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Der Konzern: Thriller
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eBook337 Seiten4 Stunden

Der Konzern: Thriller

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Über dieses E-Book

Mary Jones wird in einer Kleinstadt in Tennessee als viertes Kind eines Baumwollfarmers geboren. Nach einer schweren Kindheit bekommt sie schließlich eine Anstellung bei dem Saatgutgiganten Santomon. Bald entdeckt sie die Missstände im Unternehmen und einen Händel mit dem Militär. Kurz vor ihrem Tod ersinnt sie einen Plan, ihren Geist in ein neues Leben hinüber zu retten.

SpracheDeutsch
HerausgeberFederfrei Verlag
Erscheinungsdatum26. Mai 2017
ISBN9783903092853
Der Konzern: Thriller

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    Buchvorschau

    Der Konzern - Michael Koller

    5

    Kapitel 1: Diese Welt

    Novembertage

    »Vierzigste, Ecke fünfte!«, sagte ich zum Fahrer und schlug die Tür hinter mir zu. Ich blickte mich kurz im Fahrgastraum um und entdeckte eine grüne, aus Gummi gefertigte Maske, die auf der Fußmatte neben mir lag. Ein Überbleibsel aus der vergangenen Halloween-Nacht. Der Lenker brummelte nur etwas Unverständliches, und das Taxi fuhr ab. Ein paar Blocks schnurgerade Richtung Süden war keine allzu einträgliche Fuhre. Alltagsgeschäft eben. Ich schloss meine Augen. Kehrte an den Ort zurück, den ich gerade verlassen hatte. Das Schwarzhaarige Mädchen von Egon Schiele tauchte wieder vor mir auf. Jenes Bild, das ich noch vor wenigen Minuten so intensiv, so inbrünstig im Museum of Modern Art studiert hatte. Es ganz und gar verschlang. Mich zerrissen fühlte, bis ich endlich verstand. Oder zumindest zu verstehen glaubte, was der an der Spanischen Grippe zugrunde gegangene Maler dem Betrachter offenbarte. Schon morgen würde ich mich erneut dieser Prüfung unterziehen. Bei einem anderen Bild, einem anderen Genie.

    »Neun Dollar fünfzig, Lady«, forderte der Chauffeur seinen Lohn. Alles war auf ein Minimum reduziert worden. Ich öffnete mein Portemonnaie und gab ihm einen Zehner.

    »Happy Halloween«, verabschiedete ich mich und trat auf den Bürgersteig. Leichter Regen setzte ein. Ich schulterte meine klobige schwarze Handtasche und strich durch mein schulterlanges brünettes Haar. Zweiundvierzig Jahre alt. Die Hälfte davon hatte ich geträumt, irgendwann einmal hier zu leben. Mitten in Manhattan. Nun war es geschehen. Doch ich war nicht glücklich. Spürte eigentlich nichts bis auf ein Gefühl, das sich immer wieder wie eine lähmende Angst quer durch meinen Körper zog. Ich ging in das kleine Lebensmittelgeschäft eines gebürtigen Syrers namens Ahmet und ließ mir in dünnen weißen Plastiktüten mein Abendessen einpacken. Eine Zwei-Liter-Flasche Orangensaft, Fladenbrot, Oliven, Käse und eine süße orientalische Köstlichkeit, deren Namen ich mir nicht merken konnte. Wieder auf der Straße huschte ich durch den stärker werdenden Niederschlag und trat rasch unter das kurze Vordach des Hotels, in dem ich seit ein paar Tagen logierte. Die Zimmer im Yardiott wurden je nach Saison und Ausstattung zwischen hundertfünfzig und zweihundert Dollar pro Nacht an Touristen oder Geschäftsreisende verhökert. Eigentlich ein stolzer Preis, nicht aber für New Yorks 5th Avenue. Ich hatte mit dem Manager gesprochen und wurde schließlich für fünfhundert Dollar pro Woche, ein halbes Jahr im Voraus, in einem Queen-Size-Room im 26. Stock einquartiert. Cash, versteht sich. Ohne Zimmerservice. Wäschetausch alle sieben Tage. Staubsauger und Putzutensilien konnten bei den Etagenmädchen ausgeliehen werden. Ich hatte seit Kindheit an genügsam gelebt. Und würde das so lange weiter tun, bis der Krebs in mir mich zerfressen hatte.

    *

    Nachdem ich meine Mahlzeit an dem schmalen Schreibtisch neben der Fensterfront eingenommen hatte, legte ich mich auf die Polstercouch gegenüber und machte den Fernseher an. Zappte mich durchs Programm und blieb schließlich bei einer Sendung über Astronomie hängen. Das Gesetz der Sterne hatte mich stets fasziniert, mich mitunter jedoch auch meines eigenen Lebenssinns beraubt. Im Bestreben, etwas zu begreifen, was nicht zu begreifen war. Hier in diesem urbanen Moloch, diesem Meer aus Licht waren die funkelnden Punkte am nächtlichen Himmel nicht zu erkennen. Und damit verschwand für die Menschen auch der Blick nach draußen. Die Demut vor wahrer Größe und Schönheit. Wer keine Sterne sah, sah nur noch sich selbst. Und den kleinen Haufen, den er aus dem Erdboden scharrte. So hatte ich schon immer gedacht. Auch in jenen Tagen, an denen ich noch Ideale vor mir hertrug. An denen ich noch an etwas glauben wollte. Doch diese Tage waren gezählt. Noch ehe ich jenen verhängnisvollen Anruf erhalten hatte. Ich entsann mich an diesen Tag zurück, während vom Bildschirm an der Wand der mächtige Jupiter seine Kreise zog.

    *

    »Mary«, meldete sich die Stimme des Betriebsarztes, als ich den Hörer zu meinem Büroanschluss abgenommen hatte. »Doktor Wincastle hier. Komme doch im Laufe des Nachmittags zu mir rüber. Die Untersuchungsergebnisse sind da.« Die Mitarbeiter der Forschungslabors mussten sich alle drei Monate einem gründlichen Medizincheck unterziehen. Das war Standard. Nicht Standard hingegen war, dass man nach Auswertung der Tests angerufen wurde. Irgendetwas konnte also nicht stimmen. Ich brach die Analyse der Versuchsreihe ab, die wir uns am Vortag vorgenommen hatten, und ging auf direktem Weg zu Wincastles Ordinationsraum.

    »Spuck‘ es schon aus«, forderte ich mein Gegenüber ohne Umschweife auf, während ich mich in den breiten Drehlederstuhl vor seinem Schreibtisch setzte. Wincastles Blick ging nach unten. Hin zu einem Fluchtpunkt, in den er sich zu verkriechen suchte. Das war an seiner ganzen Körperhaltung herauszulesen. Er atmete tief und schwer, ehe er sich sammelte und mir dann direkt ins Gesicht sah.

    »Wie lange kennen wir uns jetzt schon, Mary?«, stellte er mir eine etwas zu durchsichtige Frage. Er wollte Zeit gewinnen. Was das in mir wachsende Unwohlsein gerade noch förderte. Nichtsdestotrotz spielte ich mit.

    »Seit ich hier angefangen habe, Clarke. Beinahe siebzehn Jahre ist das mittlerweile her.« Er nickte wohl wissend. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatten wir so etwas wie Gefühle zueinander gehegt. Doch es war nie über einen heißen Flirt hinausgegangen. Wie so oft in meinem Leben.

    »Ich habe mir gemeinsam mit Professor Byton aus der Zentrale die Ergebnisse der Magnetresonanz deines Bauchraumes angesehen.« Byton war der Chefarzt des Unternehmens, das in Saint Louis seinen Hauptsitz hatte. Dazu kamen Niederlassungen in einunddreißig Bundesstaaten und viele weitere auf der ganzen Welt. Der Doktor blickte mich ernst an, während mein Pulsschlag in den Ohren zu pochen begann. »Bauchspeicheldrüsenkrebs«, würgte er, auf weitere Umschweife verzichtend, hervor. Ich riss meine Augen weit auf. Ich hatte mit vielem gerechnet. Doch nicht mit einem Todesurteil.

    *

    Ich zog den weißen Hotelduschvorhang zur Seite, stieg in die emaillierte Schale und drehte an einer klobigen Armatur. Es dauerte eine Weile, ehe sich das Wasser erwärmte und die Strahlen wohltuend mein Gesicht umspülten. Nach der Diagnose von Dr. Wincastle hatte ich alles über Bauchspeicheldrüsenkrebs in Erfahrung gebracht, was ich zuvor noch nicht wusste. Auch wenn man die Erkrankung bei mir bereits im Frühstadium erkannt hatte, stand mir nur eine dreiprozentige Überlebenschance ins Haus. Das war eindeutig zu wenig. Deshalb schlug ich es nach gründlicher Überlegung auch aus, mich operieren zu lassen oder mich langwieriger, schmerzvoller Chemotherapien zu unterziehen. All das würde nichts am Unausweichlichen ändern. Wenn ich Glück hatte, konnte ich mit hoch dosierten Schmerzmitteln noch ein Jahr leben, ehe die Verdauungssäfte alles in mir zerstörten. Sie hatten bereits damit begonnen. Fraßen sich durch Nieren, Leber, Magen und Darm. Es gab keine Chance auf Heilung, wenngleich die Ärzte mir das immer wieder zu suggerieren versuchten. Wohl in der Hoffnung, mich nicht vollends in die Verzweiflung zu treiben. Doch ich war Mary Jones! Und in mir reifte ein Plan.

    *

    Da ich die mir verbleibende Zeit nicht in Krankenhäusern oder Ambulanzen verbringen mochte, dämpfte ich meine langsam im Bauch und Rücken beginnenden Schmerzen mit Medikamenten. Dr. Wincastle hatte aufgrund meiner Weigerung, mich in laufend überwachte ärztliche Behandlung zu begeben, meine Lebenserwartung um sechs Monate nach unten korrigiert. Für das, was ich vorhatte, würde die Zeit reichen. Ich zog die Vorhänge zur Seite und blickte vom 26. Stock hinab auf die 5th Avenue. Es war früh am Morgen, und ich hatte etwas geschlafen. New York hatte das augenscheinlich nicht. Zumindest zogen die kleinen Ameisen da unten weiter unablässig ihre Linien über die Straßen und Bürgersteige der Stadt. Ich ging zurück zum Bett, schüttelte die Kopfpolster auf, zog das Leintuch glatt und schlug die schwere Nachtdecke auf. Dann brühte ich im Kocher etwas Wasser auf, schenkte es in eine kitschige Tasse und rührte Instantkaffee hinein. Zwei Löffel Zucker dazu und ein Donut vom Vortag. Ich brachte mein bescheidenes Frühstück zur Fensterbank und ging im Pyjama zum Nachtkästchen, aus dem ich einen kleinen Schlüssel entnahm. Diesen steckte ich in den Griff eines der insgesamt drei aneinandergereihten Fenster und schloss es auf. Aus Sicherheitsgründen und um Selbstmorden vorzubeugen, hielten Hotelbetreiber stets ihre Fenster abgeschlossen. Doch ein paar Klicks im Internet genügten, um sich entsprechendes Gerät zu besorgen. Ich öffnete und sog ein paar intensive Atemzüge lang die kalte, an mein Gesicht wehende Luft ein. Dann machte ich das Fenster wieder zu. Ich wollte nicht unnötiges Aufsehen erregen. Nach dem Frühstück ging ich ins Bad, wusch mich, putzte die Zähne und entledigte mich schließlich meines Nachtgewandes. Anschließend öffnete ich die Tür zum schmalen Wandschrank und legte mir die Kleidung für den kommenden Tag zurecht. Ich hatte zweiundvierzig Jahre lang wie ein Uhrwerk gelebt. Wieso sollte der bevorstehende Tod plötzlich etwas daran ändern? Nun, eine Neuerung war doch in mein Leben getreten. Ich kleidete mich endlich so, wie ich es immer wollte, mich aber niemals getraut hatte. Vielleicht aus Scham, vielmehr aber aus Unsicherheit. Ich hatte meine Weiblichkeit nur sehr selten ausgelebt, da ich mich als Wissenschaftlerin in einer von Männern dominierten Welt behaupten musste und wollte. Das ging besser in Hosen und Turnschuhen als im Rock mit High Heels. Und da ich kein Bewusstsein für meinen Körper entwickelt hatte, verleugnete ich ihn kurzerhand. Doch seit ich vor einigen Tagen die Seile oder, besser gesagt, die Fäden zu meiner Vergangenheit durchschnitten hatte, traute ich mich, Frau zu sein. Ohne Verklemmung, ohne Angst, es zu zeigen. Also streifte ich Lingerie von Victoria’s Secret über, hüllte meine Beine in hauchzarte schwarze Nylons und zog ein schickes Kostüm an, das ich mir bei Saks gekauft hatte. Anschließend schlüpfte ich in meine Pumps, nahm meine Handtasche an mich und verließ das Zimmer. Als ich unten im Foyer mit dem Lift angekommen war, spürte ich den Blick eines Mannes auf mir ruhen, der mich verstohlen von der Seite her betrachtete. Ich strahlte mit meinem roten Lippenstiftmund in seine Richtung und ging hinaus auf die Straße.

    *

    Ich hatte mir vielleicht mein Selbstbewusstsein, meine Identität ein Stück weit erobert, meine Einsamkeit war jedoch geblieben. Und die Zeit war zu knapp, um daran noch groß etwas zu ändern. Nachdem ich Piet Mondrians Komposition in Braun und Grau mit meinen Augen fast zerfressen hatte, kehrte ich dem Museum den Rücken und ließ mich etwas durch die Häuserschluchten treiben. Da es am frühen Nachmittag jedoch empfindlich kalt wurde und meine hochhackigen Schuhe höllisch zu drücken begannen, setzte ich mich kurzerhand ins nächstbeste Lokal. Irgendwo in der Nähe des Times Square. Ich hatte keine Lust, mir ein Musical anzuschauen, wofür in diesem Teil Manhattans beinahe auf jedem Quadratmeter Werbung gemacht wurde, also bestellte ich entgegen aller Gewohnheiten ein Glas Chardonnay und trank es am Tresen in zwei Zügen aus. Der Barkeeper sah mich fragend an, und ich nickte. Noch eins. Ich stellte meine Tasche vor mir ab, holte einen kleinen Spiegel hervor und checkte kurz mein Make-up.

    »Sie sehen toll aus«, vernahm ich plötzlich eine Stimme. Ich drehte mich nach links und sah einen Mann etwa in meinem Alter, der drei Hocker weiter vor einer unordentlich gefalteten Zeitung und einem Glas Whiskey saß. Ich wusste nicht recht, was ich daraufhin sagen sollte. Die Männer, mit denen ich die letzten Jahre zu tun hatte, fanden mich, wenn überhaupt, nett. Charmant, wenn es hoch ging und der Promillepegel nach der Arbeit stieg. Aber toll. Das hatte ich noch von keinem gehört. Doch ich hatte die letzten anderthalb Jahrzehnte auch zum Großteil in einem Nest namens Marshall, Missouri, und nicht in New York City zugebracht. Da verlor man leicht den Bezug zur Welt da draußen, da verklärte die Optik sich. Ich lächelte leicht, aber würdevoll und widmete mich dem vor mich hingestellten Getränk. Es war ruhig hier drinnen. Überraschend ruhig für einen Ort wie diesen. Die Musik aus dem Radio tönte nur sehr diskret durch den Raum, und die obligatorischen Fernseher an den Wänden fehlten gänzlich. Ich fühlte mich hier irgendwie in meine Studienzeit zurückversetzt. Nach Clarksville, wo ich Biologie und Chemie studiert hatte. Dort hatte es auch solche Lokale gegeben. Was wohl aus ihnen geworden war? In einer der Sitznischen saß ein älteres Paar, vor einem Spielautomaten stand ein junger Kerl in Arbeitskleidung. Vermutlich ein Paketdienstfahrer beim verfrühten Feierabend. Ehe ich mein Glas leer hatte, kam der Barmann auf mich zu. Hinter ihm funkelten die Flaschen im fahlen Licht der hoch an der Decke hängenden Lampen.

    »Dieser Gentleman möchte Sie noch auf ein Getränk einladen. Akzeptieren Sie?« Er deutete dabei auf den Herrn, der mich zuvor schon angesprochen hatte. Ich betrachtete ihn nun näher. Er trug einen schwarzen Anzug, der nach Wall Street aussehen sollte, aber nicht von der Wall Street war. Mich dagegen konnte man ohne Weiteres als Landei bezeichnen. War ich doch am Lande aufgewachsen, hatte am Lande studiert und auch am Lande, in der Provinz ein Gutteil meines Lebens gearbeitet. Dennoch war auch an mir die Zeit nicht achtlos vorübergerauscht. Trotz dieser offensichtlich falschen Fassade sah ich etwas an diesem Menschen, was mich interessierte. Dieser Mann hatte ein gewisses Etwas in seinem Blick, etwas sehr Einnehmendes. Sein Gesicht war nicht schön, aber es hatte Charakter. Ich spürte das in jeder kleinen Falte, die es überzogen. Also nickte ich kurz. Der Mann stand auf und setzte sich neben mir hin.

    »Sie haben Zweifel, meine Dame«, eröffnete er die Unterhaltung. Ich wollte darauf etwas erwidern, doch er ließ mich nicht. »Nein, nicht, was mich betrifft. Nein, Sie haben an sich selbst Zweifel.« Wie recht er damit hatte. Er las etwas in mir, was wie in großen Lettern gemeißelt in meinem Gesicht stand.

    »Was bringt Sie zu dieser Annahme?«, fragte ich vielleicht etwas zu zickig. Doch er überhörte es.

    »Sie fühlen sich mit Makeln behaftet. Vor allem, was Ihr Äußeres betrifft. Was Ihre Seele betrifft, so brauche ich dafür noch etwas mehr Zeit, um sie zu ergründen. Doch seien Sie gewiss, Sie irren. Sie sind schön. Wunderschön. Und es hätte nicht dieser Aufmachung bedurft, Ihnen das zu sagen.« Dabei besah er meinen ganzen Körper. Ich spürte, dass ich zu erröten begann.

    *

    Seine Stöße drangen bis ins tiefste Innere von mir vor. In beiderlei Hinsicht. Ich schrie vor Lust ebenso wie vor Schmerz. Doch genau diese Urgewalt war es, die ich in diesem Augenblick brauchte. Mein Körper, in denen die Zangen des Krebses unbarmherzig scharrten, wurde von einer Welle der Ekstase durchgebeutelt. Immer und immer wieder. Je wilder sein Glied in meine Scham drang, desto befreiter fühlte ich mich. Ich spürte es, ein Mensch zu sein. Mit allen meinen Sinnen. Mit all den unendlichen Gefühlen, die damit einhergingen. Erst als seine Kräfte schwanden, animalischer Schweißgeruch durch meine Nase drang und der Akt endete, indem er sich in einem Kondom entleerte, kam ich wieder zur Besinnung. Stand auf, gab ihm einen Kuss auf die Stirn und verschwand aus dieser Absteige, die irgendwo in der 42. Straße lag. Irgendwo in einer Welt, die bald nicht mehr die meine sein würde. Es sei denn, ich konnte mich selbst überwinden.

    *

    Nachdem ich erfahren musste, Bauchspeicheldrüsenkrebs zu haben, war ich in ein tiefes Loch gefallen. Ich war direkt auf dem Rückweg zu meinem Büro zusammengebrochen und musste von einer Kollegin, die mir eigentlich nicht sehr nahestand, nach Hause gebracht werden. Der Chef der Forschungsabteilung war in Kenntnis gesetzt worden und hatte mir bis auf Weiteres freigegeben. Es war für alle klar, dass ich in Anbetracht der Umstände nicht wieder zur Arbeit kommen würde. Und da die Firma Santomon für derartige Ereignisse gewappnet und versichert war, wurde mir bereits wenige Tage nach Bekanntgabe der Diagnose der Vorruhestand inklusive einer Abfertigungssumme angeboten. Mir blieb nichts mehr, als darin einzuwilligen, räumte mein Büro und ging ohne Abschiedsparty, ohne Torte, Konfetti und Punsch. Auch meinen Bungalow, mein kleines Häuschen am Betriebsgelände, gab ich auf und verstaute einen Großteil meines Hab und Guts in einem sehr langfristig anmietbaren Abteil bei einer Möbeleinlagerung im weit entfernten New Jersey. Nachdem ich mich wieder etwas erholt und die auf mich zukommenden Realitäten begriffen hatte, war ich nach New York gegangen und hatte mich in diesem Hotel eingemietet. Die wenigen Freunde, die ich behalten hatte, rieten mir, gegen das Unternehmen gerichtlich vorzugehen, doch ich winkte ab. Ein Prozess gegen Santomon würde Jahre dauern. Jahre, die ich nicht hatte. Zudem hatte ich ganz genau gewusst, worauf ich mich mit dieser Firma eingelassen hatte. War zu einem Zeitpunkt dahintergekommen, an dem es für mich als integre Wissenschaftlerin bereits zu spät war. Aber womöglich noch nicht als Mensch, der einen guten Teil seines Lebens noch vor sich hatte.

    *

    Ich saß vor meinem Laptop im Hotelzimmer und stellte mir, auf den Bildschirm starrend, während Fotos aus meiner Vergangenheit nach und nach eingeblendet wurden, immer wieder die gleiche Frage. Was machte ein Mensch, der den Tod vor Augen hatte? Ich wusste darauf keine Antwort. Mein Vater war tot. Meine Geschwister hatten Familien gegründet. Wieso ihnen zur Last fallen? Wer wollte schon seinen Kindern zumuten, eine sterbende Frau ins Haus zu holen? Sich von Freunden verabschieden? Auch dazu fehlten mir der Mut, die Kraft, die Intention. Ich würde einsam sterben. Das machte mir am meisten zu schaffen. Ohne jemals wirkliches Glück verspürt zu haben. Ohne die Geburt eines Kindes durchgestanden, ohne jegliche Spur in den Sand der Erinnerung gesetzt zu haben. War das mein Vermächtnis? Kein Vermächtnis zu haben? Einfach nur ausradiert. Wie eine Fliege am Fensterglas. Vielleicht aber nahm ich mich zu wichtig. Zu einzigartig in einer Welt, in der jeder einzigartig sein wollte. Ich stellte den Laptop beiseite und legte mich ins Bett. Strich sanft über meine Nylonstrümpfe. Hätte ich eine Empfindung ins Jenseits oder wo auch immer mitnehmen können, dann diese. Diesen zarten Touch von Chemie auf meiner Haut.

    *

    Ich hatte mir in Tribeca die verrückte Lesung eines verrückten Poeten angehört und war danach durch Chinatown geschlendert. Die Wetterfrösche hatten Schneefall vorhergesagt, und so erwarb ich an einem Stand mit taiwanesischer Ware ein billiges Paar Stiefel und zwei Häuser weiter einen Wintermantel aus Pelzimitat. Es würden die letzten Ausgaben für meine Garderobe sein. Daran gab es nichts mehr zu rütteln.

    In einer Garküche bestellte ich einen großen Topf Hühnersuppe mit langen, hauchdünnen Nudeln darin und trank dazu eine Tasse grünen Tee. Ich hatte beschlossen, am kommenden Tag mit dem Schreiben meiner Memoiren zu beginnen. Vielleicht würde mir das jene Erinnerung verschaffen, nach der ich mich so sehnte.

    Da die Zeit drängte, würde ich künftig nur noch selten mein Hotelzimmer verlassen. Bloß, um irgendetwas zu essen einzukaufen. Solange mein langsam sterbender Körper nach Nahrung verlangte, musste ich sie ihm auch zuführen.

    Auf dem Weg zur Untergrundbahn spürte ich, wie sich alles in mir zusammenzog. Ich öffnete meine Handtasche und schluckte einige Pillen runter. Mittlerweile hatte ich gelernt, das auch ohne Wasser zu bewerkstelligen. Die Messer stießen wieder einige Millimeter tiefer in meinen Leib. Sechs Monate, hatte Wincastle gesagt. Davon war einer fast schon durch. Beim Abgang in die Metro stand ein alter Mann, der rauchend Zeitungen verkaufte. Ich nahm eine, gab ihm ausreichend Trinkgeld und bat ihn um eine Zigarette.

    »Gerne, Lady«, lächelte er mich an, blickte kurz meine Beine hinab und gab mir schließlich Feuer. Ich hatte seit meiner Zeit am College nicht mehr geraucht. Und es danach niemals mehr vermisst. Dennoch sog ich nun gierig das Nikotin in mich ein. Ehe es vorüber war, wollte ich all die Sinne, all die Gefühle dieses Lebens noch einmal in mir, an mir und um mich herum verspüren.

    Lebenslinien

    Ich wurde am 14. März 1972 in Pulaski, Tennessee, geboren. Von unserer Baumwollfarm in Nutbush aus wären es nur etwa fünfzig Meilen bis zum nächsten Spital mit Entbindungsstation gewesen, doch mein Vater fuhr die ganzen hundertsiebzig Meilen Richtung Osten, da in Pulaski der Ku-Klux-Klan gegründet worden war und Frank Jones es als heilige Pflicht ansah, seine Tochter oder, wie er insgeheim gehofft hatte, seinen Sohn auf diesem historischen Flecken Erde das Licht der Welt erblicken zu lassen.

    *

    Ich hatte drei Geschwister. Meine beiden Brüder Frank junior, der der Einfachheit halber »Junior« gerufen wurde, und Peter sowie meine Schwester Sally. Als Erstes in meinem noch so jungen Leben erinnerte ich mich an die weißen Baumwollfelder, die unsere Familie bewirtschaftete. Die reifen, geöffneten Kapseln sahen aus wie kleine Wattebäusche, die am Ende von dünnen, braunen, nach oben ragenden Ruten hingen. Doch dieser Schein trog. Wie so vieles im Leben. Denn griff man unachtsam nach diesen Tupfern, schnitt man sich an den scharfkantigen Hülsen, die die Baumwolle ummantelten. Wir lebten in einem typischen Haus im Stil der ersten Siedler. Weiß getünchte Bretter an der Fassade, eine ausladende Veranda vor der Eingangstür. Im Inneren des Gebäudes hatte freilich längst die Moderne Einzug gehalten. Fließendes Wasser, Strom, Kühlschrank, Fernseher, Waschmaschine. Eine Farmerfamilie, die es durch harte Arbeit zu bescheidenem Wohlstand gebracht hatte. Neben meinen Eltern und meinen Geschwistern lebte auch mein Großvater mit im Haus. Als die Jüngste von allen war es mir zugedacht, seinen Erzählungen zu lauschen. Vom Zweiten Weltkrieg. Von seinem Vater, der im Ersten Weltkrieg ausgeblieben war. Von der liebevollen Strenge, die seine Mutter ihm angedeihen hatte lassen. Von seinen Brüdern und Schwestern. Vom Überlebenskampf in Zeiten der Weltwirtschaftskrise. Von seiner Frau, meiner Großmutter, die viel zu früh gestorben war. Ich verstand das damals alles nicht und hatte es dennoch verinnerlicht. Weil es mir wert erschien, die Erinnerungen eines anderen Menschen zu behalten.

    *

    Baumwolle anzubauen, nahm mehr oder weniger das ganze Jahr in Anspruch. Die Aussaat erfolgte im Frühling, die Ernte im Herbst. Aufgrund der langen Wachstumszeit und der unterschiedlichen Reifung waren nach der Ernte eine schnelle Feldbestellung und Neuaussaat notwendig, um mit dem Zyklus der Natur Schritt halten zu können. Zudem erforderte der Baumwollanbau einen hohen Einsatz von Wasser und Chemikalien. Ich erinnerte mich daran, was mein Vater zu Junior sagte: »Ich bin in der falschen Branche, mein Sohn. So, wie es meine Vorväter auch schon waren. Diese Gauner von Santomon kassieren jedes Jahr Unsummen für Pflanzenschutzmittel von mir. Rühren dabei aber keinen Finger, während uns die ganze Plackerei bleibt. Nein. Du wirst zur Universität gehen und dann dort bei denen einsteigen. Ich werde der letzte Jones sein, der sich für andere die Finger krumm und wund arbeitet.« Er wiederholte das in regelmäßigen Abständen. Meistens, nachdem er eine halbe Flasche Whiskey getrunken hatte.

    *

    Zu Beginn der Erntezeit war immer sehr viel Betrieb im Haus, denn unsere Verwandten kamen aus dem ganzen Bundesstaat angereist, um eine Woche auf den Feldern mitzuarbeiten. Das geschah eher aus alter Gewohnheit denn aus Notwendigkeit, weil wir längstens eine selbst fahrende Baumwollerntemaschine einsetzten und nicht mehr per Hand pflückten. Diese sieben Tage sollten alle eher daran erinnern, mit wie viel Mühsal frühere Generationen ihren Lebensunterhalt verdienen mussten. Papa war kein großer Freund dieser Familientreffen, weil er für alle Gäste aufkommen musste und die Ernte in dieser Zeit unrentabel war, aber Großvater bestand darauf, und damit war der Fall erledigt. »Die Qualität handgepflückter Baumwolle ist um ein Vielfaches höher als jene, die maschinell geerntet wird.« Womit er natürlich nicht unrecht hatte. Denn die Erntemaschine pflückte alle Kapseln ab. Egal, ob unreif, reif oder überreif, während die menschliche Hand nur zu den reifen griff. Aber selbst Opa war klar, dass seine Argumentation vom wirtschaftlichen Standpunkt her hinkte und er in Wahrheit bloß an einem Anachronismus festhielt. Es bereitete ihm schlichtweg Freude, alle oder zumindest viele Mitglieder der Familie einmal im Jahr beisammenzuhaben. Und nicht weniger Spaß hatte er daran, meinem Vater vor Augen zu führen, dass er zwar im Ruhestand war, aber weiterhin die Zügel straffen konnte, wenn ihm danach beliebte.

    *

    In der letzten Woche, ehe ich eingeschult wurde, waren die Jones’ wieder unter unserem Dach zusammengekommen. Onkel und Tanten, Vettern und Cousinen. Wir Kinder wurden in die Scheune ausquartiert, während die Erwachsenen im Haus eng aneinanderrückten. Die Mahlzeiten wurden an einem langen, provisorisch zusammengezimmerten Tisch eingenommen, der zwischen der Rückseite

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