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RESTWELT
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eBook422 Seiten6 Stunden

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Über dieses E-Book

Wir schreiben das Jahr 1964 und befinden uns in Limburg an der Lahn. Max Hildebrandt ist neunzehn und hat gerade Abitur gemacht. Von der bürgerlichen Welt will Max nichts wissen, sie kommt ihm falsch und verlogen vor.
Dagegen lehnt er sich auf in einer schnoddrigen, manchmal unflätigen Sprache zwischen Verweigerung und Empfindsamkeit mit starkem Hang zum Übermaß.
Max will fort in die großen Städte, er sehnt sich nach Liebe, und er will schreiben. Er lernt merkwürdige Menschen kennen und macht erste erotische Erfahrungen. Dabei entwickelt sich die Beziehung zu einer geheimnisvollen Frau, die all seine Träume zu erfüllen scheint.
Max streift durch ein Labyrinth voller Irrungen und Wirrungen, und am Ende findet er seinen Weg.
Es geht um die Tragikomödie des Erwachsenwerdens, der keiner entgeht – sei es in New York 1949, in Limburg 1964, in Frankfurt 1968 oder irgendwo anders und wann auch immer.
SpracheDeutsch
Herausgeberp.machinery
Erscheinungsdatum7. Mai 2024
ISBN9783957657251
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    Buchvorschau

    RESTWELT - Hans-Dieter Eberhard

    1

    Wir standen am Grab meines Vaters, meine Mutter und ich. Wie jedes Jahr um diese Zeit an seinem Todestag, ich zu ihrer Linken, sie wollte es so. Der Kavalier geht links, hat sie immer gesagt, sie hat praktisch alles hundertfünfzigmal gesagt, du bist alt genug, um Kavalier zu sein. So was bringt mich normalerweise sofort auf die Palme. Ich meine, allein das Wort Kavalier und anderer Schwulst, aber was meine Mutter betrifft, hatte ich schon lange aufgegeben. Sie wiederholte sich pausenlos, wenn sie nicht gerade außer Atem war oder wieder dieses Herzrasen hatte, sie sagte solche Sachen mindestens zehnmal täglich im Schnitt, bis ich einfach abschaltete.

    Ich starrte auf den Grabhügel und rührte mich nicht. Gerade war ich neunzehn geworden und kam mir unheimlich alt vor. Meine Mutter trug diese peinliche braune Jacke, die sie immer trug, eine Jacke aus abgeschabtem kanadischen Wildotterfell, und bewegte die Lippen. Sie murmelte vor sich hin. Ich verstand nicht, was sie murmelte, aber ich war auch nicht scharf darauf, irgendwas zu verstehen. Wahrscheinlich zählte sie wieder, zum Beispiel die Blätter des Efeus, der das Grab meines Vaters überwucherte, und sie war müde, sie war ja fast immer müde, auch wenn sie überhaupt nicht müde sein konnte, und umgekehrt. Ich bin schlapp, sagte sie, ich weiß nicht wieso. Statt müde, sagte sie immer schlapp, das konnte mich wahnsinnig machen, ein Wort wie schlapp aus dem Mund meiner Mutter, dieses ich bin schlapp, ich bin schlapp, aber das begreift natürlich niemand, der meine Mutter nicht kennt. Sie sagte, ich bin schlapp, und ich bekam irre Lust, ihr den Schädel einzuschlagen. So was zu denken, ist wahrscheinlich durch und durch abartig, aber ich dachte es, ich konnte mich dagegen nicht wehren. Immer wieder dachte ich das, nicht nur an das Schädeleinschlagen, ich dachte an alle möglichen Arten, wie man jemand um die Ecke bringt, aber ich dachte auch an Folterungen und so ein Zeug: Streckbänke, Daumenschrauben, glühende Zangen, Elektroschock, ich kam einfach nicht weg davon.

    Die Sonne klebte im Himmel wie ein Fettfleck, ich spürte madige Wärme, und meine Mutter stand neben mir und zählte. Die Zählerei war eindeutig krank, ich weiß nicht, was andere davon gehalten hätten, aber niemand sonst wusste davon, außer vielleicht der Autohändler Hellström. Meine Mutter zählte, wo sie ging und stand, Treppenstufen, Teppichfransen, Zaunpfähle, Pulsschläge, alles. Wenn eine Primzahl herauskam, war sie glücklich, wenn nicht, bildete sie Quersummen und teilte sie durch die Anzahl der Summanden, bis sie eine Primzahl fand. Die Primzahlen von eins bis einhundert kannte sie auswendig. Was sie zählte, war nicht so wichtig, nur die Primzahl war wichtig. Die Zählerei meiner Mutter machte mich rasend, oder panisch genauer gesagt, oder beides, aber mich machte auch alles andere panisch oder rasend, was meine Mutter sagte oder tat, genauso wie das, was sie nicht sagte und nicht tat, auch dieses Murmeln. Das Murmeln war in den letzten Jahren immer schlimmer geworden, jetzt murmelte sie schon in der Öffentlichkeit.

    Während ich neben ihr stand und sinnlos auf das Grab meines Vaters starrte, ließ ich heimlich Schokolade im Mund zergehen, Schokopastillen in Fünfmarkstückgröße. Diese Pastillen waren extrem gut geeignet für den unauffälligen Verzehr, zum Beispiel bei Beerdigungen oder Galaempfängen und so. Sie waren ein Produkt dieses süddeutschen Keksgiganten, der unsere Familie angeblich in den Ruin getrieben hat. Meiner Meinung nach hat sich unsere Familie selber ruiniert, aber ich wusste nicht viel davon, bei uns wurde ja alles verheimlicht, was nur ging. Diese Heimlichtuerei in der Familie, das ist auch so eine Sache. Ich will nichts mehr damit zu tun haben, aber so viel kann mir jeder glauben: eine Familie wie meine, die kann gar nicht anders, als sich von Grund auf selbst zu ruinieren, der Ruin ist angeboren, das steckt in den Genen und nirgendwo anders. Dazu braucht es keine Keksgiganten, weder süddeutsche noch sonst welche.

    Wie gesagt, wir standen an dem Grab, und es war eigentlich überhaupt kein besonderer Tag, außer dass es der Todestag meines Vaters war, aber ich fand das nicht so besonders, mein Vater war schon neun Jahre tot, genauer gesagt seit 1955, also praktisch seit der Steinzeit. Meine Mutter murmelte ihre Zahlen vor sich hin. Im Gebüsch ließen irgendwelche Sperlinge ungehobeltes Kreischen hören, Wind ließ die Efeublätter flattern, und ich fühlte mich im Moment nicht schlecht mit der Schokolade im Mund. Sie pappte am Gaumen, und ich ließ langsam die Zunge darüber gleiten, sehr langsam, um den Genuss voll auszukosten. Meine Mutter hasste das, ich meine: Genuss. Sie hasste überhaupt jede Art von Lust und Genuss, und sie hasste noch jede Menge andere Sachen, zum Beispiel Wind, sie hasste Wind, und sie hasste Toaströster, warme Mahlzeiten abends, solche Sachen, aber vor allem Lust und Genuss, wie gesagt. Ich habe keine Zeit, alles aufzuzählen, was sie sonst noch hasste, sie gebrauchte das Wort hassen eindeutig unangemessen. Unangemessener Wortgebrauch, so was macht mich rund, ich meine, wie klingt das, wenn einer sagt, ich hasse Blumenkohl oder ich hasse das Gesetz der kommunizierenden Röhren oder so etwas?

    In diesem einen Punkt stimmte ich mit Direktor Marschhausen überein. Ich meine das mit den Worten, aber es war so ziemlich der einzige Punkt. Wir müssen uns davor hüten, Worte, die starke Gefühle bezeichnen, unangemessen zu gebrauchen, solche Sätze sagte Direktor Marschhausen bei jeder Gelegenheit. Aber dann sagte er noch haufenweise anderes und ziemlich lausiges Zeug, zum Beispiel wir sind keine Engländer, Herrschaften, der Engländer übertreibt, wo sein Gefühl schwach ist, wo es stark ist, untertreibt er. Nicht so der Deutsche, der Deutsche nennt die Dinge beim Namen.

    Direktor Marschhausen war unser Deutsch- und Lateinlehrer. Wir nannten ihn Groß-M-klein-arschhausen, er hat es nicht besser verdient, ein absolut muffiger Typ. Möglicherweise haben wir ihn falsch oder ungerecht beurteilt, das wäre denkbar, mit etwas Abstand betrachtet, aber das spielt natürlich jetzt keine Rolle mehr. Und vielleicht war der Typ einfach deshalb so muffig, weil: Er hatte ewige Zeiten in russischer Gefangenschaft gebrummt. Wie lange genau, weiß ich nicht, aber es hat gereicht bei dem Hau, den er weghatte. Russische Kriegsgefangenschaft ist kein Osterspaziergang, Jungs, hat er immer wieder gesagt, der Russe liebt es, das Gesicht des Gegners, sobald er dessen habhaft wird, an Rauputzwänden rauf- und runterzuschubbern und das ist nur der Anfang, die Begrüßung, wenn man so will. Groß-M-klein-arschhausen schien der Rauputzbehandlung persönlich entgangen zu sein. Sein Gesicht war stark gerötet, aber glatt. Vielleicht hatten sie damals in Sibirien oder wo, gerade keine Rauputzwand parat. Andererseits gab es bei ihm grundsätzlich überhaupt keine Osterspaziergänge. Das Lateinische ist kein Osterspaziergang, hieß es, das Griechische ist erst recht kein Osterspaziergang und die Lektüre des Faust war natürlich auch kein Osterspaziergang oder die Lektüre des Prinz von Homburg, und der ganze andere Sulz, den wir dauernd lesen mussten. In puncto Osterspaziergang, muss ich sagen, war ich mit Groß-M-klein-arschhausen ausnahmsweise einer Meinung. Für mich war die Schule und das ganze Leben, ich meine, für mich war überhaupt alles das komplette Gegenteil eines Osterspazierganges, aber wenigstens das Thema Schule war so gut wie abgeschlossen.

    Meine Mutter kannte Groß-M-klein-arschhausen, wie sie alle wichtigen Leute in dieser lausigen Kleinstadt kannte, ich rede hier von Limburg, Limburg an der Lahn. Mit den einen spielte sie Bridge, die anderen kannte sie aus dem Naturfreundekreis, dem Kräuter- und Pilzsammlerbund, sie war Mitglied im Kulturzirkel, sie unterhielt Beziehungen zum bischöflichen Ordinariat, und was nicht noch. Mir war das peinlich wie noch was, obwohl es mir egal sein konnte, ich weiß auch nicht.

    Limburg an der Lahn, ich weiß nicht, ob jemand eine Ahnung hat, wo das liegt, es gibt da diesen siebentürmigen Dom, und die Stadt hängt irgendwo mittendrin, einen Rattenschiss links von Frankfurt, neuerdings mit Autobahnanschluss.

    Was wollte ich sagen? Ich stand immer noch zur Linken meiner Mutter am Grab meines Vaters, ließ diese holländische Schokopastille im Mund zergehen und dachte gerade an Groß-M-klein-arschhausen und an die ganze kaputte Schulzeit, die so gut wie beendet war. Ich wollte erwähnen, dass in zwei Wochen noch die mündliche Abiturprüfung über die Bretter gehen sollte, das Schriftliche lag hinter mir. Ich habe mir darüber keine überflüssigen Gedanken gemacht, an meinem Notenspiegel war sowieso nichts mehr zu löten. Ich hatte in fast allen Fächern eine stabile Vier minus, von der Dauerfünf in Griechisch abgesehen und der Drei plus in Musik. In Musik hätte ich von Rechts wegen eine Eins haben müssen, aber unser Musiklehrer, ein gewisser Herr Gordes, der im Krieg angeblich mal drei Tage lang verschüttet war, konnte mich nicht ausstehen. Erstens, weil ich besser Klavier spielte als er, jedenfalls wenn ich einen guten Tag hatte, was nicht unmäßig oft vorkam, und zweitens, weil ich Wagner hasste, während er ein fanatischer Wagnerianer war. Ich war bestimmt alles andere als ein Ass in der Schule, aber ich war durchgekommen, und ich habe niemals eine Klasse wiederholen müssen, das war manchmal wie ein Wunder, der Rest war mir egal.

    Meine Mutter verbreitete in der ganzen Stadt, ich wäre ein Musterschüler, ich wäre sozusagen der Primus und so weiter. Das Schlimmste war, sie brüstete sich mit meinen Leistungen in Latein, die sagenhaft grenzwertig waren, ich meine, ich hatte einmal eine gute Phase in Latein gehabt, aber das war schon länger her. Es war in dem Jahr, als wir Ovid lasen, diese Metamorphosen, und zwar deshalb, weil: Ich bin scharf auf Metamorphosen, auf Verwandlungsgeschichten überhaupt, aber damit stand ich in der Klasse ziemlich allein da und auch sonst überall. Verwandlungsgeschichten fand ich schon als Kind so was von gut, jede Art von Verwandlung. Am liebsten hätte ich mich selber verwandelt, es gab jede Menge Gelegenheit dazu, jeden Tag, kann man sagen. Ich hatte die gesammelten Metamorphosen von Ovid unheimlich oft gelesen, und zwar in dieser zweisprachigen Ausgabe, links Latein, rechts Deutsch. Immer wieder habe ich diese Geschichten gelesen, und dann kannte ich sie irgendwann so gut wie auswendig, das war nicht zu vermeiden. Darum stand ich damals in Latein vorübergehend mal auf zwei, aber nur ein halbes Jahr oder weniger, dann kamen wieder die Langweiler, Livius, Cicero und so, und ich fiel auf meine sichere Vier minus zurück, aber meine Mutter hat dann überall herumerzählt, ich, Max, ich wäre die große Nummer in Latein, und das ging so weit, dass Leute ankamen, die von mir Nachhilfe haben wollten.

    Mit Griechisch war das ähnlich, da hatte ich auch mal eine starke Phase, das war, als wir die Odyssee lasen. Dieser Odysseus war eindeutig mein Lieblingsheld, auch wenn ich kein Gramm Ähnlichkeit mit ihm hatte, ich meine äußerlich, aber danach nervten sie uns nur noch mit Platon und Thukydides, und in Deutsch lief die Sache ziemlich ähnlich, außer dass mir das nicht ganz so egal war wie in den anderen Fächern. Ich dachte, in Deutsch muss ich gut sein, weil ich Schriftsteller werden wollte, ein anderer Beruf kam für mich nicht infrage. Das Einzige, was ich kann, was ich wirklich gut kann, wo ich mich hundertprozentig sicher fühle, ist Schreiben. Groß-M-klein-arschhausen hat das natürlich nicht mitgekriegt, er war absolut zu dämlich für so was, unter uns gesagt, ein Schrumpfkopf erster Güte. Schließlich war es nicht meine Schuld, dass er diese Gefangenschaftsjahre bei den Rauputzrussen runterreißen musste, so was wirkt sich eben reichlich ungut auf die Gehirnleistung aus, und Groß-M-klein-arschhausen hatte in puncto Literatur überhaupt nichts anderes im Kopf als den ganzen Schiller-Goethe-Müll. In den Aufsätzen mussten wir pausenlos überflüssige Theaterstücke wie Maria Stuart interpretieren oder peinliche Gedichte von Eichendorff und Mörike, von diesen rindsdummen Balladen ganz ab. Mir war das an sich egal, aber damit kam ich nicht über die Vier, und bei den sogenannten dialektischen Besinnungsaufsätzen war das keinen Schlag besser. Wer jemals aus dem hohlen Bauch über sensationelle Themen hat schwadronieren müssen wie Fluch und Segen des Landlebens oder Begründen Sie das schwankende Verhalten der Jungfrau von Orleans in der 4. Szene des 3. Aktes, der weiß, wovon ich rede. Über Glanz und Elend der Kurtisanen oder so etwas hätte ich mich jederzeit erschöpfend äußern können, aber das kam ja nicht dran.

    Meine Mutter hatte inzwischen mit dem Zahlengebrabbel aufgehört. Sie bückte sich und fing an, irgendwelches Unkraut aus dem Boden zu zupfen. Das ist auch so was. Sie hielt es keine fünf Minuten irgendwo aus, ohne Unkraut zu jäten. Dieses ständige Jäten ging mir gewaltig auf die Nerven. Ich habe noch nie einen Menschen gesehen, der so viel jätete wie meine Mutter, und das Schärfste war, sie zog das Unkraut nicht nur einfach aus dem Boden, sie steckte es auch noch in die Taschen dieser entsetzlichen kanadischen Wildotterjacke, die sie dann an der nächsten Mülltonne entleerte.

    Ich wollte was sagen, aber ich ließ es bleiben, es war sowieso sinnlos, meine Mutter hat nie auf mich gehört, sie machte, was ihr passte. Ich war froh, dass ich mich damit nicht mehr lange herumärgern musste. Falls jemand glaubt, ich hätte vor dem mündlichen Abitur Angst gehabt, dann liegt er meilenweit daneben. Ich habe von Lehrern im Allgemeinen nicht viel gehalten, die meisten sind abartige und schwer gestörte Typen – anders kann man so einen Beruf gar nicht ergreifen – aber sie hatten bestimmt keine Lust, mich durchfallen zu lassen, weil: dann hätten sie mich noch ein Jahr behalten müssen, und so blöd waren sie auch wieder nicht. Die Kerle konnten mich allesamt nicht leiden, und ich weiß auch wieso: nämlich deshalb, weil ich sie auch nicht leiden konnte, und weil ich mich um nichts gekümmert habe, aber das lag nicht an mir, sondern absolut nur an denen. Einen wie Sie haben wir hier gefressen, das hat mir Groß-M-klein-arschhausen mehr als einmal an den Kopf geknallt, dasitzen, arrogant grinsen und nichts leisten, das ist die übelste Mischung, die es überhaupt gibt. Später im richtigen Leben, draußen in der Welt, da werden Sie sich noch umkucken, da kommen Sie damit garantiert nicht durch. Leute wie Sie treiben nur den Untergang des Abendlandes voran, und wenn Ihre Frau Mutter nicht wäre

    Dieses wenn Ihre Frau Mutter nicht wäre, das hat mich immer maßlos stinkig gemacht, ich hätte ihm am liebsten eine Kugel durch den Kopf gejagt, aber ich bin eiskalt geblieben, ich saß einfach weiter nur so da und habe gegrinst und nichts geleistet und den Untergang des Abendlandes vorangetrieben, das hat die Typen am allermeisten geärgert. Das sogenannte richtige Leben, davon haben nun gerade Lehrer am wenigsten Ahnung, auch wenn sie von mir aus jahrelang bei irgendwelchen Rauputzrussen in Gefangenschaft herumgesessen hatten oder mal drei Tage verschüttet waren. Und die sogenannte Welt da draußen, die interessierte mich bis auf ein paar Kleinigkeiten einen Fliegenschiss, ich hatte meine eigene Welt.

    Jedenfalls hatte ich einigen verdeckten Bemerkungen Groß-M-klein-arschhausens entnommen, dass sie mich im Mündlichen in Latein drannehmen wollten, und mit extremer Wahrscheinlichkeit über Ovid. Sie wollten auf Nummer sicher gehen wegen der Griechischfünf, die ich seit Jahren mitschleppte. Eine Fünf durfte man haben, eine zweite Fünf hätte mir den Hals gebrochen, und eine Prüfung über Ovid, das bedeutete Stabilisierung der Lateinvier, eine Verbesserung auf drei war nicht ausgeschlossen.

    Mir war das egal wie sonst was. Ich wollte es bloß hinter mir haben, das Abitur war gelaufen. Das war eigentlich ein feudales Gefühl, und ich regte mich darum über meine Mutter nicht so maßlos auf wie sonst. Immer noch jätete sie auf der Grabstelle herum und stopfte massenweise Unkraut in die Taschen dieser scheußlichen Otterfelljacke. Wegen der kindischen Prüfung konnte ich absolut ruhig bleiben, aber ich war trotzdem nicht ruhig. Im Untergrund rumorte so eine panische Stimmung, die mir leider extrem gut vertraut war, und das Abartige war, ich konnte überhaupt nichts dagegen machen. Das kam jedes Mal, wenn ich zu Prüfungen musste, ganz egal, was für eine, vor allem mündlich, wenn ich mich vor irgendwelchen Typen produzieren musste, und es war umso schlimmer, je mehr von der Sorte da herumsaßen und mich anglotzten. Beim Abitur war ja genau das der Fall. Da saß die ganze Lehrerbande in Schwarz und wollte einen fertigmachen und nichts anderes. Ich weiß nicht, ob jemand das kennt: Ich kriege einen irren Kloß im Hals, ich schwitze wie ein Schweinebraten, alles vibriert, die Hände zittern, der ganze verdammte Körper flattert, ich kriege keine Luft mehr, das Herz rast, und am allerschlimmsten war das bei mir, wenn ich öffentlich Klavier spielen musste. Dieses Vorspielen, das war die Hölle im Quadrat, aber davon will ich lieber gar nicht groß reden.

    Meine Mutter schien das Jäten beendet zu haben. Sie streckte sich und brummte etwas wie: »Man ist voller Leben und fühlt sich schlapp, man ist sowohl tot als auch lebendig.«

    Ich wusste nicht, was das sollte, und mein Vater unten im Grab hätte dazu wahrscheinlich etwas gesagt wie: Du bist voller Widersprüche, Emma, lass mich mit deinen Widersprüchen in Ruhe, und meine Mutter hätte gesagt: Du sollst mich nicht immer Emma nennen, du weißt, wie ich das hasse, das habe ich dir schon hundertmal gesagt. Ich weiß nicht, ob mein Vater zu seinen Lebzeiten so was gesagt hätte … ich, wenn ich mein Vater gewesen wäre, ich hätte ganz was anderes gesagt, zum Beispiel halt die Klappe, und mach, dass du Land gewinnst, und das wäre noch das Freundlichste gewesen.

    Andererseits war ich wirklich froh, dass ich nicht mein Vater war, weil: Dann hätte ich ja auch der Mann meiner Mutter sein müssen, ich hätte einen wie mich zum Sohn gehabt und wäre schon tot gewesen, und das wollte ich erst recht nicht. Außerdem hätte ich meine Mutter dann immer Emmy nennen müssen, Emmy mit Ypsilon. Das hatte sie schon x-mal von mir verlangt, aber es war mir hundertprozentig zuwider. Ich hatte es versucht, es ging nicht. Ich konnte meine Mutter nicht mit irgendeinem Kosenamen anreden, das war mir so was von eklig, auch dieses Mama oder Mutti oder Muttchen. Ich habe immer nur Mutter gesagt, aber auch nicht auf diese Art, die manche draufhaben, wenn sie von ihrer Mutter sprechen, zum Beispiel so was wie hoppla, Mutter trägt ein Bruchband oder Mutter hat ins Gras gebissen, diese Art, die finde ich schwer daneben. Emma hätte ich vielleicht noch über mich gebracht, sie hieß eben Emma, das war nicht meine Schuld. Meine Freunde nennen mich Emmy, sagte sie immer wieder, ich bin die blonde Emmy, ich bin immer noch die Emmy, die ich war, als den Männern die Augen aus dem Kopf fielen, wenn ich unten am Marktplatz vorbeischritt, ja schritt. Ich ging nicht, ich schritt, ich schwebte, leicht wie eine Feder, auch wenn ich jetzt ein Fass bin, ein Walross, ich heiße Emmy und nicht anders, Emmy mit Ypsilon.

    Sie war schon eine komische Nudel, meine Mutter, das gebe ich zu, und es gab bestimmt Typen, die fanden das reizend oder charmant oder so, ich jedenfalls nicht. Und eine Schönheit war sie schon lange nicht mehr, auch wenn manchmal in der Dämmerung volltrunkene Bauarbeiter vom Gerüst hinter ihr her pfiffen. Sie war immer noch blond, das war nicht zu leugnen, aber so eine wie Rita Hayworth oder Anita Ekberg oder irgendeine andere dieser Weltklasseblondinen, so eine war sie nicht. Das spielte auch keine Rolle, ich finde, Mütter müssen nicht schön sein, eine Schönheit zur Mutter zu haben, das kann nur peinlich werden. Die Mütter meiner Mitschüler waren auch nicht schön, nicht eine.

    Tatsache war: Meine Mutter hatte meinen Vater bekommen, und damit hat sie keinen schlechten Schnitt gemacht, fand ich, obwohl mein Vater ein abartig schweigsamer Typ gewesen ist, das ist jedenfalls eine der wenigen bleibenden Erinnerungen, die ich an ihn habe, dieses wahnsinnige Schweigen, abgesehen von dem verkrüppelten linken Bein und der Generaldirektorbrille mit diesen schwarzbraungerahmten dicken Gläsern. Das verkrüppelte linke Bein kam von der Kinderlähmung, die mein Vater mit vier Jahren gehabt hat. Darum musste er lebenslang so einen makaberen Stützapparat aus Leder und Metall tragen, aber immerhin hat er damit nicht zum Militär gemusst, das war ja auch nicht das Übelste. Die Wahrheit ist: mein Vater hat meine Mutter verlassen, und die andere Wahrheit ist: Ich konnte ihn verstehen. Ich war noch ein Kleinkind, als das passierte, aber jetzt im Nachhinein … ich finde, er hat das richtig gemacht. Keine Vorwarnung, kein Abschiedsbrief, kein Vermächtnis, nichts. Einfach weg, auf und davon, so wie er war, ohne Koffer, ohne Wäsche, ohne Nachtgeschirr, ab nach Kassel, mit Hut und Anzug, Scheckbuch, Brille und dem Stützapparat für das Bein. Wie gesagt, das hat mir gefallen, aber mein Vater hat einen kapitalen Fehler dabei gemacht, und der war unverzeihlich: Er ist in der Stadt geblieben, in dem Nest hier, in Limburg. Ich an seiner Stelle, ich hätte es genauso gemacht, aber ich wäre nach Indochina gegangen oder Kasachstan. Er hat sich hier einer anderen Frau an den Hals geworfen und ist mit ihr in die Altstadt gezogen, und das Geschrei in der Familie, das kann sich keiner vorstellen … in der näheren Umgebung habe ich ungefähr fünfhundert Tanten und Onkel, aber ich habe keine Ahnung, wer diese Frau war, und meine Mutter redete nur von dieser Frau, die deinen Vater ausnimmt wie eine Weihnachtsgans, diese Megäre, die ein Unternehmen zugrunde richtet, eine Familie ausblutet, und was nicht noch. Manchmal gebrauchte sie Ausdrücke wie Kurtisane, Konkubine oder Kebsweib, ich frage mich, wo sie das eigentlich herhatte.

    Ich muss sagen, ich beneidete meinen Vater. Mit einer Kurtisane, das war bestimmt tausendmal besser als mit meiner Mutter. Kurtisanen und Konkubinen kannte ich bisher leider nur aus Romanen, das waren durch die Bank feudale Frauen, und ich kann nur hoffen, mein Vater hat es gnadenlos genossen. Jedenfalls wünsche ich ihm das, weil: das Ende, das war dann nur noch peinlich. Meine Mutter behauptete natürlich, das wäre die gerechte Strafe des Herrn, aber das war nur Hass.

    Die Wahrheit ist: Man fand meinen Vater eines Tages auf einer Bank in den Lahnwiesen, und zwar bewusstlos, nach einem Schlaganfall oder so, aber den hätte er wahrscheinlich schon viel eher bekommen, wenn er mit meiner Mutter zusammengeblieben wäre. Die Brille lag neben dem Spazierstock auf der Erde, ein Hosenbein war hochgerutscht, und man sah diesen Stützapparat. Ich bin nicht dabei gewesen, und meine Mutter auch nicht, aber so wurde das immer erzählt, und das Schlimmste war, jedenfalls für meine Mutter, er hatte eingenässt von oben bis unten, obwohl das nichts Besonderes sein soll bei Schlaganfällen. Diese Frau, diese Kurtisane, die hatte sich davongemacht, wurde gesagt, angeblich mit dem ganzen Geld, und die Sache blieb auf meiner Mutter hängen, sie waren ja immer noch verheiratet, glaube ich. Mein Vater blieb ziemlich gelähmt und musste in ein Pflegeheim, und er konnte nicht mehr sprechen, aber er hat vorher ja auch nicht viel gesagt. Tatsache war, meine Mutter hat ihn dann noch betreut, so an die zwei Jahre. In der Familie wurde von Opfergang und Selbstverleugnung und schwerer Hochachtung vor dieser leidgeprüften Frau gebrabbelt und ähnlicher Schwulst, aber vielleicht war das auch eine Art Rache, diese sogenannte Pflege und Betreuung, das ist absolut denkbar. Wer je von meiner Mutter betreut und gepflegt wurde, der weiß, wovon ich spreche, und ich kann mir keine Familie vorstellen, in der so viel kranker Stuss geredet wurde, wie in der unseren.

    Inzwischen war ich rundum bedient von dieser Herumsteherei an dem Grab und schob eine Schokopastille nach. Das Einzige, was ich mir gerne mal angeschaut hätte, war, wie das da jetzt aussah, da unten in dem Sarg. Man will schließlich wissen, wie das geht, ich meine, was damit wird und so. Verwesung hat mich schon immer stark interessiert, Skelette und alles. War das schon Humus, oder war das Skelett wenigstens noch da? Das Skelett bestimmt, dachte ich, Skelette hielten ja auch sonst Jahrtausende, allerdings nicht immer, das hieß, man hätte graben müssen, und das war bestimmt verboten. Ich stellte mir ein Skelett vor mit Generaldirektorbrille oder so. So ähnlich wie unser Schulskelett im Biologiesaal, wo wir den Aufklärungsunterricht dran hatten, aber das hat mich kein Gramm weitergebracht. Ich meine, der Aufklärungsunterricht am Schulskelett.

    Meine Mutter fing an, in ihrer Handtasche zu buddeln, diese seesackgroße Tasche, in der sie alles bei sich trug, was sie brauchte, um jederzeit ein neues Leben in der dritten Welt anzufangen. Sie zog eine dieser katholischen Dreitagekerzen für 2,95 DM hervor mit Deckel, dabei fiel die Puderdose zu Boden. Ich hätte sie am liebsten in den Boden eingestampft, stattdessen hob ich sie auf und schob sie in die seesackartige Tasche zurück. Meine Mutter kniete sich auf den Grabhügel und pflanzte die Dreitagekerze zwischen den Efeu.

    »Da, Löcher«, murmelte sie, »Kaninchenlöcher, skandalös.«

    Aus der Tasche kramte sie ein Päckchen Streichhölzer, ihre Hände zitterten. Sie verbrauchte vier Hölzer, bis die Kerze endlich brannte. Die verbrauchten Streichhölzer steckte sie in die Seitentasche der Otterfelljacke zu dem Unkraut. Meine Mutter war kein Stück religiös und katholisch schon gar nicht, unsere Familie ist immer protestantisch gewesen bis unter den Haarwurzeln. Sie hatte nur diese katholische Ader, meine Mutter, und sie unterhielt extrem gute Beziehungen zum bischöflichen Ordinariat, vor allem zu Prälat Lübbers, mit dem sie Bridge spielte, ein Arschgesicht erster Ordnung, das kann mir jeder glauben.

    Sie richtete sich wieder auf und betrachtete das kümmerliche Flämmchen der Dreitagekerze. »Jederzeit kann ein Leben ausgelöscht sein«, murmelte sie, »das Dasein ist ungewiss, das ist furchtbar und wahr, alles Wahre ist furchtbar.«

    »Amen«, knurrte ich.

    Meine Mutter machte mal wieder schwer einen auf Witwe, dafür hatte ich unmäßig wenig Verständnis. Allein dieses Wort, Witwe, dieses komische Wort, ich fand, das klang eulenartig oder so. Witwe, Witwe, absolut, ich weiß auch nicht.

    In diesem Augenblick hörte ich derbe Schritte auf dem Kiesbelag der Friedhofswege. Meine Mutter wurde in der Wirbelsäule starr. Das war das Peinliche bei Friedhofsbesuchen, jederzeit konnte man fremder Leute Trauerzüge über den Weg laufen, Sargträgern in schwarzen Kutten mit kaputten Trinkergesichtern. Die Schritte kamen näher, im Gebüsch zeterten Amseln. Dann kam diese Gestalt um die Ecke, der Friedhofsgärtner in speckigen Gummistiefeln, ein Typ mit gelben Augäpfeln, das fiel mir gleich auf.

    »Tag, Herr Flach«, rief meine Mutter, »Tag, Herr Flach.«

    Herr Flach blieb stehen und wandte sich um. Er sagte nichts, er sah meine Mutter nur an.

    »Sie müssen mehr auf die Kaninchen achten, Herr Flach«, sagte meine Mutter, sie stieß es hervor, bebend, »die Kaninchen, die Kaninchen, Sie wissen schon.«

    Herr Flach war einer dieser komischen Schrate, die keinen Kehlkopf mehr haben. Den hatten sie ihm rausoperiert wegen Krebs, soweit ich weiß, und er hatte einfach nur noch so ein Loch im Hals mit einer Kanüle drin. Man sieht das nicht, diese Typen tragen immer ein Halstuch, aber man hört, wie der Atem durch die Kanüle zischt.

    »Da achten wir drauf«, sagte eine Stimme, »stellen Fallen auf.«

    Ich wusste nicht, ob das die Stimme von Herrn Flach war, aber wer anders war nicht zu sehen. Die Stimme klang wie gerülpst, der Typ konnte sagenhaft professionell rülpsen. In meiner Klasse konnten einige auf Zuruf jederzeit tief durchrülpsen, aber so was wie dieser Herr Flach, das brachte keiner, das war genial.

    »Da«, sagte meine Mutter, sie zeigte auf die Löcher am Rand des Grabhügels, »da, da haben sie gewühlt, sie wühlen sich ein.«

    »Ja, ja«, rülpste Herr Flach, »so tief kommen die nicht, keine Sorge, was.« Sein Atem roch nach billigem Fusel.

    »Warten Sie mal, Herr Flach«, sagte meine Mutter, »warten Sie doch bitte.«

    Sie fing wieder an, in ihrer seesackartigen Handtasche zu graben. Als Erstes sprang die Puderdose heraus und fiel zu Boden. Herr Flach machte keine Anstalten, sie aufzuheben. Die Hände meiner Mutter zitterten noch mehr als vorher. Sie zog ein Portemonnaie aus der Tasche und nahm ein Fünfmarkstück heraus.

    »Hier bitte, Herr Flach, da, bitte, nehmen Sie.«

    Herr Flach streckte eine Hand aus, so was von Hand hatte ich noch nicht gesehen, schrundig, aufgerissen, riesig wie eine Baggerschaufel. Meine Mutter legte das Fünfmarkstück hinein, zog ihre eigene Hand rasch zurück und vergrub sie in der Otterjacke. Der Gärtner biss auf die Münze und steckte sie in die Brusttasche seiner Gärtnerjoppe.

    »Wollen sehen«, rülpste die Stimme, »stellen Fallen auf.«

    Ohne Punkt und Komma wandte Herr Flach sich ab und setzte seinen Weg fort, einen Rechen hinter sich herziehend. Meine Mutter plusterte sich auf.

    »Stellen Fallen auf, stellen Fallen auf, diese Schafsnase, was denkt sich dieser Kretin, man stopft den Leuten Geld in den Rachen, und sie betrinken sich sinnlos, und die Kaninchen unterwühlen die Gräber, bis alles zusammenbricht. Ich werde Prälat Lübbers Bescheid stoßen, der Friedhof ist schließlich Sache der Kirche unter anderem oder etwa nicht, und ich werde Herrn Klimek bitten, einen Artikel zu schreiben, den kann sich die Friedhofsverwaltung hinter den Spiegel stecken, das wollen wir doch mal sehen, außerdem verlange ich, dass die Blumen ab sofort mit Eierwasser gegossen werden.«

    Meine Mutter goss ihre Blumen immer mit Eierwasser, das war ein Geheimrezept, und Herr Klimek war Chefredakteur der Neuen Lahnpost, auch so einer von diesen Schrumpfköpfen, mit denen sie Bridge spielte. Ich hob die Puderdose auf, und meine Mutter versuchte, ihre sogenannte Handtasche zu ordnen. Wir warteten, bis die Gärtnergestalt an der nächsten Wegkreuzung einbog.

    »Ich vibriere«, sagte meine Mutter, »ich bin wie elektrisiert.« Sie atmete durch die Zähne, dass es leise pfiff, sie hatte blaue Lippen. Es war mal wieder so weit, das Herzrasen war im Anmarsch. Das war nichts Neues, das passierte dauernd. Ich reichte ihr den Arm, sie hängte sich ein. Ich hätte ihr lieber eine linke Gerade verpasst, aber in diesem Zustand war sie kein echter Gegner. Wir gingen den Friedhofshauptweg hinunter.

    »Man spürt das Herz hinter den Rippen«, sagte sie, »es drückt in den Hals hinauf und in den Magen hinunter.«

    Das ist Hysterie und Einbildung, wollte ich sagen, aber es war sinnlos, irgendwas zu sagen, ich wusste es, ich hatte meine Erfahrungen gesammelt. Am Grabmal derer von Unlob blieben wir stehen. Ich musste meiner Mutter den Puls zählen.

    »Sechsundneunzig«, sagte ich.

    »Was, mehr nicht? Das kann nicht sein, zähl noch mal.«

    Diesmal zählte ich nur zweiundneunzig, und das war Absicht, die Quersumme von zweiundneunzig war eine ihrer liebsten Primzahlen, aber es half nichts. Meine Mutter wurde stinkig.

    »Das ist unmöglich, du zählst falsch.«

    »Dann zähl selber.«

    »Du weißt, dass ich das nicht kann, ich komme nicht mit, wenn das Herz so schnell schlägt.«

    »Dann rufe ich die Ambulanz.«

    »Nur das nicht, nur nicht den medizinischen Rettungsdiensten ausgeliefert sein, dann lieber gleich ins Grab, am besten kopfüber.«

    Ich hatte nichts dagegen. Ein Handkantenschlag hätte alles geregelt, aber ich bin keine Faustkämpfernatur. Ich nahm den Arm meiner Mutter und fing wieder an, den Puls zu zählen. Mir war unwohl, ich glaube, das kam von dieser Wärme. Es war erst Februar, aber warm wie mein Arsch. Alles mögliche Zeug blühte wie verrückt. Meisen, Drosseln, Finken jodelten um die Wette, und dazu dieser Buchsbaumgeruch nach konzentrierter Katzenpisse. Am Grabmal derer von Unlob stand eine makabre Kitschgestalt, ein mannshoher Engel aus Lahntalmarmor. Ein Flügel war abgeschlagen, aber das war schon immer so. Mit der Familie von Unlob waren wir um acht Ecken verschwägert, mich interessierte das kein Gramm, abgesehen von Fritz von Unlob, diesem Dichter.

    »Was ist nun?«, sagte meine Mutter.

    »Hundertvierundzwanzig.«

    »Na bitte, habe ich doch gesagt, das passt schon eher.«

    Sie fing an, wie besessen in ihrem Seesack zu wühlen. Sie nahm ein Pillendöschen und eine Sprayflasche heraus. Sie schluckte zwei oder drei rote Dragees und sprühte sich mehrere Hübe aus der Spraydose in den Mund. Sie war wirklich nicht ganz dicht, aber das war auch nichts Neues. Weg, dachte ich, nichts wie weg. Die mündliche Prüfung noch und dann … egal wohin, Guatemala, Belgisch-Kongo … ganz egal.

    »Ich bin durchgeschwitzt von oben bis unten«, sagte sie, »ich bin nass bis auf die Haut, ich werde mich erkälten.«

    Das ist mir scheißegal, hätte ich fast gesagt. Einen Augenblick lang hatte ich das Bild eines schweißnassen Korsetts vor Augen: graue Schwitzflecken auf rosa Grund.

    »Man hätte in England bleiben sollen«, sagte sie, »in Cornwall an der See.«

    Ja, da hatte sie mal eine Zeit ihres Lebens verbracht, angeblich die glücklichsten Jahre, das bekam ich täglich zu hören, damals vor dem Krieg in der besseren Zeit. Für mich war das nichts als madiges Gerede. Ich hatte langsam genug.

    »Lass uns endlich gehen«, sagte ich.

    »Augenblick, Junge.«

    Sie wühlte ein zerknülltes Tempo aus der Seesacktasche. Wieder fiel die Puderdose zu Boden. Ich hob sie auf, und meine Mutter puderte

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