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Margret: Eine Südtiroler Bauerntochter
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eBook243 Seiten3 Stunden

Margret: Eine Südtiroler Bauerntochter

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Über dieses E-Book

Margret kommt 1943 in Südtirol zur Welt. Auf dem Bauernhof ihrer Eltern wächst sie behütet auf, obwohl schwere Schicksalsschläge die Großfamilie heimsuchen. Zudem bleibt ihr abgelegenes idyllisches Bergdorf nicht von den politischen Wirren in Südtirol verschont. Schon früh erfährt das aufgeweckte Mädchen, dass eine ihrer Tanten als Katakomben-Lehrerin in ständiger Gefahr geschwebt hatte. Von der "Option" zwischen 1939 und 1943 bleibt die Familie zwar unberührt, doch die Zeit der Bombenattentate und anderer Anschläge erlebt Margret bewusst mit.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum9. Apr. 2024
ISBN9783475550096
Margret: Eine Südtiroler Bauerntochter

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    Buchvorschau

    Margret - Roswitha Gruber

    Auf dem Kreuzer-Hof

    Drei Bauernhöfe spielten in meiner Kindheit eine wichtige Rolle: der Kreuzer-Hof, auf dem mein Vater aufgewachsen ist, der Wieser-Hof, auf dem meine Mutter ihre Kindheit verbrachte, und der Vinzenz-Hof, von dem ihre Mutter, meine Großmutter Cäcilia, stammte. Als Erstes will ich vom Kreuzer-Hof berichten, weil dort meine Wiege stand. Mein Vaterhaus, ein bescheidenes Anwesen zu Kalditsch, unweit von Montan in Südtirol, duckt sich mitten im Dorf zwischen die Häuser. Die Felder aber lagen weit außerhalb, sodass wir immer ganz schön lange Wege zurückzulegen hatten.

    Mein Vater hat keine sorglose Kindheit gehabt, obwohl alles so verheißungsvoll begonnen hatte. Seine Eltern Josef und Katharina bewirtschafteten das kleine Anwesen, das von Generation zu Generation weitergereicht worden war. In Katharina begegnete meinem Großvater Josef im Jahre 1906 die große Liebe. Sie sah nicht nur gut aus, sie war auch tüchtig, wovon er sich bei mehreren Gelegenheiten hatte überzeugen können. Da beide noch recht jung waren – er war erst 22 und sie 16 Jahre alt –, wollten sie sich mit dem Heiraten noch etwas Zeit lassen. Doch dann starb Josefs Vater im Alter von 51 überraschend an einem Blutsturz, und der Sohn musste die Verantwortung für den Hof übernehmen. Wie es das Unglück so wollte, starb seine Mutter, nur 49 Jahre alt, ein Jahr später an einem Schädelbasisbruch. Beim Heu-Hinabwerfen war sie vom Heuboden gestürzt.

    Damit der Hof nicht so lange ohne Bäuerin war, heiratete das junge Paar bereits ein Vierteljahr nachdem Josefs Mutter beerdigt worden war, in aller Stille. Das war im September 1908. Neun Monate später brachte Katharina einen gesunden Sohn zur Welt, der selbstverständlich Josef genannt wurde. Damit schien das Glück des jungen Paares vollkommen, doch es währte nicht lange. Als der kleine Josef 15 Monate alt war, erkrankte er an Diphtherie. Tagelang saß die junge Mutter weinend und betend am Bett des Kindes und kämpfte um sein Leben. Sie verlor diesen Kampf, denn nach wenigen Tagen war Josef tot. Bald schon erfuhr das junge Paar Trost, indem Katharina wieder Mutterfreuden entgegensah. Dreizehn Monate nach dem Tod ihres ersten Kindes brachte die junge Ehefrau einen weiteren Sohn zur Welt, der ebenfalls den Namen Josef bekam. Dieser sollte mein Vater werden. Ein Jahr nach Josef lag Klein-Katharina in der Wiege und 14 Monate nach ihr ein Julius, nämlich am 2. Februar 1914.

    Leider brach am 1. August desselben Jahres der Erste Weltkrieg aus. Bauer Josef wurde schon bald eingezogen, obwohl er Vater von drei kleinen Kindern war. Seine junge Frau musste nun sehen, wie sie mit der Landwirtschaft allein zurechtkam. Ihr stand lediglich ein alter Knecht zur Seite. Im September des folgenden Jahres erhielt sie die Schreckensnachricht, dass ihr Mann für Volk und Vaterland am 31. August 1915 in Galizien/Polen gefallen war. Er wurde in fremder Erde beigesetzt. Für die junge Witwe, sie war erst 25 Jahre alt, brachen gleich mehrere Welten zusammen. Nicht nur dass sie den Mann verloren hatte, den sie liebte, sie trug nun auch allein die Verantwortung für den Hof. Der war immerhin ihre Existenzgrundlage. Außerdem fühlte sie sich verpflichtet, ihn für ihren Sohn Josef zu erhalten. Mit dem alten Knecht Paul, der ihr treu zur Seite stand, bewältigte sie ihre Aufgaben mit Mühe und Not. Leider starb Paul zwei Jahre nach seinem Herrn. Katharina hatte keine Möglichkeit, einen jungen, kräftigen Knecht anzustellen. Die meisten jungen Männer waren noch im Krieg, und darüber hinaus fehlte das Geld, einen Knecht bezahlen zu können. Es nützte auch nicht viel, dass ihr Bruder Theo gelegentlich bei ihr aushalf. Viel Zeit für sie blieb ihm nämlich nicht, denn er hatte selbst genug zu tun, seit er den väterlichen Hof übernommen hatte.

    Obwohl Katharina bis an die Grenze ihrer Belastbarkeit arbeitete, kam ihr Hof immer mehr herunter und brachte immer weniger ein. Alles, was sie für sich und ihre Kinder notwendig brauchte, ließ sie in den Geschäften anschreiben. Ihre Schuldenliste wurde von Monat zu Monat länger, sodass Haus und Grund bald völlig verschuldet waren. Ist es da ein Wunder, dass sie in ihrer Not und ihrem Kummer zur Flasche griff? Gewiss, das war keine Lösung. Im Gegenteil, es verschlimmerte ihre finanzielle Lage noch mehr. Das Geld, das sie für Alkohol ausgab, fehlte an allen Ecken und Enden. Doch das Trinken versetzte sie in einen Zustand, in dem sie für Stunden aller Alltagssorgen enthoben war. Zu ihrer Armut kam noch falscher Stolz. Sie ließ ihre Kinder nicht an der Schulspeisung teilnehmen, die für den Nachwuchs finanzschwacher Familien angeboten wurde. Dort hätten sie sich wenigstens einmal am Tag richtig satt essen können. Stattdessen setzte sie ihnen Tag für Tag Erdäpfel oder Polenta vor. Josef, mein Vater, erkannte schon als Schulbub den Ernst der Lage und arbeitete fleißig auf dem Hof mit. Nach seiner Schulentlassung gab er gar eine vollwertige Arbeitskraft ab. Im Gegenzug dafür, dass der Onkel bei ihnen auf dem Hof einsprang, half er auch auf dessen Hof mit. So lernte der vaterlose Bub alles, was ein Bauer können muss.

    Leider blieb Katharinas Alkoholkonsum nicht ohne Folgen. Sie starb 1931 mit 40 Jahren an Leberzirrhose. Ihren drei Kindern im Alter von 19, 18 und 17 Jahren, die nun Waisen waren, hinterließ sie einen verschuldeten Hof.

    Doch Sohn Josef biss die Zähne zusammen und arbeitete bis zum Umfallen auf dem eigenen Anwesen und auf dem des Onkels. Katharina und Julius setzten sich ebenfalls voll ein, um den elterlichen Hof zu erhalten. Leider traf ein Jahr nach dem Tod der Mutter ein neues Unglück die Familie. Im Dezember 1932 war Julius mit seinem um zwei Jahre älteren Cousin Theo, dem Sohn von Onkel Theo, bei Tramin damit beschäftigt, Maisstängel zu ernten. Man hatte sie, wie üblich bei der Maisernte, im Oktober stehen lassen. Nach einigen Stunden legten sie eine Rast ein. Mittlerweile war es empfindlich kühl geworden war, deshalb machten sie sich auf der benachbarten Wiese mit Maisstängeln ein Lagerfeuer. Die trockenen Stängel brannten wie Zunder und gaben eine wohlige Wärme ab. Nichts Böses ahnend saßen sie um ihr Feuer, tranken von dem mitgebrachten Wein, aßen ihre belegten Brote und unterhielten sich angeregt. Plötzlich tauchten zwei Carabinieri auf, mit Gewehren im Anschlag. Sie schrien: »Altolà!«, was »Halt« bedeutet. Statt brav die Hände hochzuheben und sich nicht vom Fleck zu rühren, sprangen die Cousins auf und rannten davon.

    Die Polizisten nun, statt wie vorgeschrieben einen Warnschuss in die Luft abzugeben, schossen direkt auf die Fliehenden. Sie trafen Julius im Rücken, der daraufhin sofort zusammenbrach. Theo, der das aus dem Augenwinkel mitbekommen hatte, beugte sich sofort zu dem Bewusstlosen hinunter und tastete nach seinem linken Handgelenk. Der Puls war noch deutlich zu fühlen. Deshalb rief er den Staatsbeamten, die sich mittlerweile genähert hatten, in vorwurfsvollem Ton zu: »Da habt ihr was Schönes angerichtet! Jetzt helft mir wenigstens, den Verletzten auf den Wagen zu heben.« Er holte das Fuhrwerk, vor dem die Ochsen geduldig ausgeharrt hatten und das schon zur Hälfte mit Maisstängeln beladen war, herbei, und sie betteten Julius zwischen die Ladung. Das nächstgelegene Spital befand sich in Bozen. Heutzutage würde man mit dem Auto eine knappe halbe Stunde von Tramin bis Bozen benötigen. Mit dem Ochsengespann zog sich der Krankentransport jedoch über Stunden hin.

    Bis sie endlich im Spital ankamen, hatte der Angeschossene bereits sehr viel Blut verloren. Zudem stellte man schwere innere Verletzungen fest, sodass er nicht mehr gerettet werden konnte. Am folgenden Tag, dem 7. Dezember, erlag er seiner Verletzung, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. Für die Geschwister Katharina und Josef war das ein neuer schwerer Schlag. Nicht nur dass sie ihren geliebten Bruder verloren hatten, ihnen fehlte auch seine Arbeitskraft. Sie überlegten, ob sie den Carabiniere anzeigen sollten. Von diesem Gedanken nahmen sie aber ganz schnell wieder Abstand. Ihnen fehlte nicht nur das Geld für einen möglichen Prozess, sie sahen auch nicht die geringste Chance, dass der Schuldige zur Rechenschaft gezogen würde. Sie, als Südtiroler, hätten vor einem italienischen Richter keinerlei Aussichten, zumal sie nicht beweisen konnten, welcher der beiden Polizisten den tödlichen Schuss abgegeben hatte. Selbst wenn das Gericht sich wirklich die Mühe gemacht hätte, dies herauszufinden, und der Todesschütze bestraft worden wäre, so wäre ihr Bruder davon nicht wieder lebendig geworden.

    Für die Geschwister brach eine noch härtere Zeit an. Doch mit Fleiß und Gottvertrauen schafften sie es tatsächlich, in wenigen Jahren den Schuldenberg abzubauen.

    Josef ging davon aus, dass seine Schwester Katharina nicht ewig bei ihm bleiben würde, um ihm den Haushalt zu führen. Deshalb sah er sich mit seinem Wahlspruch »Such dir deine Frau im Stall und nicht auf dem Ball« rechtzeitig unter der holden Weiblichkeit der näheren Umgebung um. Nun konnte er nicht gut in jeden Stall des Dorfes schauen. Aber auf den Feldern hielt er Augen und Ohren offen. Während er selbst beim Pflanzen war, beim Rebenschneiden, beim Heuen oder beim Ernten, schaute er immer zu den Nachbarfeldern hinüber. Da entdeckte er eine Gitsch (ein Mädchen), die wirklich fleißig zupackte und nicht drauf aus war, ihre Hände zu schonen. Schon bald fand er heraus, dass sie Cäcilia hieß und vom Vinzenz-Hof stammte, einem Einödhof, der ziemlich weit vom Dorf entfernt lag. Außerdem schien sie recht fromm zu sein, denn er sah sie immer wieder des Sonntags in der Kirche.

    Als vom Bauernverband ein Ausflug organisiert wurde, war er einer der ersten, der sich anmeldete. Er hegte die stille Hoffnung, dass diese Cäcilia auch daran teilnehmen würde. Seine Rechnung ging auf, sie war tatsächlich mit von der Partie. Am Morgen traf sich die Gruppe am Rathaus und wanderte munter zu einer Alm. Schon während der Wanderung versuchte er, in ihre Nähe zu kommen. Daher ergatterte er gleich einen Platz neben ihr, als man zu Mittag in einer Sennhütte Brotzeit machte. Das Brot hatte sich jeder selbst mitgebracht, von der Sennerin bekamen sie gegen Bezahlung Käse, Milch oder Buttermilch. Mit welchen Worten mein Vater die Cäcilia angesprochen hat, ist nicht überliefert, fest steht nur, dass er sie angesprochen hat und dass ihr das nicht zuwider war. Er war nämlich ein fescher Bursche, und sie gestand ihm bald, dass sie ihn auch schon öfters auf seinen Feldern beobachtet hatte und dass er ihr ebenfalls in der Kirche aufgefallen war.

    Von da an trafen sie sich zunächst bei jeder offiziellen Almwanderung. Nach einiger Zeit wurde die Sehnsucht jedoch so groß, dass sie sich nach Möglichkeit jeden Sonntagnachmittag sahen. Im August 1938 wurde es ernst – das Paar verlobte sich. Doch ehe Josef seine Braut als seine Frau heimführen wollte, ließ er noch so einiges an seinem Elternhaus verbessern, damit sie es bequem hätten. Die Schulden waren fast beglichen, und so bekam er ohne Weiteres von der Bank einen Kredit, um elektrischen Strom ins Haus legen zu lassen und eine Wasserleitung, übrigens die erste im ganzen Dorf. Er ließ auch gleich ein Bad einbauen und eine Toilette mit Wasserspülung; auch die hatte im Dorf bislang niemand. Als er Cäcilia, die von einem wohlhabenden Hof stammte, am 9. April 1940 heiratete, brachte sie eine anständige Mitgift ein, sodass er den Rest seiner Schulden umgehend davon zahlen konnte und noch eine anständige Summe übrig behielt. Dieses Geld investierte er nach und nach in den Hof, sodass dieser immer fortschrittlicher wurde. Das war sein Glück, so ging das Geld ihm bei der Währungsreform nach dem Krieg nicht verloren.

    Da Josef nun eine Frau hatte, die für ihn sorgte, konnte seine Schwester Katharina ihren eigenen Weg gehen. In der Schweiz fand sie in einem guten Hotel eine Stelle als Bedienung. Dort lernte sie einen Gast kennen und lieben, der aus Südtirol stammte und bei einer Bank in Meran arbeitete. So kam sie nach drei Jahren wieder in ihre Heimat zurück, wo sie ihren Liebsten heiratete und mit ihm zwei Buben bekam.

    Mein Vater hatte den elterlichen Hof also mit Geschick und Fleiß wieder aufwärts gebracht. Daher erblickte ich dort in relativ guten Verhältnissen am 25. Februar 1943 das Licht der Welt unter den Händen der alten, erfahrenen Dorfhebamme. Nachdem sie Mutter und Kind versorgt hatte, bettete sie mich in die alte Familienwiege, in der vor mir schon viele Kinder ihre ersten Lebensmonate verbracht hatten. Als Letzte hatte meine Schwester Martha, ziemlich genau zwei Jahre vor mir geboren, darin gelegen. Viele Jahre vorher hatte mein Vater in dieser Wiege geschlummert, ebenso seine Geschwister. Leider ist nicht überliefert, für wie viele Erdenbürger sie der erste Schlafplatz gewesen war. Es müssen aber zahlreiche Vorfahren gewesen sein, denn der Hof war nachweislich seit 1500 im Besitz seiner Familie, und wie es damals üblich war, hatten die meisten Familien eine stattliche Kinderschar.

    Zu meinem Eintritt ins Leben hatte ich mir allerdings einen denkbar ungünstigen Zeitpunkt ausgewählt. Es tobte der Zweite Weltkrieg, der auch Südtirol, mein Vaterland, das schon immer durch Kriege und Machtkämpfe gebeutelt war, besonders in Mitleidenschaft zog. Schon früh wurde ich mit diesen Wirren konfrontiert, obgleich ich mich nicht aus eigenem Erleben an alles erinnern kann. Bei dem ersten erschütternden Ereignis war ich ja erst anderthalb Jahre alt. Aber meine Großmutter Cäcilia hat mir die Geschichte so oft und so lebendig erzählt, dass ich alles lebhaft vor Augen habe. Auch Martha, die Erstgeborene meiner Eltern, hat mir immer wieder anschaulich davon berichtet, was sich im August 1944 auf der Alm meiner Großeltern zugetragen hatte. Unsere Oma verbrachte diesen Sommer auf der Cugola-Alm mit 20 Kühen und einem Hütebuben. Weil Cäcilia, meine Mutter, ihr drittes Kind erwartete, war es ihr zu anstrengend, neben der Erntearbeit zwei quirlige kleine Mädchen zu betreuen. Deshalb hatte sie Martha und mich ihrer Mutter auf die Alm mitgegeben. Dort hatten wir ein wunderbares, freies Leben. Leider wurde dieses eines Tages auf empfindliche Weise gestört. Laut Aussage meiner Schwester tauchten plötzlich zwei bärtige Männer mit grimmigen Gesichtern und Gewehren über der Schulter auf. Sie stürmten an uns vorbei in die Hütte und schrien die Oma dermaßen an, dass Martha besorgt meine Hand packte und mit mir in die Hütte eilte. Ängstlich klammerten wir uns an die geliebte Großmutter, um sie zu beschützen – oder suchten wir selbst Schutz? Unser Auftauchen beeindruckte die Männer nicht. Mit barscher Stimme wiederholten sie ihre Forderung nach Butter und Käse. Oma, die Sennerin, war jedoch nicht bereit, etwas von ihren Vorräten herauszurücken. Ihre Almerzeugnisse trugen schließlich bedeutend dazu bei, ihre vielköpfige Familie im Tal zu ernähren. Weil Oma den lautstarken Forderungen der Männer nicht nachkam, richtete einer von ihnen das Gewehr auf sie und schrie: »Wenn du uns nichts gibst, erschießen wir dich und nehmen uns, was wir brauchen!«

    Mit zitternden Knien war Oma notgedrungen in den Keller gestiegen und mit einem Laib Käse und einer Kugel Butter zurückgekommen. Sie hatte nicht nur Tage, sondern Wochen gebraucht, um sich von diesem Schreck zu erholen. Es waren wohl Partisanen aus dem Trentino gewesen, denen sie dieses unschöne Ereignis zu verdanken hatte.

    Ein anderes aufregendes Erlebnis, es hatte jedoch nichts mit dem Krieg zu tun, hatte Martha einige Tage später. Sie wurde nicht müde, mir auf dramatische Weise immer wieder zu schildern, wie sie mir das Leben gerettet hatte. Wie vor jeder Sennhütte stand auch vor der unseren ein Brunnentrog, der aus einem ausgehöhlten Baumstamm bestand. In diesen floss durch einen Schlauch unaufhörlich Schmelzwasser von den hohen Bergen. Direkt am Schlauchende entnahm meine Großmutter das Trink- und Kochwasser für uns. Auch wurden Zentrifuge, Butterfass und die Gerätschaften, die der Käseerzeugung dienten, sorgfältig damit gereinigt. Im Übrigen diente der Trog als Viehtränke. Morgens und abends stillten die Rindviecher ihren Durst an dem Wasser. Für uns kleine Mädchen war der Trog ein beliebter Spielplatz. Wir schöpften mit unseren Eimerchen Wasser daraus, gossen die Geranien am Fenster, kippten uns Wasser über unsere Füße, wenn wir Abkühlung brauchten, oder wir verrührten Erde damit zu einem Brei, aus dem wir Kuchen formten. Eines Tages nun, als ich wieder einmal Wasser schöpfen wollte, der Wasserspiegel aber recht niedrig war, musste ich mich arg über den Rand des Troges beugen. Dadurch bekam ich das Übergewicht und plumpste in das kalte Nass. Der Wasserstand war wirklich so niedrig, dass für mich keine Lebensgefahr bestand. Doch ich brüllte wie am Spieß, wohl vor Schreck und weil das Wasser so eisig war. Beherzt packte die dreieinhalbjährige Martha mich an meinen Füßen und zog mich heraus. So hatte sie mir »das Leben gerettet«, noch bevor Oma aus der Hütte gestürzt kam. Diese schälte mich aus den nassen Sachen und trocknete mich sorgfältig ab. Die Kleidung hängte sie auf die Leine und mich, den kleinen Nackedei, setzte sie in die pralle Sonne, damit mein Körper schnell wieder auf »Betriebstemperatur« kam. Erst dann zog sie mir trockene Sachen an. Wie mir meine Schwester jedes Mal versicherte, wenn sie mir diese Geschichte erzählte, habe ich von jenem Tag an einen großen Bogen um den Brunnentrog gemacht.

    Dass im Lande Krieg herrschte, bekam ich bereits im Jahr darauf bewusst mit. Dieses Erlebnis muss für mich so einschneidend gewesen sein, dass ich mich noch heute daran erinnern kann, obwohl ich damals nur gut zwei Jahre alt gewesen war. Meine Mutter hatte mich wieder einmal für einige Tage auf den Wieser-Hof gebracht, in ihr Elternhaus. Aus welchem Grund, weiß ich nicht. Der Hof lag einsam zwischen Wiesen und Äckern und war von uns aus in etwa einer halben Stunde Fußmarsch zu erreichen. Dort verbrachte ich viel Zeit damit, vor dem Haus an einem Sandhaufen zu spielen. Plötzlich stürzten die Erwachsenen aus dem Gebäude, schrien: »Bombenalarm!« und rannten den Berg hinauf. Tante Luisa, eine Schwester meiner Mutter, schnappte mich, klemmte mich unter den Arm und lief den anderen nach. Ich schrie und zappelte fürchterlich, denn so eingeengt fühlte ich mich nicht wohl. Luisa aber hielt mich eisern umklammert. Aus allen Richtungen strebten die Menschen herbei. Das Ziel war der Tunnel der Fleimstal-Bahn, die seinerzeit die Bergdörfer miteinander verband. Das Letzte, an das ich mich erinnere, ist eine große, dunkle Höhle, in die Tante Luisa mit mir stolperte. An alles andere, was danach geschah, erinnere ich mich nicht mehr.

    Erst Jahre später bekam ich von der Tante Aufklärung über das damalige Ereignis. Es muss im April 1945 gewesen sein, also kurz vor Kriegsende. Die verstreut liegenden Höfe ringsum besaßen nur kleine, niedrige Keller, die zum Einlagern von Kartoffeln und Rüben dienten, aber in keiner Weise als Luftschutzkeller geeignet waren. Deshalb waren

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