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Tödliche Sprichwörter: Österreich Krimi (Tatort: Waldviertel)
Tödliche Sprichwörter: Österreich Krimi (Tatort: Waldviertel)
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eBook277 Seiten3 Stunden

Tödliche Sprichwörter: Österreich Krimi (Tatort: Waldviertel)

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Über dieses E-Book

Suzanne und Michel De Colle kommen bei einem tragischen Autounfall ums Leben. Der Schock sitzt bei ihren Kindern Luc und Julie tief. Aber nach der ersten Erschütterung über den schmerzlichen Verlust folgt bald ein schlimmer Verdacht. Denn zwischen den Hinterlassenschaften ihrer Eltern fi nden Luc und Julie brisante Dokumente, die den Unfall in ein neues Licht rücken – ein Licht, das auf ein Verbrechen deutet. Doch die Polizei zeigt kaum Interesse, den Fall zu verfolgen. Entschlossen, die Wahrheit ans Licht zu bringen, beschließen die Geschwister, auf eigene Faust zu ermitteln. Während sie tief in die Vergangenheit ihrer Eltern eintauchen, stoßen sie auf ein Netz aus Lügen, Intrigen und dunklen Machenschaften. Und als sie endlich eine konkrete Spur zu finden glauben, erkennen sie, dass sie nicht nur gegen die Zeit, sondern auch gegen mächtige Gegner kämpfen.

SpracheDeutsch
HerausgeberFederfrei Verlag
Erscheinungsdatum28. Mai 2024
ISBN9783990742891
Tödliche Sprichwörter: Österreich Krimi (Tatort: Waldviertel)
Autor

Michael Koller

Michael Koller, geboren am 14. März 1972, lebt in Hoheneich bei Gmünd im Waldviertel. Nach Abschluss der Handelsakademie war er in unterschiedlichen Berufszweigen tätig und lernte so den Facettenreichtum des Lebens bestens kennen. Seine Leidenschaft war und ist das Schreiben. Zeitungsartikel, Kurzgeschichten, Gedichte, Romane und Internetblogs umreißen das Repertoire des Enfant Terribles der Waldviertler Schreibzunft.

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    Buchvorschau

    Tödliche Sprichwörter - Michael Koller

    1

    Resurecturis! In großen, schwarzen Lettern stand dieses Wort über dem versperrten Eingang zu einer kleinen Gruft geschrieben, die von einer mit Grünspan überzogenen, kupfernen Kuppel bedeckt war. Auferstanden!

    Was für ein leeres Pathos, dachte Luc bei sich, als er mit seiner Schwester Julie unterm Arm und Tränen in den Augen einen letzten Blick auf den Friedhof warf.

    Es war ein kalter, trostloser Dezembertag. Der unter ihren Füßen knarrende Schnee lag wie weißes Leinen über den steinernen Gräbern, deren glatt polierte Platten darunter verborgen blieben. Genauso wie die Menschen, die man zur letzten Ruhe hierher verbracht hatte. Die langsam, aber stetig in der Erde vor sich hin rotteten.

    Ihre Eltern hatten eine Feuerbestattung vorgezogen und so war ihre Asche in einer schlichten Nische im Urnenhain eingestellt worden. Was für ein klägliches Ende. Nichts war übrig geblieben außer einem Häufchen Ruß in einem schmalen Gefäß. Gerade so groß, um einen bescheidenen Strauß Blumen darin etwas Wasser zu spenden.

    Luc ließ seine Blicke über die Grabsteine vor ihm wandern, die aufgereiht wie Zinnsoldaten akkurat in Reih und Glied angeordnet waren. Viele der Familiennamen, die man darauf lesen konnte, waren ihm geläufig. Manche vielleicht mehr, als ihm lieb war. Doch in diesem Moment waren alle Erinnerungen verblasst und von einer unsäglichen Trauer überlagert. Julie hatte sich bislang gut gehalten, doch plötzlich spürte ihr Bruder, dass ihre Knie nachgaben.

    Er fing sie gerade noch auf und brachte sie zu einer Bank, die direkt an der Friedhofsmauer stand. Notdürftig wischte er die darauf liegende Schneeschicht von der Sitzfläche ab.

    Ihre langen Mäntel würden sie auch so ausreichend schützen. Julie klammerte sich schluchzend an ihn. Vergrub ihr braunes, langes Haar in seiner Brust. Sie hatten seit gut einer Stunde kein Wort mehr gesprochen. Weder bei der kurzen Trauerfeier vor den Urnen ihrer Eltern noch bei den anschließenden Beileidsbekundungen, die sie als engste Hinterbliebene entgegengenommen hatten.

    Hernach waren die beiden noch eine ganze Weile alleine bei den Überresten ihrer Eltern verblieben. Die Ruhe, die dabei einkehrte, hatte Julie apathisch werden lassen. Doch nun ließ sie ihren Gefühlen freien Lauf. Luc zog sie ganz nah zu sich, streichelte über ihren Kopf und schwieg weiter.

    Kein Wort war geeignet auszudrücken, was er empfand. Was sie empfand. Es war, als stünde die Zeit still, die Welt still. Und so war es auch.

    Die Welt stand still. Zumindest in ihren Herzen. Anderswo mahlten die Mühlen weiter. So, wie sie immer weitermahlten. Bis es nichts mehr zu mahlen gab. Doch anderswo war nicht hier.

    2

    »Es ist eine Weile her, seit wir das letzte Mal so eng zueinander standen«, sagte Julie, als sie sich vom Friedhof zurück zu ihrem Elternhaus begaben. Luc sah sich die Fassaden der Häuser an, an denen sie vorbeikamen. Er war nicht bereit, darüber zu sprechen. Das ließen seine Gedanken in diesem Moment nicht zu. Also wich er aus.

    »Wie oft sind wir in all den Jahren diese Gasse entlanggefahren?«, fragte er rhetorisch. Rückblickend auf jene Zeit, als sie entweder Mama oder Papa mit dem Auto zur Schule in die nahegelegene Stadt Mürren gebracht und von dieser wieder abgeholt hatte. Allen Aufrufen zur Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel zum Trotz. Julie sah ihn mit einem vielsagenden Blick von der Seite an. Er glich in vielem seinem Vater. Auch wenn er sich das selbst niemals eingestanden hätte.

    »Keine Ahnung«, antwortete sie. Wohl wissend, was in ihrem Bruder gerade emotional vorging. Der nahm seine Brille kurz ab, wischte mit einem Ärmel über sein Gesicht und setzte sie dann mit einer ihm eigenen, unnachahmlichen Handbewegung wieder auf. Was Julie ein leichtes Lächeln in ihrem tränenzerronnenen Gesicht abtrotzte.

    »Ich weiß es auch nicht«, begann er. »Tausende Male. Und doch hätte ich bis zu diesem Moment die Häuser nicht so beschreiben können, wie ich sie gerade sehe. Was zeigt, dass es stets auf die Perspektive ankommt.« Julie nickte.

    Papa hatte das auch immer gesagt. Im Stillen fragte sie sich, ob sie diese Gasse tatsächlich niemals zu Fuß oder auf dem Fahrrad durchquert hatten. Wobei das Dorf, in dem sie aufgewachsen waren, gerade einmal anderthalbtausend Einwohner zählte. Und ein dementsprechend überschaubares Wegenetz.

    Vielleicht waren sie aber auch zu behütet aufgewachsen, schlich sich ein kleiner Gedanke kurz bei ihr ein. Der sich wieder verflüchtigte, als Luc weiterredete.

    »Je schöner die Fassade, desto hässlicher, was sich dahinter verbirgt.« Er zeigte dabei auf zwei Häuser, die nicht weit voneinander standen. Und über deren Bewohner es einst durchaus unappetitliche Geschichten zu erzählen gegeben hatte. Freilich nichts Strafbares. Aber sehr wohl Anstößiges. Was in einem Ort wie diesem rasch die Runde gemacht hatte. Und niemals vergessen wurde. So lange es auch immer her sein mochte.

    »Papa hat darüber immer gelacht«, merkte Julie zu diesem Exkurs in die Vergangenheit an. »So, wie er über alles gelacht hat, was irgendwelche heuchlerischen Vorstellungen von Moral anging.« Luc nickte.

    »Ja. Das hat ihn amüsiert. So wie ihn alles amüsierte, was zu Lasten von Leuten ging, die sich selber zu wichtig nahmen.« Seine Schwester stimmte zu.

    »Mama hat es da immer mit Sprichwörtern gehalten.« Sie machte eine kurze Pause. »Wer ohne Sünde ist …« Den Rest des Satzes ließ sie offen. Ja, so waren ihre Eltern. Liebenswert, aber auch sarkastisch. Der Gehsteig endete und sie mussten ihren Weg auf der Fahrbahn fortsetzen. Der glattgewalzte, steifgefrorene Schnee war mit schwarzem Streusplit versehen, was die Rutschgefahr etwas minderte.

    Ein Wagen schlingerte in knappem Abstand neben ihnen vorbei und schlug dann einen scharfen Bogen Richtung Ortszentrum. Der Fahrer hupte dabei, als wären ihm die beiden im Wege gewesen. Julie hatte ihn sofort wiedererkannt, auch wenn sie eine Weile weg von ihrem Heimatdorf Eichenau gewesen war. Erst im September hatte sie eine Stelle als Lehrerin an der Grundschule in Mürren angetreten und war damit nach dem Sammeln von Berufserfahrung in der Fremde zurück in den heimischen Schoß gekehrt. So, wie es sich Mutter und Vater immer gewünscht hatten.

    »Was für ein Arschloch«, nahm ihr Bruder Bezug auf den Autofahrer. Luc war vier Jahre jünger als seine Schwester, hatte aber wohl schon einiges mehr erlebt. Er hatte die mittlere Reife gerade so geschafft, spielte in einer Band Gitarre, die zumeist erst nach Mitternacht auftrat und jobbte gerade so viel, um weder der Familie noch Vater Staat über Gebühr auf der Tasche zu liegen. Worüber es mitunter hitzige Diskussionen im Hause De Colle gegeben hatte.

    Mama Suzanne war ein bürgerliches Leben für ihren Sohn vorgeschwebt, während Papa Michel einen Plan B forderte, wenn aus der Musik nichts wurde. Daran hatte man sich gerieben. Einmal mehr. Einmal weniger. Und manchmal auch gar nicht, wenn es etwas zu feiern gab. Wofür es mitunter keines großen Anlasses bedurfte. Die Launen der Menschen waren unergründlich. Als sie zur Kreuzung beim Feuerwehrhaus kamen, die links zum Marktplatz und rechts heimwärts führte, blieben sie kurz stehen. Blickten hoch zum Gebäude, das vor ihnen stand. Beide waren dort in den Kindergarten gegangen.

    Und Julie auch vier Jahre lang zur Grundschule, die Luc in Mürren besucht hatte. Wegen Überqualifikation des Lehrkörpers in Eichenau, wie es ihr Vater begründet hatte.

    Er wolle nicht, dass aus seinem Sohn noch ein Genie wurde, wie er stets mit einem süffisanten Lächeln auf den Lippen betonte. Ein normaler Mensch mit all seinen Ecken, Kanten und Eigenheiten genügte ihm. Und den hatte er mit Luc dann auch bekommen.

    »Kannst du dich noch erinnern?«, fragte Luc seine Schwester und zog sie sicherheitshalber ganz nahe zu sich.

    Womöglich spielten ihr ihre Beine erneut einen Streich. Julie steckte eines ihrer Stofftaschentücher zurück in die Manteltasche und sah ihren Bruder eine Weile lang verträumt an. So, als wären sie wieder genau dort. Kleine Kinder, die ihre ersten Schritte im Leben machten. Der eine im Kindergarten, die andere in der Schule.

    »Ja«, sagte Julie und ihre Augen glänzten in diesem Moment nicht von den Tränen, sondern von der Freude, die sie als Kind empfunden hatte. »Es war schön hier. Mama und Papa hätten gar nichts anderes zugelassen.«

    Luc nickte und versteckte dann sein Kinn wieder unter Kragen und Schal. Die Kälte war beißend wie ein ungezogener Hund. Ja, so waren ihre Eltern. Kompromisslos, wenn es um ihre Kinder ging. Luc stellte Julie eine kurze Frage.

    »Wie viele Leute sind heute da gewesen?« Julie starrte vor sich hin. So, wie sie es in der Volksschule, vor der sie sich gerade befand, auch manchmal getan hatte. Damals in Träumen, nun mit Sorgen.

    »Ich weiß nicht«, antwortete sie sich erst schrittweise erinnernd. »Viele Leute aus dem Klinikum in Mürren, wo Mama ihr ganzes Berufsleben lang gearbeitet hat. Ein paar private Freunde von ihr. Papas Vereinskameraden und Leute von der Gemeinde. Der Bürgermeister, ein Literaturkritiker oder zwei. Was weiß ich. Ich hab kaum bis zur Wand gesehen, neben der wir gestanden sind.« Luc blickte in Richtung des Marktplatzes, der nur hundert Meter entfernt war, aufgrund einer leichten Straßenbiegung von ihrem Standort aus aber nicht eingesehen werden konnte.

    »Irgendjemand ist heute am Friedhof gewesen, der dort nicht hingehörte«, sprach er plötzlich aus voller Überzeugung.

    »Ich habe diese Person erst gesehen, als wir Richtung Ausgang unterwegs waren. Dann ist sie verschwunden. So schnell wie ein Schatten verschwindet, wenn man aus dem Licht in die Finsternis tritt.« Julie sah ihren Bruder verstört an.

    »Der Besucher eines anderen Grabs. Oder ein verirrter Schaulustiger«, sagte sie mit ihren Gedanken weit weg. Doch Luc schüttelte den Kopf.

    »Gehen wir noch rauf ins Café?«, fragte er stattdessen. Julie war erst irritiert, verstand dann aber. Vater hätte erwartet, dass sie etwas auf sein Wohl tranken. Mutter vermutlich nicht. Also einigten sie sich auf ein Getränk.

    »Dictum, factum«, sagten sie und gaben sich mit dem kleinen Finger die Hand. Gesagt, getan. Papa hatte kein Latein gelernt. Aber er liebte altrömische Sprichwörter. Das war eines davon. Die beiden lächelten einander an, als sie es aussprachen.

    3

    Der Adventmarkt am Hauptplatz von Eichenau stand vor der Tür und die im Halbkreis angeordneten Verkaufsbuden waren bereits aufgebaut und geschmückt worden. Etwas abseits stand eine kitschige, mit klobigen Holzfiguren bestückte Krippe, die seit ihrer Kindheit nicht mehr restauriert worden war.

    Grelle Weihnachtsbeleuchtung gab einen Vorgeschmack auf das, was am Wochenende hier los sein würde. Julie hatte das Fest am Ende des Kalenderjahres immer geliebt. Vor allem, weil die ganze Familie beisammen war und sich in dieser Zeit stets so etwas wie wohlig anmutendes Glück über ihr Herz legte. Dieses Mal würde es freilich anders sein. Und niemand, selbst Gott nicht, wusste, ob es jemals wieder so sein würde.

    Alles war in jenem Augenblick auseinandergebrochen, als sie ein Polizist über den Tod ihrer Eltern informiert hatte. Vor gerade einmal einer Woche. Oder war es zehn Tage her gewesen? Sie wusste es nicht mehr so genau. Seitdem hatte die Zeit ihre gewohnte Dimension verloren.

    Luc öffnete die Tür zum Café und ließ seiner Schwester den Vortritt. Nachdem sie ihre Mäntel abgelegt hatten und die Blicke der anwesenden Gäste wieder von ihnen weggewandert waren, nahmen sie in einer kleinen Nische am Fenster Platz.

    Die Besitzerin tauchte plötzlich aus dem Nebenraum auf und drückte in etwas zu eifrigem Tonfall ihr Mitgefühl aus.

    Luc nickte dankend und bestellte zwei Gläser Gin Tonic, das Lieblingsgetränk ihres Vaters.

    Michel De Colle war keineswegs Stammgast in diesem Lokal gewesen, aber bekannt genug, dass man es vorrätig hielt.

    Die Wirtin umarmte Julie kurz und ging dann zurück zum Tresen. Was einen etwa achtzig Jahre alten Mann auf den Plan rief, der gemeinsam mit einigen anderen Veteranen aus früherer Zeit an einem Glas Wein herumnuckelte.

    »Ich möchte euch mein Beileid zum Ausdruck bringen«, sagte er mit fester Stimme und einer leichten Verbeugung. Luc nahm seine ausgestreckte Hand entgegen, während ihn Julie anlächelte. So, wie nur Julie lächeln konnte. Da Vinci hätte seine wahre Freude daran gehabt.

    »Danke, Herr Groth«, antwortete ihr Bruder. »Unser Vater hatte großen Respekt vor Ihnen.« Josef Groths faltiges Gesicht begann förmlich zu leuchten. Er war ein ebenso eifriger wie begeisterter Leser von Michel De Colles Romanen gewesen. Papa hatte das wohlwollend zur Kenntnis genommen. So, wie er jeden wohlwollend zur Kenntnis genommen hatte, der sich ihm nicht in den Weg stellte. Ohne jede Aussicht auf Erfolg.

    »Die Affen greifen in den Strom, bekommen einen Schlag und tun es im nächsten Moment erneut«, hatte er stets über jene Leute gesprochen, die partout nicht einsehen wollten, gegen ihn den Kürzeren zu ziehen. Wovon es durchaus einige gab.

    Als sich der Alte wieder zurückgezogen hatte und ihre Bestellung serviert worden war, ging die Tür auf und der Fahrer des Wagens trat ein, der sie zuvor beinahe überfahren hatte.

    Er grüßte lauthals in die Runde und stellte sich dann breitfüßig an die Ausschank, wo er ein Glas Bier bestellte. Alex Kriss. Ein rothaariger Rabauke ohne jede Manieren. Gab den durchtrainierten Sportler, wozu er aber bei weitem zu viel rauchte und noch viel mehr trank.

    Julie hatte ihn stets ignoriert, obwohl sie einst gemeinsam zur Schule gegangen waren. Doch für Luc war dieser Kerl, so selten er ihn auch zu Gesicht bekam, ein rotes Tuch. Julie erkannte sofort, was sich hier anbahnen konnte. Also legte sie ihre Hand auf jene ihres Bruders, die kraftvoll das Glas Gin Tonic vor ihm umklammerte.

    »Ira furor brevis est«, zitierte sie den römischen Dichter Horaz. Der Zorn ist eine kurze Raserei. Lucs Augen funkelten. Doch dies war weder der Ort, schon gar nicht die Zeit.

    Das sah allem Anschein auch Kriss so, der zu Julies Verwunderung den Blicken ihres Bruders auswich und stattdessen ein Gespräch mit einem Menschen anfing, der vermutlich im Nebenzimmer saß. Von ihrem Platz aus konnten sie das nicht genau erkennen. Luc hob sein Glas, um ein neues zu bestellen, doch als die Kellnerin kam, schnitt ihm seine Schwester das Wort ab.

    »Wir möchten gerne zahlen«, sagte sie ruhig, aber bestimmt. Dabei sah sie ihren Bruder unmissverständlich an. Der atmete tief durch und tätschelte dann Julies Wange ganz leicht.

    Alex Kriss musste warten. Und seine ganze Sippe. Über die ihr Vater selten erfreulich gesprochen hatte. Zumindest, was eine penetrant geltungssüchtige Person betraf, die alles an sich reißen wollte, was in diesem Dorf Gültigkeit hatte.

    Sie gingen zur Garderobe, kleideten sich an und grüßten kurz zum Abschied. Vereinzeltes Gemurmel war zu vernehmen. Und schließlich ein widerlicher Laut, der das Geräusch eines Darmwindes simulieren sollte.

    Luc drehte sich daraufhin blitzartig um. Doch Julie packte ihn wohlwissend am Arm und schob ihn nach draußen.

    Narratio argentum aurum silentium. Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.

    4

    Sie überquerten den Marktplatz und kamen zu einem schmalen Durchgang, der aus dem Ortszentrum in die umliegenden Gassen führte, die zum historischen Dorfkern gehörten.

    Die Geschichte Eichenaus ließ sich aufgrund herausragender Ortschronisten bis ins 12. Jahrhundert zurückverfolgen.

    Mit einigen äußerst interessanten Bonmots und Anekdoten verfeinert. Doch die Zeit war zerronnen wie Butter in der prallen Sonne. Und übrig war das geblieben, was sich selbst dem ignorantesten Blick nicht entzog. Der Niedergang. Befeuert durch kurzsichtige Bundespolitik und zügellosen Liberalismus. Längst lebte man nur noch von der Substanz. Und selbst die wurde am Altar wirrer Weltanschauungen geopfert.

    In Orten wie Eichenau manifestierte sich das durch stetiges Ausbluten alteingesessener Infrastruktur. Wer brauchte schon Post, Bank oder Nahversorger? Die gesellschaftlichen Strukturen wurden stückweise zerstört und durch Leere ersetzt.

    Emotionale Kälte. Was blieb, waren Rituale. Brauchtum. Aber auch das wurde bekämpft, wie und wo man nur konnte.

    In schiefes Licht gerückt. Die Welt war voll von Akteuren, die mit ihren Kampfbegriffen alles mundtot zu machen versuchten, was nicht in ihr eigenes engstirniges, sinnentleertes Bild passte. Wie im finstersten Mittelalter. Man erklärte jemanden zum Leugner, zum Versteher, zum Verschwörer.

    Und schon hatte man ihn totgeschlagen. Nicht physisch. Aber gesellschaftlich und vor allem emotional. Die Hexenjagd des 21. Jahrhunderts brauchte keine Mistgabeln und Scheiterhaufen mehr. Sie bediente sich weitaus perfiderer Mittel.

    Luc machte am alten Kaugummiautomaten halt und sah zu seiner Verwunderung, dass dieser tatsächlich noch befüllt wurde. Etwas umständlich holte er das Portemonnaie aus der Gesäßtasche seiner Anzughose hervor und kramte einige Münzen raus. Steckte sie in den dafür vorgesehenen Geldschlitz und drehte schließlich den schwarzen Riegel im Uhrzeigersinn herum.

    Das daraufhin folgende Geräusch der herunterfallenden Süßigkeiten

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