsum sah, doch alles, woran er in diesem Augenblick denken konnte, war, wie jung und zerbrechlich und tapfer und ausgelaugt Tobin – nein Tamír – wirkte.

    Im Geiste probierte er den unvertrauten Namen erneut aus und hoffte, er würde ihn sich einprägen. Er hatte den Beweis ihres Geschlechts mit eigenen Augen gesehen, dennoch weigerten sich sein Verstand und sein Herz, es hinzunehmen.

    Ich bin bloß müde.

    War es tatsächlich erst eine Woche her, seit sie auf Befehl des Königs nach Atyion geritten waren? Eine Woche, seit er die Wahrheit über Tobin erfahren hatte, seinen liebsten Freund, seinen Herzensbruder?

    Ki blinzelte das plötzliche Brennen in seinen Augen hinfort. Sein Freund war nicht mehr Tobin – er war eine Sie. Obwohl sie unmittelbar vor ihm stand, fühlte es sich an, als sei Tobin gestorben.

    Mit einem Seitenblick spähte er zu Tharin und hoffte, dass dieser seine Schwäche nicht bemerkt hatte. Er war Ki zugleich Lehrmeister und zweiter Vater und hatte ihn geschlagen, als er in jener Nacht entlang der Straße nach Atyion in Panik geraten war. Ki hatte es verdient gehabt und war dankbar für die Zurechtweisung gewesen. Ein paar Tage später war er zusammen mit Tharin und Luchs standhaft geblieben, als sich Tobin Bruders Knochensplitter und damit die Magie der Hexe auf den Stufen von Schloss Atyion aus der Brust geschnitten hatte, woraufhin das geheimnisvolle Feuer Tobins männlichen Körper hinwegbrannte. Entsetzt hatten sie mit angesehen, wie Tobin geblutet und gelodert und dennoch irgendwie überlebt hatte. Danach hatte er verdorrtes Fleisch wie eine Schlange die verbrauchte Haut des Vorjahrs abgestreift. Zurückgeblieben war an seiner Stelle dieses blasse, hohläugige Mädchen.

    Schließlich endeten die Rituale. Tharin und die neu gebildete Leibgarde formierten sich vor ihnen. Ki hielt sich dicht an Tamírs Seite und sah, wie sie ein wenig wankte, als sie vom Podium hinabstieg. Taktvoll schob er ihre eine Hand unter den Ellbogen und stützte sie.

    Tamír zog den Arm zurück, bedachte Ki jedoch mit einem matten, verkniffenen Lächeln, um ihm zu verdeutlichen, dass dies nur an ihrem Stolz lag.

    »Dürfen wir Euch in Eure alten Gemächer geleiten, Hoheit?«, fragte Tharin. »Dort könnt Ihr Euch ausruhen, bis woanders Vorkehrungen getroffen werden können.«

    Tamír schenkte ihm einen dankbaren Blick. »Ja, gern.«

    Arkoniel wollte dem Tross folgen, doch Iya hielt ihn zurück, und Tamír drehte sich weder um, noch rief sie die beiden Zauberer.

    Verwundete übersäten die Gänge des Palastes. Die Luft stank schal nach Blut, das die in die Böden eingelassenen Fischteiche rosa färbte. Überall arbeiteten drysische Heiler, überwältigt von der schieren Zahl jener, die ihre Fertigkeiten brauchten. Traurig sah sich Tamír um, während sie voraneilten, und Ki erahnte ihre Gedanken. Diese Soldaten hatten unter Erius’ Banner gekämpft und waren für Ero gefallen. Wie viele hätten für sie gefochten? Und wie viele würden nun unter ihr dienen?

    Als sie endlich ihre alten Gemächer erreichten, sagte sie: »Tharin, bitte halt hier draußen Wache.«

    Ki zögerte, da er dachte, sie wolle auch ihn vor der Tür zurücklassen, doch sie löste seine Zweifel mit einem jähen Blick auf, und Ki folgte ihr in das verwüstete Zimmer, das einst ihr Heim gewesen war.

    Sobald sich die Tür schloss, sackte sie dagegen und stieß ein unstetes Lachen aus. »Endlich frei! Zumindest kurz.«

    Jene Stimme sandte immer noch einen Schauder durch Ki. Tobin war noch keine sechzehn Jahre und hatte seine hohe, knabenhafte Stimme noch nicht verloren. Tamír, noch heiser von der Schlacht, hörte sich genauso an. In der zunehmenden Düsternis sah sie mit ihren Kriegerzöpfen und dem langen, schwarzen Haar, das ihr nach vorne um das Gesicht fiel, sogar wie Prinz Tobin aus.

    »Tob?« Der alte Name drang ihm noch viel zu leicht von den Lippen.

    »So kannst du mich nicht mehr nennen.«

    Ki hörte einen Widerhall seiner eigenen Verwirrung in ihrem Tonfall und griff nach ihrer Hand, doch sie drängte sich an ihm vorbei und ging zum Bett.

    Nikides lag unverändert da, nach wie vor bewusstlos. Schweiß und Blut klebten ihm das rotblonde Haar an die Wangen und verkrusteten die Verbände um seine Seite, aber sein Atem ging gleichmäßig. Tamírs kleiner Page Baldus schlief eingerollt zu seinen Füßen.

    Tamír legte Nikides eine Hand auf die Stirn.

    »Wie geht es ihm?«, fragte Ki.

    »Er hat Fieber, aber er lebt.«

    »Na ja, wenigstens etwas.«

    Von den ursprünglich neunzehn Gefährten waren fünf mit Sicherheit tot, der Rest wurde vermisst, abgesehen von Nikides und zwei Knappen. Tanil könnte von Glück reden, wenn er die grausame Folter überlebte, die er durch die Plenimarer erlitten hatte. Luchs schien immer noch vorbehaltlos darauf bedacht, seinen gefallenen Herrn, Orneus, nicht zu überleben, dennoch hatte er bisher jedes Gefecht ohne einen Kratzer überstanden.

    »Ich hoffe, Lutha und Barieus sind noch am Leben«, murmelte Ki und fragte sich, wie es ihren Freunden ohne ihn erging. Er setzte sich auf den Boden und fuhr sich mit den Fingern durch das verworrene Haar. Über den Winter war es lang geworden. Die dünnen, braunen Zöpfe, die sein Gesicht umrahmten, hingen ihm bis auf die Brust. »Was denkst du, wohin hat sich Korin gewandt?«

    Tamír sank neben ihn und schüttelte den Kopf. »Ich kann immer noch nicht glauben, dass er die Stadt einfach so aufgegeben hat!«

    »Alle sagen, das war Niryns Werk.«

    »Ich weiß, aber wie konnte sich Korin von diesem Mistkerl derart umstimmen lassen? Dabei hat er ihn immer genauso wenig gemocht wie wir.«

    Ki erwiderte nichts, behielt seine verbitterten Gedanken für sich. Vom Tag ihrer ersten Begegnung an hatte Ki im königlichen Prinzen die Schwäche erkannt, und zwar genauso deutlich, wie Tamír das Gute in ihm gesehen hatte. Korins Schwäche glich einer Schliere minderer Legierung in einer ansonsten edlen Klinge und hatte ihn im Gefecht bereits zweimal verraten. Ob königlich oder nicht, Korin war ein Feigling, und das war bei einem Krieger – oder einem König – unverzeihlich.

    Tamír rückte näher, lehnte den Kopf an seine Schulter. »Was glaubst du, dass Korin und die anderen gedacht haben, als die die Neuigkeit über mich erfuhren?«

    »Ich vermute, das können uns Nik oder Tanil sagen, wenn sie aufwachen.«

    »Was würdest du an ihrer Stelle denken?«, quälte sie sich und kratzte sich etwas geronnenes Blut vom Handrücken. »Was glaubst du, wie sich das für jemanden anhören muss, der nicht dabei gewesen ist?«

    Bevor Ki etwas darauf erwidern konnte, trat Arkoniel ein, ohne anzuklopfen. Unrasiert und mit einem Arm in der Schlinge glich er eher einem Bettler denn einem Zauberer.

    Ki konnte es kaum ertragen, ihn anzusehen. Arkoniel war ihr Lehrer und Freund gewesen – zumindest hatten sie das geglaubt. Dabei hatte er sie all die Jahre belogen. Obwohl Ki mittlerweile den Grund dafür kannte, war er noch nicht sicher, ob er ihm verzeihen konnte.

    Arkoniel musste seine Gedanken oder seine Miene gelesen haben; die plötzliche Traurigkeit in seinen Augen verriet den Zauberer. »Herzog Illardi hat sein Haus als Hauptquartier angeboten. Das Anwesen besitzt starke Mauern, und in jener Gegend ist die Seuche noch nicht aufgetreten. Es ist dort sicherer für dich als hier. Die Feuer breiten sich immer noch aus.«

    »Sag ihm, dass ich sein Angebot annehme«, erwiderte Tamír, ohne aufzuschauen. »Ich will, das Nik mitkommt, und Tanil auch. Er ist in dem Lager, das wir gestern überrannt haben.«

    »Selbstverständlich.«

    »Und wir sollten aus der königlichen Bibliothek und den Archiven retten, was wir können, bevor das Feuer sie verschlingt.«

    »Dafür wird bereits Sorge getragen«, versicherte ihr Arkoniel. »Tharin hat außerdem an der Königlichen Gruft Wachen aufgestellt, aber ich fürchte, dort wurde geplündert.«

    »Anscheinend obliegt es mir andauernd, mich um die Toten zu kümmern.« Tamír erhob sich und trat auf den breiten Balkon hinaus, der die Palastgärten und die Stadt dahinter überblickte. Ki und Arkoniel folgten ihr.

    Dieser Teil des Alten Palast war von der Zerstörung draußen nahezu unberührt geblieben. Schneeglöckchen und Beete weißer Narzissen schimmerten im schwindenden Tageslicht. Jenseits der Mauern hing dichter Rauch über der Stadt, von unten durch Flammen erhellt.

    Tamír schaute zum rot getünchten Himmel auf. »Eines der letzten Dinge, die mein Onkel zu mir gesagt hat, bevor wir nach Atyion aufbrachen, war, dass Skala verloren sei, wenn Ero unterginge. Was meinst du, Arkoniel? Hatte er Recht? Sind wir zu spät gekommen?«

    »Nein. Gewiss, es war ein entsetzlicher Schlag, aber Ero ist nur eine Stadt von vielen. Skala ist überall dort, wo du bist. Die Königin verkörpert das Land. Mir ist bewusst, dass dir die Lage im Augenblick düster erscheinen muss, aber Geburten sind selten einfach und gehen niemals sauber vonstatten. Ruh dich ein wenig aus, bevor wir losreiten. Oh, und Iya hat mit einigen der Frauen in deiner Garde gesprochen. Ahra oder Una können heute Nacht bei dir bleiben.«

    »Mein Knappe ist nach wie vor Ki.«

    Der Zauberer zögerte, ehe er leise meinte: »Ich finde das nicht ratsam, du etwa?«

    Tamír wirbelte zu ihm herum; aufgestaute Wut loderte in ihren dunklen Augen. Sogar Ki wich bei dem Anblick einen Schritt zurück.

    »Es ist ratsam, weil ich sage, dass es ratsam ist! Betrachte es als meine erste offizielle Bekanntmachung als deine künftige Königin. Oder soll ich doch bloß die Marionette eines Zauberers sein wie mein Onkel?«

    Arkoniel wirkte betroffen, als er eine Hand ans Herz drückte und sich verneigte. »Nein, niemals. Das schwöre ich bei meinem Leben.«

    »Ich werde mir diese Worte merken«, herrschte Tamír ihn an. »Und du merk dir das: Ich nehme meine Pflicht gegenüber Skala, den Göttern, meiner Abstammung und meinem Volk an. Aber ich warne dich ...« Ein Beben schlich sich in ihre Stimme. »Leg dich in dieser Angelegenheit nicht mit mir an. Ki bleibt bei mir. Und jetzt – geh!«

    »Wie Ihr wünscht, Hoheit.« Rasch zog sich der Zauberer zurück, allerdings nicht ohne einen traurigen Blick in Kis Richtung zu werfen.

    Ki gab vor, ihn nicht zu bemerken. Du hast sie hierher gebracht. Jetzt kannst du ruhig zusammen mit dem Rest von uns die Folgen erleiden!

    »Prinz Tobin?« Baldus stand an der Tür und rieb sich die Augen. Tamírs Kammerdiener Molay hatte den Jungen während des letzten Angriffs in einer Truhe versteckt. Als Tamír und Ki ihn später gefunden hatten, war er zu erschöpft und verängstigt gewesen, um die Veränderung zu bemerken. Verwirrt sah er sich um. »Wo ist die Prinzessin, von der Ihr geredet habt, Fürst Ki?«

    Tamír ging auf den Jungen zu und ergriff seine Hand. »Sieh mich an, Baldus. Sieh genau her.«

    Seine braunen Augen weiteten sich. »Hoheit! Seid Ihr verhext?«

    »Das war ich. Jetzt bin ich es nicht mehr.«

    Unsicher nickte Baldus. »Eine verzauberte Prinzessin wie in den Geschichten der Barden?«

    Tamír rang sich ein gequältes Lächeln ab. »So ähnlich. Wir müssen dich an einen sicheren Ort bringen.«

    Mit zitterndem Kinn sank der Junge auf die Knie, ergriff ihre Hand und küsste sie. »Ich werde Euch immer dienen, Prinzessin Tobin. Bitte, schickt mich nicht weg!«

    »Natürlich nicht, wenn du bleiben möchtest.« Tamír zog ihn auf die Beine und umarmte ihn. »Ich kann jeden getreuen Mann gebrauchen, den ich finde. Aber du musst mich von jetzt an Prinzessin Tamír nennen.«

    »Ja, Prinzessin Tamír.« Der Junge umklammerte sie. »Wo ist Molay?«

    »Ich weiß es nicht.«

    Ki bezweifelte, dass sie ihn diesseits von Bilairys Tor wiedersehen würden. »Schlaf ein wenig, Tamír. Ich halte Wache.« Zu seiner Überraschung begehrte sie nicht dagegen auf. Stattdessen streckte sie sich neben Nikides auf der kahlen Matratze aus, drehte sich zur Seite und ergab sich letztlich ihrer Erschöpfung.

    Ki zog sich einen Stuhl herbei und setzte sich mit dem aus der Scheide gezogenen Schwert auf den Knien hin. Er war ihr Knappe und würde seine Pflicht erfüllen, doch er musterte ihr schattiges Antlitz mit dem schweren Herzen eines Freundes.

    Die Dunkelheit war hereingebrochen, als Tharin mit einer Lampe eintrat. Ki blinzelte ob des plötzlichen Lichts. Tamír setzte sich jäh auf und griff nach ihrem Schwert.

    »Es ist alles bereit, Tamír.« Tharin trat beiseite, um die Bahrenträger hereinzulassen, die für Nikides mitgekommen waren. Luchs folgte ihnen. Er trug Tamírs abgelegte Rüstung in den Händen.

    »Ich habe auf dem vorderen Hof eine Begleitgarde für dich zusammengestellt, und Manies holt eure Pferde«, sagte Tharin. »Du solltest besser deine Rüstung tragen. Auf den Straßen ist es alles andere als sicher.«

    Ki nahm dem anderen Knappen das von Aurënfaie gefertigte Kettenhemd ab. Luchs verstand dies. Es war gleichermaßen Kis Verantwortung und Ehre.

    Er half Tamír, das geschmeidige Kettenhemd anzulegen, dann schnürte er ihr die Riemen des Brustpanzers zu. Die Rüstungsteile stammten ebenso wie jene, die Ki, Luchs und Tharin trugen, aus der Waffenkammer Atyions. Während Ki mit den unvertrauten Schnallen kämpfte, fragte er sich, was aus den Rüstungen geworden war, die sie in jener Nacht in Ero zurückgelassen hatten. Verloren wie alles andere, dachte Ki mit Bedauern. Die seine war ein selbst entworfenes Geschenk von Tobin gewesen.

    Tamír, dachte er und schalt sich. Verdammt! Wie lange würde es noch dauern, bis ihm der Name in Fleisch und Blut überginge?

    Der Rest der königlichen Garde erwartete sie beritten auf dem Hof. Jenseits der Mauer zeigte sich der Palatin ob der dort nach wie vor lodernden Feuer taghell. Eine heiße Brise wehte ihnen entgegen, und über alles hatte sich Asche wie grauer Frost gelegt.

    Mindestens hundert Reiter hatten sich versammelt. Viele davon hielten Fackeln, um den Weg zu leuchten. Ki fiel auf, dass die meisten Pferde gestutzte Mähnen aufwiesen. Vermutlich aus Trauer um den König oder um gefallene Kameraden.

    Die wenigen verbliebenen Männer der Garde von Alestun befanden sich in den vordersten Reihen, blieben immer noch als Gruppe zusammen. Aladar und Kadmen grüßten ihn, und Ki nickte mit wehmütigem Herzen zurück; zu viele Gesichter fehlten in den Reihen.

    Unter den Anwesenden befanden sich auch Fürstin Una sowie Iya, Arkoniel und der bunte Haufen von Zauberern, die Iya geschart hatte. Der Rest bestand aus Soldaten, die noch die Wehrgehänge Atyions trugen, darunter Hauptmännin Grannia und ihre Frauen.

    Fürst Jorvai und Fürst Kyman, Tamírs erste Verbündete unter dem Adel, warteten mit ansehnlichen Truppen eigener Reiter.

    Der linkshändige Manies stemmte Tamírs zerrissenes Banner empor. Es zeigte immer noch die vereinten Wappen ihrer Eltern, die sowohl für Ero als auch für Atyion standen. Aus Achtung vor dem toten König war oben an die Stange eine lange, schwarze Schleife gebunden worden.

    »Du solltest von jetzt an unter dem königlichen Banner reiten«, meinte Tharin.

    »Ich bin noch nicht gekrönt, oder? Außerdem hat Korin auch das mitgenommen.« Sie beugte sich näher zu ihm und flüsterte: »So viele? Es sind doch weniger als drei Meilen zu Illardis Haus.«

    »Wie ich schon sagte, auf den Straßen ist es immer noch gefährlich. Viele von Erius’ Männern haben sich geweigert, sich uns anzuschließen. Sie könnten noch irgendwo in der Nähe sein und alles Mögliche planen.«

    Tamír rückte ihr Schwert am Oberschenkel zurecht, stieg die Stufen hinunter und ging zu dem großen Rappen, den ein Mann, der noch Erius’ Farben trug, für sie hielt.

    »Halt die Augen offen und bleib dicht bei ihr«, murmelte Tharin, als er und Ki ihr folgten.

    »Das werde ich«, gab Ki leise, aber eindringlich zurück. Was glaubte Tharin eigentlich, was er sonst vorhatte? Vor sich hinträumen, als brächen sie zu einem Jagdausflug auf?

    Als sich Ki auf sein geborgtes Pferd schwang, sah er, dass Tamír ihren Dolch gezückt hatte. Die Mähne ihres Tiers war nicht gestutzt worden. Sie packte ein Büschel des rauen schwarzen Haars, schnitt es ab und versengte es an einer nahen Fackel. Es war eine symbolische Tat, aber eine durchaus würdige. »Für meinen Anverwandten«, sprach sie laut genug, auf dass es alle hören konnten. »Und für alle, die tapfer für Skala gestorben sind.«

    Aus dem Augenwinkel erspähte Ki, wie Iya lächelnd den Kopf schüttelte.

    Ki und Tamír ritten in der Mitte des Trosses, auf allen Seiten von bewaffneten Reitern und von Zauberern abgeschirmt. Jorvai übernahm die Spitze, Kyman und seine Leute die Nachhut. Tharin blieb bei Tamír, die beiden Zauberer hielten sich neben ihnen. Baldus kauerte mit großen Augen hinter Arkoniel und umklammerte mit einer Hand ein kleines Bündel.

    Da der Großteil des Palatins nach wie vor in Flammen stand, war der übliche Weg zum Tor unpassierbar. Tamír und ihr Tross durchquerten den verheerten Park zu einer kleinen Nebenpforte hinter dem verwüsteten Hain der Drysier.

    Diese Strecke führte sie an der königlichen Gruft vorbei. Tamír blickte zu den verkohlten Überresten des Säulenvorbaus. Ränge von Priestern und Soldaten standen dort Wache, doch der Großteil der königlichen Standbilder war bereits verschwunden.

    »Haben die Plenimarer die Statuen gestürzt?«

    Iya kicherte. »Nein, die Verteidiger des Palatins haben sie auf die Köpfe der Feinde fallen lassen.«

    »Ich bin nie wieder hergekommen«, murmelte Tamír.

    »Hoheit?«

    Ki verstand sie. In der Nacht, als sie erstmals in Ero eintrafen, hatte Tamír die Asche ihres Vaters hinab in die unteren Gefilde der königlichen Gruft getragen und den einbalsamierten Leichnam ihrer Mutter gesehen. Es war das einzige Mal gewesen, dass sie sich in die Katakomben hinabgewagt hatte. In der Trauernacht und an den übrigen heiligen Tagen hatte sie die Gruft stets gemieden. Ki vermutete, dass sie nach all den Jahren des Zusammenlebens mit Bruder genug von den Toten gehabt hatte.

    Und wo mag er jetzt sein?, fragte er sich. Seit der Entbindungszeremonie hatte es keinerlei Anzeichen auf den Dämon mehr gegeben. All die Knochensplitter aus der Puppe waren durch die Magie verbrannt. Vielleicht war Tamír endlich befreit von ihm, wie Lhel es versprochen hatte.

    Und er ist auch frei. Ki erinnerte sich noch an den gequälten Ausdruck in Bruders Gesicht während jener letzten Augenblicke. Trotz all der Angst und des Schmerzes, die Bruder im Lauf der Jahre verursacht hatte, und ungeachtet des Schadens, den er anzurichten versucht hatte, hoffte Ki für alle Beteiligten, dass der zornige Geist letztlich das Tor durchschritten hatte.

    Kapitel 3

    Außerhalb des Palatins herrschte blankes Chaos in der Stadt. Zorniges Geschrei und weinende Stimmen erfüllten die Luft. Der Regen hatte nachgelassen, doch über Ero hingen immer noch zerfranste Wolken. In einigen Vierteln tobten nach wie vor Feuer, und ein endloser Strom von Flüchtlingen verstopfte die Straßen. Vor den Toren hielten Soldaten Wache und versuchten, die Menschen davon abzuhalten, in die Stadt zurückzukehren, um Habseligkeiten zu bergen oder zu plündern.

    Tamír ließ den Blick über die Menschen wandern, die ihr Volk verkörperten. Die meisten hatten keine Ahnung, wer in jener Nacht an ihnen vorüberzog. Was würden sie denken, wenn sie sähen, dass sie die Hauptstadt verließ?

    »Bei der Flamme, ich bin es allmählich leid, in der Finsternis umherzuschleichen«, murmelte sie, und Ki nickte.

    Schwelende Grundmauern und lauernde Freibeuter waren nicht die schlimmsten Gefahren in der verwüsteten Stadt. Hunderte Leichname, die Opfer der Schlacht und der Seuche, verwesten auf den Straßen und züchteten weitere Krankheiten. Die meisten Straßenreiniger, die sich um solche Dinge kümmerten, waren selbst bereits tot.

    Sobald Tamírs Garde die Stadt hinter sich gelassen hatte, löschte sie die Fackeln, um nicht als Zielscheiben für etwaig lauernde feindliche Bogenschützen zu dienen. Entlang der nördlichen Landstraße erstreckte sich ein dunkler, wuselnder Strang aus Menschen, Pferden und Karren jeder Machart in die Nacht.

    Habe ich bereits versagt?, fragte sich Tamír erneut.

    Wenn der Lichtträger unbedingt eine Königin wollte, weshalb hatte der Unsterbliche dann einen solch dunklen Augenblick gewählt, um sie zu offenbaren? Sie hatte die Frage zuvor dem Priester aus Afra gestellt, doch Imonus’ unerträglich gelassenes Lächeln hatte die einzige Antwort dargestellt. Die Priesterschaft und die Zauberer waren in heller Freude über den schicksalshaften Verlauf der Ereignisse, und das trotz all des Leids, das damit einherging.

    Tamír hingegen fühlte sich beim Anblick all der heimatlosen Menschen sehr klein und müde. Wie sollte sie ihnen allen helfen? Die Bürde ihrer neuen Rolle und all der damit verbundenen Unsicherheit lastete wie ein schweres Gewicht auf ihr.

    »Keine Sorge«, meinte Tharin leise. »Morgen früh sieht alles besser aus. Die Wolken lichten sich. Ich kann bereits die Sterne erkennen. Siehst du die Gruppe dort drüben?« Er deutete auf eine Anordnung von Gestirnen. »Der Drache. Ich fasse das als gutes Zeichen auf, du nicht?«

    Tamír gelang ein mattes Lächeln; der Drache galt als eines von Illiors Zeichen. Ihr Leben lang war sie eine Anhängerin Sakors gewesen; nun schien jedes Omen vom Lichtträger zu stammen. Wie zur Antwort auf ihre Gedanken stieß irgendwo zu ihrer Rechten eine Eule einen lauten Schrei aus.

    Imonus suchte ihren Blick. »Ein weiteres gutes Zeichen, Hoheit. Hört man den Vogel des Lichtträgers, grüßt man den Gott.« Er zeigte ihr, wie, indem er mit drei Fingern die Stirn zwischen den Augen berührte.

    Tamír ahmte die Geste nach, gefolgt von Ki und Tharin, dann auch von den übrigen Reitern rings um sie, die es gehört und gesehen hatten.

    Nehmen sie den Umstand hin, dass Illior bei all dem die Hand im Spiel hat, oder folgen sie nur meinem Beispiel?

    Am Hof hatte sie immer in Korins Schatten gestanden und mit angesehen wie jeder bei allem mitmachte, was immer er tat. Falls dem so sein sollte, gelobte sie, ein besseres Beispiel vorzugeben als er.

    Herzog Illardi und seine berittene Begleitgarde kamen ihnen auf der Straße entgegen. Tamír und die Gefährten waren während der heißen Sommertage häufig seine Gäste gewesen. Er war ein freundlicher, ergrauender Mann, der sie immer ein wenig an Tharin erinnerte hatte.

    »Seid gegrüßt, Hoheit«, sagte er und hob die Faust ans Herz, als er sich im Sattel verneigte. »So sehr es mich freut, Euch erneut Gastfreundschaft zu entbieten, so sehr bedauere ich die Umstände.«

    »Ich ebenso, Euer Gnaden. Mir wurde gesagt, Ihr seid bereit, mir die Gefolgstreue zu schwören und meinen Anspruch auf den Thron zu unterstützen.«

    »So ist es, Hoheit. Wir sind ein Haus Illiors und sind es von jeher gewesen. Ich denke, Ihr werdet im Land auf etliche andere stoßen, die sich freuen werden, die Prophezeiung des Lichtträgers endlich erfüllt zu sehen.«

    »Und reichlich solche, auf die das nicht zutrifft«, warf Fürst Jorvai ein, als sie sich wieder in Bewegung setzten. »Die Anhänger Sakors, die des Königs Gunst genossen, werden nicht bereitwillig mit ansehen, wie sein Sohn verdrängt wird. Einige haben seinetwegen bereits die Stadt verlassen.«

    »Wird es auf einen Bürgerkrieg hinauslaufen?«, erkundigte sich Illardi.

    Die Frage jagte einen Schauder durch Tamír. Einen Augenblick vergaß sie ihren Groll und wandte sich Iya zu. »Wird Korin mit mir um die Krone kämpfen?«

    »Da Niryn noch am Leben ist und ihm Gift ins Ohr säuselt, würde ich sagen, ja, das ist sehr wahrscheinlich.«

    »Skalaner, die gegen Skalaner kämpfen? Ich kann nicht glauben, dass der Lichtträger das von mir will!«

    Sie erreichten Herzog Illardis Anwesen ohne Zwischenfall. Entlang der Mauerkronen brannten große Leuchtfeuer, die dort postierte Bogenschützen erhellten.

    Dahinter befand sich ein ansehnliches, weitläufiges Haus aus Stein, errichtet auf einem Felsvorsprung, der das Meer überblickte. Die Plenimarer hatten den Ort im Vorbeiziehen angegriffen; schwarz gefiederte Pfeile übersäten den Burghof und die Gärten, aber die Tore waren nicht durchbrochen worden.

    Tamír und die anderen stiegen vor dem Haupteingang des Hauses ab. Zwei Säulen, bemeißelt mit Illiors Auge, säumten die Pforte, und ein Halbmond zierte den Sturz. Als sie zu Erius’ Zeiten hier gewesen waren, hatte dort Sakors Flamme geprangt. Tamír hoffte, dass Illardi seine Gefolgstreue nicht allzu rasch und allzu häufig schwenkte.

    Allerdings war er den Gefährten immer ein freundlicher Gastgeber gewesen, und er schien es aufrichtig zu meinen, als er sich nun verbeugte und sagte: »Alles, was mir gehört, gehört auch Euch, Hoheit. Ich habe angeordnet, dass ein Bad und Essen vorzubereiten sind. Zieht Ihr es vor, beides in Euren Gemächern zu genießen?«

    »Das würde ich sehr gern, danke.« Für einen Tag hatte Tamír genug Förmlichkeiten durchlitten.

    Er führte sie zu einer Zimmerflucht auf einer zum Meer weisenden Terrasse. Baldus umklammerte Tamírs Hand, Ki und Tharin folgten ihr.

    Neben dem großen Schlafzimmer umfassten die Gemächer einen Wohn- und Ankleideraum sowie Vorkammern für ihre Wachen. In der Hitze des Sommers war es in diesen Räumlichkeiten angenehm kühl gewesen, nun hingegen wirkten sie trotz der darin brennenden Kerzen und Kaminfeuer feuchtkalt.

    »Ich lasse Euch allein, damit Ihr Euch ausruhen und erfrischen könnt, Hoheit«, sagte Illardi. »Meine Dienerschaft wird Euch alles bringen, was Ihr braucht.«

    »Ich sorge dafür, dass die Männer untergebracht werden«, erklärte Tharin und zog sich taktvoll zurück, um sie mit Ki alleine zu lassen. »Komm, Baldus.«

    Der Page blickte panisch drein, und Tamír nickte ihm zu. »Du bleibst bei mir.«

    Der Junge bedachte sie mit einem dankbaren Blick, als er sich hastig zu ihr und Ki gesellte.

    Ungeachtet der Feuchtigkeit strahlten die Wandbehänge eine warme Farbenpracht aus, und die Laken erwiesen sich als sauber und rochen nach Sonnenschein und Wind.

    Baldus sah sich in dem unvertrauten Zimmer um. »Was soll ich tun, Herrin? Ich habe noch nie ein Mädchen bedient.«

    »Ich habe keine Ahnung. Hilf mir fürs Erste mit den Stiefeln.«

    Sie setzte sich auf die Bettkante und kicherte, während sich der Junge mit dem Schuhwerk abmühte. »Ich glaube, in diesem Bett könnten wir deine ganze Familie unterbringen, Ki.«

    Der Knappe ließ sich auf einen Stuhl plumpsen und grinste. »Und die Hunde dazu.«

    Baldus versetzte dem ersten Stiefel einen letzten Ruck und wankte rücklings. Schlamm verschmierte seinen ohnehin schmutzigen Kittel.

    Tamír betrachtete ihre dreckigen Strümpfe und den Rest der besudelten Kleidung mit einem schiefen Lächeln. »Ich sehe nicht besonders nach einer Dame aus, oder?«

    »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Königin Ghërilain nach ihren großen Schlachten wesentlich anders ausgesehen hat«, meinte Ki, während Baldus ihrem anderen Fuß den zweiten Stiefel abrang.

    »Und ich stinke.«

    »Damit bist du nicht allein.«

    Kis Haar hing ihm in schmutzigen Strähnen um das abgehärmte, unrasierte Gesicht, und die Jacke über dem Kettenhemd war fleckig. Sie rochen beide nach Blut und Kampf.

    Baldus eilte zum Waschtisch und goss Wasser in die Schüssel. Tamír wusch sich das Gesicht und die Hände. Das kühle Wasser duftete nach Rosenblüten, doch als sie fertig war, hatte es sich rostig verfärbt. Baldus leerte die Schüssel zum Fenster hinaus und goss frisches Wasser für Ki ein.

    »Vielleicht sollte er das nicht tun«, warnte Ki. »Es könnte für die Leute unschicklich aussehen, wenn er auch deinen Knappen bedient.«

    »Die Leute können mir gestohlen bleiben«, schnaubte Tamír. »Wasch dir die verdammten Hände.«

    Bocktische wurden auf die Terrasse gebracht. Tamír und ihr Gefolge speisten mit dem Herzog und dessen beiden jungen Söhnen, Lorin und Etrin. Bei ihren früheren Besuchen hatte Ki mit ihnen gespielt und empfand sie als anständige, brave und kluge Burschen.

    Lorin war ein großer, stiller Junge und einige Jahre jünger als Tamír. Sein Bruder, genauso alt wie Baldus, starrte sie die gesamte Mahlzeit hindurch mit großen Augen an, als erwarte er, dass sie sich erneut verwandle.

    Auch hier erfüllte Baldus unerschütterlich seine Pflichten, bis es Tamír gelang, ihn zu überreden, sich zu ihr auf die Bank zu setzen und ein paar Bissen von ihrem Teller zu essen.

    Sobald das Mahl beendet war, räumten Bedienstete das Geschirr ab, und Illardi breitete auf dem Tisch Karten des Hafens aus, um den Schaden abzuschätzen.

    »Die Plenimarer verstehen ihr Handwerk. Während die Landstreitkräfte die Küste angriffen, haben ihre Seeleute brennendes Pech auf jedes Schiff in ihrer Reichweite gegossen und die Festmacher durchschnitten. Ich fürchte, all Eure Kriegsschiffe liegen mittlerweile auf dem Grund der Bucht oder brennen auf ihrer fernen Seite. Nur einige kleine Karacken blieben verschont. Siebenundzwanzig feindliche Schiffe wurden gekapert.«

    »Ist bekannt, wie viele Schiffe entkommen sind?«, fragte Tamír.

    »Die Ausgucke am Großkopf behaupten höchstens zehn.«

    »Genug, um die Kunde von ihrer Niederlage in die Heimat zu tragen«, merkte Jorvai an.

    »Allerdings auch genug, um von Eros Schwäche zu berichten«, warnte Iya. »Wir können es uns nicht leisten, uns noch einmal überraschen zu lassen. Ich lasse das Meer zwar von einigen meiner Zauberer beobachten, aber ohne zu wissen, wo sie Ausschau halten müssen, könnten sie den Feind übersehen. Sagt den Ausguckern, sie sollen wachsam sein, besonders bei schlechtem Wetter.«

    Schließlich gingen Illardi und die anderen. Während des Essens war eine große Badewanne hereingetragen und gefüllt worden. Ki betrachtete sie sehnsüchtig. Sie hatten tagelang im Sattel gelebt.

    »Baldus, geh hinaus auf den Flur und halte eine Weile zusammen mit den Soldaten Wache«, befahl Tamír dem Pagen. Sie ließ sich auf das Bett fallen und nickte in Richtung der Wanne. »Willst du zuerst?«, fragte sie Ki.

    »Nein, mach nur. Das ist ...« Noch vor einer Woche hätte Ki nicht zweimal darüber nachgedacht. Nun spürte er, wie ihm Hitze in die Wangen kroch. »Ich sollte rausgehen ...«

    Es schien naheliegend, aber Tamír wirkte plötzlich den Tränen nah. »Widere ich dich so sehr an?«

    »Was? Nein!«, rief Ki aus, den sowohl der jähe Stimmungswechsel als auch der Umstand verdutzte, dass sie zu einem solchen Gedanken gelangte. »Wie kannst du das nur denken?«

    Mit dem Gesicht in den Händen sackte sie nach vorn. »Weil ich mich so fühle. Seit Atyion fühlte ich mich in einem bösen Traum gefangen, aus dem ich nicht aufwachen kann. Nichts erscheint mir richtiger zu sein! In der Hose habe ich dieses leere Gefühl ...« Ki sah, dass auch ihr Röte in die Wangen stieg. »Und die hier?« Verdrossen blickte sie auf die kleinen Erhebungen unter dem dreckigen Leinenhemd hinab. »Sie brennen wie Feuer!«

    Ki ertappte sich dabei, überallhin zu blicken außer zu ihr. »Meine Schwestern haben über dasselbe geklagt, als sie gesprossen sind. Das vergeht, während sie weiterwachsen.«

    »Wachsen?« Die Vorstellung schien Tamír zu entsetzen. »Aber willst du wissen, was das Schlimmste ist?«

    Sie zog sich das Hemd über den Kopf, auf dass sie, abgesehen von der Kette mit den Ringen ihrer Eltern um den Hals, von der Hüfte aufwärts splitternackt zurückblieb. Hastig wandte Ki den Blick wieder ab.

    »Das. Du kannst mich nicht mal ansehen, nicht wahr? Seit Atyion beobachte ich tagtäglich, wie du zusammenzuckst und dich wegdrehst.«

    »So ist das nicht.« Ki blickte sie unverwandt an. Als Kind hatte er reichlich nackte Frauen gesehen. Tamír unterschied sich kaum von seinen Schwestern, abgesehen von dem unebenmäßigen Bluterguss an ihrer Schulter, wo sie während des ersten Angriffs auf die Stadt getroffen worden war. Mittlerweile war er zu einem grüngelben Fleck verblasst, in der Mitte von einem purpurnen Abdruck des Kettenhemds getupft, das den Pfeil aufgehalten hatte. »Es ist ... Verdammt, ich kann es nicht erklären. Tatsache ist, dass du gar nicht so anders aussiehst als zuvor.«

    »Lügen hilft nicht, Ki.« Sie kauerte sich zusammen, verschränkte die Arme vor den winzigen Brüsten. »Illior ist grausam. Als ich ein Junge war, wolltest du mich nicht anrühren, und jetzt, da ich ein Mädchen bin, kannst du mich nicht einmal ansehen.« Sie stand auf und schlüpfte aus der Hose, trat sie zornig beiseite. »Du weißt viel mehr über Mädchenkörper als ich. Sag, sehe ich jetzt wie ein Junge oder wie ein Mädchen aus?«

    Ki schauderte innerlich. Was keineswegs daran lag, dass etwas mit dem nicht stimmte, was er sah. Das dunkle Haar in ihrem Schritt sah genau wie bei anderen Mädchen aus. Nein, es war das Wissen, was sich früher dort befunden hatte, das ihm den Magen zusammenkrampfte.

    »Nun?« Sie wirkte immer noch zornig, aber ihr rollte eine Träne übers Gesicht.

    Der Anblick versetzte Ki einen Stich im Herzen; er wusste, wie viel es brauchte, um sie zum Weinen zu bringen. »Na ja, du bist immer noch dürr, und dein Hintern war schon immer ein wenig flach, aber viele Mädchen sehen so aus. Du bist noch nicht so alt, schon ... zur Frau zu reifen.« Er verstummte kurz und schluckte schwer. »Das geschieht, wenn du ...«

    »Wenn ich mit dem Mond blute?« Tamír wandte den Blick nicht ab, aber ihre geröteten Züge färbten sich noch dunkler. »Das habe ich in gewisser Weise schon vor der Verwandlung getan. Lhel gab mir Kräuter, durch die es großteils aufgehört hat. Aber ich vermute, jetzt wird es wieder einsetzen. So, und nun weißt du alles. Die vergangenen Jahre hast du neben einem Jungen geschlafen, der geblutet hat!«

    »Verdammt, Tob!« Das war zu viel. Ki sank auf einen Stuhl und vergrub das Gesicht in den Händen. »Das ist es, womit ich nicht zurechtkomme – diese Unwissenheit!«

    Elend zuckte Tamír mit den Schultern und griff nach dem Morgenrock, den jemand am Ende des Bettes zurückgelassen hatte. Es war der einer Dame, aus Samt mit Silberspitzen und Stickereien. Tamír wickelte sich darin ein und schmiegte sich gegen die Kissen.

    Ki schaute auf und blinzelte überrascht. »Na also, das sieht doch gleich anders aus.«

    »Was?«, murmelte Tamír.

    »So wirkst du ... mädchenhafter.« Damit erntete Ki einen finsteren Blick.

    Entschlossen, die Dinge zwischen ihnen zu begradigen, sah er sich um und erblickte einen Elfenbeinkamm auf dem Frisiertisch. Entweder war dies einst das Zimmer einer Dame gewesen, oder Illardis Herzogin hatte sich alle Mühe gegeben, es ordentlich einzurichten. Auf dem Tisch standen Gefäße mit kunstvollen Deckeln sowie verschiedener Krimskrams, dessen Zwecke er nur erahnen konnte.

    Er ergriff den Kamm, setzte sich neben Tamír aufs Bett und zwang sich zu einem Grinsen. »Wenn ich schon deine Ankleidefrau sein soll, Hoheit, darf ich mich dann um dein Haar kümmern?«

    Das brachte ihm einen noch düstereren Blick ein, doch nach einer kurzen Weile drehte sie ihm den Rücken zu. Er kniete sich hinter sie und begann, das verworrene Haar zu bearbeiten, indem er es sich in Strängen vornahm, wie es früher Nari getan hatte.

    »Glaub bloß nicht, ich wüsste nicht, was du vorhast.«

    »Was habe ich denn vor?«

    »Das aufgekratzte Pferd striegeln?«

    »Na ja, es muss gemacht werden. Dein Haar ist voller Knötchen.«

    Eine Zeit lang arbeitete er schweigend vor

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1