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Panama: Grenzerfahrung. Ein Roadtrip
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eBook314 Seiten4 Stunden

Panama: Grenzerfahrung. Ein Roadtrip

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Über dieses E-Book

Konrad Steiner, aus gutbürgerlichem Haus stammend, frönt Mitte
der 1990er-Jahre der Partykultur in der Zürcher Techno-Szene, wo
sein geregeltes Leben langsam aus den Fugen gerät. Auf einem
Roadtrip durch Mittelamerika sucht er den Verstrickungen zu entkommen
und neue Perspektiven zu gewinnen. Aber die Dämonen
verfolgen ihn. Steiner will weiter in den Süden und kommt trotz aller
Bemühungen nicht richtig vom Fleck. Er ist auf der Suche nach Glück
und Zerstreuung, dabei entgleitet ihm langsam das Leben. In einem
zerfallenen Kolonialhotel in Panama City erkrankt er an Malaria
und schlingert immer tiefer in existenzielle Nöte. Dabei ist es die
scheinbare Belanglosigkeit realer Umstände, die sich gegen Steiner
wenden, und die seine Situation immer auswegloser machen –
bis sich die Schlinge zuzieht.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum24. Apr. 2024
ISBN9783907339763
Panama: Grenzerfahrung. Ein Roadtrip

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    Buchvorschau

    Panama - Marc Lustenberger

    Prolog

    Panama City, Polizeistation, 10. Mai 1996

    Jemand aus dem Hotel musste Steiner denunziert haben. Denn ohne dass er ahnte warum, klopften frühmorgens zwei uniformierte Männer an seine Tür, verschafften sich unzimperlich Eintritt und informierten ihn, dass er verhaftet sei. Steiner war soeben aus einem unruhigen Traum aufgeschreckt. Er sass mit verschwitztem Hemd und verklebten Haaren in seinem Bett und schaute verdutzt die beiden Beamten der panamaischen Polizei an. «Señor Steiner, Konrad Steiner. Sind Sie diese Person?», fragte ihn einer der beiden Männer. Er trug einen feinen Schnurrbart und glänzende Stiefel. Steiner nickte. «Erheben Sie sich. Wir müssen Sie mitnehmen.» Er erhielt die Anweisung, eine Tasche mit Kleidern, seine Papiere und Toiletten-Artikel mitzunehmen. Steiner stellte sich mit verschränken Armen trotzig in den Raum und sagte, es müsse sich um einen Irrtum handeln. Er sei ein Tourist auf der Durchreise, er müsste schon lange weg sein, es gebe wahrscheinlich eine Verwechslung, er habe Geld, er könne es ihnen zeigen. Doch all sein Schimpfen und Flehen nutzte nichts. Der Schnurrbärtige blickte ihn kühl an und ergriff ihn schliesslich unsanft am Arm. «Packen und mitkommen», herrschte er ihn an.

    Steiner schossen Tränen in die Augen. Er hatte schlecht geschlafen. In der Nacht war er mehrmals fiebrig und schweissgebadet aufgewacht. Die Luft im Zimmer war stickig, trotz des geöffneten Fensters. Von unten dröhnte die ganze Nacht der Bass von Salsa-Musik, und von irgendwo hörte er die Schreie einer Frau und das Knarren eines Bettes. So war das jede Nacht, seit er zurück war aus Kolumbien, genauer aus Turbo, diesem Albtraum von Stadt an der Karibikküste. So war es, seit er im hinteren Teil des Hotel Central wohnte, wohnen musste. Seine Geldmittel waren zurzeit äussert beschränkt. Señor Jorge, der an der Rezeption arbeitete, und mit dem er bereits bei seinem ersten Aufenthalt einen freundlichen Umgang pflegte, hatte ihm das kleine, laute Zimmer in einem schäbigen Hinterhof im obersten Stock des zerfallenden, einst prächtigen Kolonialhotels im Herzen der Altstadt gegeben. Dort, wo Zimmermädchen, Köche, aber auch Kleindealer und Prostituierte aus den umliegenden Quartieren wohnten, war Steiner seit Wochen am Warten.

    Doch heute, hatte Steiner gehofft, würde er mit dem Taxi ins Geschäftszentrum fahren, ein Reisebüro aufsuchen und ein Flugbillett nach Hause kaufen. Stattdessen hielt ihn der schneidig uniformierte Beamte in einer blauen Uniform mit eisernem Griff am Oberarm. Steiner blieb folglich nichts anderes übrig, als mit der anderen Hand notdürftig ein paar Kleider und den Reisepass in seine Tasche zu stecken. Den Reisegurt mit dem Geld, das ihm sein Vater diese Woche überwiesen hatte, liess er liegen, weil er aus Erfahrung der lokalen Polizei nicht traute. Seine Medikamente hingegen liess er in der Aufregung in der Schublade liegen. Der andere Beamte folgte diesem Prozedere abschätzig und verzog sich dann nach draussen, wo er sich eine Zigarette anzündete.

    Auf dem Weg nach unten öffnete sich im ersten Stock eine Türe. Das Zimmermädchen Maria stand da, mit einem Eimer am Arm im Eingang und betrachtete ihn mit mitleidigem Blick, so empfand es Steiner. Er wollte bei ihr innehalten, ihr sagen, dass dies ein Irrtum sei, doch der Schnauzbärtige stiess ihn weiter, die nächste Treppe hinunter. Schliesslich gelangten sie in die grosse Hotelhalle, wo wie gewöhnlich um diese Zeit Señor Jorge in seinem ausgebeulten Anzug an der Rezeption stand. «Wir haben Señor Konrad Steiner abgeholt. Sein restliches Gepäck verbleibt im Zimmer», erklärte einer der Beamten. Er schob ihm ein Papier zu, das er unterschreiben solle. «Es tut mir furchtbar leid für die Unannehmlichkeiten», sagte der Mann an der Rezeption achselzuckend. «Ich bin sicher, dass sich dieser Fall schnell lösen wird.»

    Und so fand sich Steiner eine Stunde später, nachdem er und sein Gepäck durchsucht worden waren, allein in einer stickigen Zelle wieder. Trotz seiner bohrenden Fragen wollte ihm keiner der Beamten eine Antwort geben, wie lange er hierbleiben müsse und was mit ihm geschehe. Ein einziges Indiz lieferten ihm die Papiere, die er unterschreiben musste. Darauf stand, dass er gegen die Einreisebestimmungen verstossen habe, weil sein Visum im Pass ungültig oder gefälscht sei.

    In seiner Zelle konnte er drei Schritte in jede Richtung gehen. Es gab eine Pritsche sowie einen Klapptisch mit einem Sitz. Die Wände waren bekritzelt mit Namen und Kalenderdaten. Der einzige Lichtblick war ein kleines, vergittertes Fenster in einen Hinterhof, wo sich Sträucher und Bäume befanden. Doch Steiner achtete nicht auf das Leben draussen, sein Blick war nach innen gerichtet. Unruhig zog er in diesem engen Raum seine Kreise. Er sah die Gitterstäbe und spürte seine Kräfte schwinden. Sein Wille hatte in den letzten Wochen gelitten und ihm war, als gäbe es ausserhalb dieser Zelle für ihn keine Welt mehr.

    1. Teil

    Gehen

    Panama City, Hotel Central, 12. April 1996

    Zssss. Steiner kam es vor, als würden sie ihn bei lebendigem Leib auffressen. Zssss. Er hatte sich unter dem Leintuch verkrochen, um sich zu schützen. Doch bereits spürte er ihre Stiche am Fuss, am Ellbogen und an der Hand. Einen Moment lang war er wohl eingenickt, und die Moskitos nutzten dies, um sich an seinem Blut zu laben.

    Das Leintuch klebte an seinem Körper. Um sich Abkühlung zu verschaffen, streckte er seine Füsse hervor. Zssssss. Doch sogleich witterten sie seine nackte Haut und kamen zurück. Es war fünf Uhr morgens. Draussen krähte ein erster Hahn. Seit Stunden versuchte Steiner zu schlafen, doch er fand keine Ruhe. Seine Nase war verstopft. Mit seiner rechten Hand griff er unter das Bett, um nach seinem Taschentuch zu suchen. Zwischen Staub und Dreck lag es. Zerknüllt und klebrig. Schnaubend putzte er seine Nase, doch das befreiende Gefühl hielt nur wenige Sekunden an. Sofort füllten sich die Höhlen wieder mit zähem Schleim.

    Zssss. Das penetrante Brummen der Moskitos bohrte sich in sein Gehirn. Steiner kratzte sich am Fuss. Dort, wo die Haut am dünnsten war, juckte es ihn am meisten. Die Einstichstelle war angeschwollen und hart wie ein entzündeter Mitesser. Doch Steiner unterdrückte die Lust, die Schwellung mit seinen Nägeln aufzukratzen. Er hatte die Narben von Leuten gesehen, die sich in diesem Tropenklima die Haut aufgerissen hatten.

    Er war die ganze Nacht mit Boris, dem Deutschen, herumgezogen. Unten am Hafen. Sie hatten gesoffen und Gras geraucht. Die Ware war stark, vielleicht waren die Moskitos deshalb so gierig, dachte Steiner. Der Verkäufer im Park hatte sich wichtig gemacht, es wäre das beste Gras in ganz Panama City. Versteckt in einer Papiertüte brachte er die fünf Gramm zwischen Cola-Büchsen und Sandwiches ins Hotel, nachdem er ihnen vom Park unten ein Signal in Richtung Balkon gegeben hatte, wo sie warteten. José hiess er. Er war nicht mehr der Jüngste. Sprach von seiner Frau und den Kindern, die noch zur Schule gingen. Verdient sich so sein Geld. Zwanzig Dollar verlangte er. Das ist viel zu teuer für Panama, sagte Boris. Kolumbien liege nahe. Panama sei der Umschlagplatz. Durch den Panama-Kanal werde die Ware verschifft. Beim Rauchen kratzte es wenig im Hals. Aber es war potent, zusammen mit dem Bier und dem Rum in den Bars.

    Sie waren die ganze Nacht unten am Hafen gewesen. Eine unsichere Gegend für Weisse. Erst recht für zwei junge Männer, die mit einem Joint unterwegs waren. In der Toilette einer Bar, wo es nach Fäkalien und Erbrochenem roch, hatten sie sich diesen gerollt. Selbst die leicht gekleideten Mädchen im Club schauten sie schräg an, als es im Raum plötzlich nach Gras stank. Boris zahlte dem Mann an der Bar ein fürstliches Trinkgeld, damit er beide Augen zudrückte. Die Nacht drohte aus dem Ruder zu laufen. Der Alkohol und all die anderen Rauschmittel machen euphorisch, du verlierst die Kontrolle, dachte Steiner im Halbschlaf.

    Zssss. Steiner spürte den Flügelschlag eines Moskitos neben seinem Ohr. Mit der Hand versuchte er das Insekt zu erschlagen, traf indessen seine Backe. Der Schmerz riss ihn aus seinem Rausch. Er suchte im Dunkeln nach dem Lichtschalter über seinem Bett. Die Helligkeit erreichte in Wellen seinen Kopf. Steiner schaute umher, ein ziemlich hoher Raum für ein Hotelzimmer, in dem kaum noch etwas an den Glanz vergangener Tage erinnerte. Auf einem kleinen Tisch standen die Reste des Nachtessens. Es gab einen Schrank und ein Regal. An der Decke war ein grosser Ventilator befestigt, der einen monotonen Lärm machte. Die gelblichen Tapeten lösten sich von der Wand. In den Ecken sammelte sich der Dreck. Sein Blick schweifte zu seinem Rucksack, wo die Kleider hineingestopft waren. Darüber an der Wand hockte eine Mücke. Die langen Beine hatte sie von sich gestreckt, ihr Körper war fett und vollgesogen.

    Steiner packte sein Hemd und schlich sich heran. Das Tier wartete bewegungslos. Er holte mit voller Kraft aus und klatschte das Hemd an die Wand. An der Stelle der Mücke war nun ein roter Blutfleck, der wie eine Träne die Wand runter auf den Boden rann. «Du Biest hast mich gestochen und ausgesogen, die ganze Nacht. Nun bist du ein Opfer deiner eigenen Gier geworden», murmelte er vor sich hin.

    Es war bereits Mittag, als Steiner infolge grossen Lärms vor seinem Fenster aufwachte. Er rieb sich die Augen, griff zum Hemd, das am Boden lag, stand auf und schlurfte auf den Balkon hinaus. Ein Auto war mit einem Motorrad zusammengestossen. Auf der Strasse lagen Brötchen herum. Der Lenker des Motorrades, ein junger Bursche, untersuchte sein Fahrzeug und fluchte laut. Der Automobilist strich mit dem Finger über einen Kratzer an seiner Tür. Von überall her strömten Gaffer hinzu. Sie bildeten einen Kreis um die beiden sich anbrüllenden Männer und machten sich einen Spass daraus, ihnen die Brötchen anzuwerfen. Das machte den Jungen mit dem Motorrad noch zorniger. Er erhob seine Fäuste in Richtung des Publikums und wurde deswegen ausgebuht. Auf dem Balkon nebenan standen Susanne und Jens.

    «Was ist denn hier los?», fragte Susanne. «Da streiten sich zwei um ein paar Brötchen. Einer hat mit dem Auto den Bäckerburschen umgefahren», antwortete Steiner. Alle drei starrten nun auf die Strasse hinunter. Ein Polizist in grüner Uniform drängte sich mit dem Gummiknüppel zwischen die beiden Streitenden. Sofort verstummten sie. Er hörte den beiden einen Moment zu, sah sich den Schaden an und befahl dann den Gaffern zu verschwinden. Die Leute pfiffen, standen noch ein wenig herum, gehorchten aber schliesslich. Das Spektakel schien seinen Höhepunkt ohnehin überschritten zu haben. Der Polizist wies die beiden Streitenden an, zusammen die Brötchen einzusammeln. Der Bäckerjunge steckte sie wieder in eine Papiertüte, klemmte den Sack auf sein Motorrad und fuhr davon. Der Automobilist klaubte ein paar Geldnoten aus seiner Tasche, steckte sie dem Uniformierten zu und verschwand in seinem Chevrolet.

    «Was für ein wunderbares Beispiel für die Korruption in Panama», kommentierte Susanne. Ihr Freund Jens meinte, der Polizist sei einfach zu faul gewesen, den Fall genauer zu untersuchen. Steiner sagte nichts dazu, fand aber, der Polizist hätte seine Aufgabe gar nicht so schlecht erfüllt. Ihn störte lediglich, dass der Bäckerjunge die Brötchen wieder eingesammelt hatte, die im Dreck der Strasse lagen, und diese nun irgendwo verkaufen würde. «Wo ist eigentlich Boris?», fragte er. Jens zuckte mit den Achseln. «Der schläft noch immer. Ihr müsst gestern heftig gebechert haben. Er hat im Zimmer einen riesigen Lärm gemacht und rannte die ganze Nacht lang auf die Toilette.» Steiner verzog seinen Mund.

    «Wir waren heute Morgen auf der deutschen Botschaft. Susanne hat den Stempel bekommen. Morgen fliegen wir nach Hause», erzählte Jens.

    «Gut für euch.»

    Susanne machte eine wegwerfende Geste: «Ich habe diese Bananen-Republik satt. Irgendwann kannst du die Gesichter hier nicht mehr sehen.»

    Susanne und Jens waren vor drei Wochen nach Panama geflogen, um Boris zu treffen. Dieser war zuvor allein in Kolumbien herumgereist. Zwei Wochen lang langweilten sie sich dann zusammen in einem kleinen Dorf an der Karibikküste, wo sie, wie sie Steiner erzählten, nichts als bettelnde Kinder und dicke, panamaische Touristen antrafen. Nun warteten sie seit zehn Tagen in Panama City auf ihre Abreise. Am Freitag hätten die beiden nach Berlin zurückfliegen sollen, doch die Zöllner liessen Susanne nicht passieren, weil ihr Pass abgelaufen war. Sie mussten warten, bis das Deutsche Konsulat am Montag wieder öffnete. «Und Boris? Geht er auch?» «Es sieht so aus», grinste Jens ihn an, «wir konnten alle Flüge auf morgen Dienstag umbuchen. Wann verlässt eigentlich du diese Bananen-Republik?» «Ich fahre ebenfalls morgen», antwortete Steiner. «Zuerst mit dem Bus nach Colón und dann weiter mit der Fähre nach Kolumbien.» Er war zwar erst eine Woche in Panama, davon zwei Tage in der Hauptstadt, hatte aber bereits genug gesehen.

    Steiner hatte Hunger und sein Kopf schmerzte. Er schluckte eine Pille dagegen, zog sich eine Hose an und verliess das Zimmer. Vorbei am schwatzenden Putzpersonal begab er sich die Wendeltreppe hinunter. Früher wandelten hier bestimmt Männer in weissen Anzügen und Frauen in eleganten Röcken durch diese Gänge, stellte sich Steiner vor. Das im Kolonialstil gebaute Hotel Central hatte sich noch einen Rest dieses Charmes bewahrt, wenn auch die heutigen Gäste nicht mehr jene waren von einst. Entweder stiegen hier Frauen aus der Dominikanischen Republik oder Nicaragua ab, die in Panama als Prostituierte arbeiteten, oder dann Rucksack-Touristen aus aller Welt. Steiner war mit seinem Reiseführer auf das Hotel aufmerksam geworden. Billig und gut, wenn auch heruntergekommen, stand dort geschrieben. 15 Dollar kostete die Nacht. Das war dennoch deutlich mehr, als er in den Wochen zuvor in Guatemala, Honduras oder Nicaragua ausgegeben hatte.

    Steiner durchquerte die Eingangshalle und verschwand hinter einer kleinen Türe. Dort in der Bar, wo Tag und Nacht Musik dröhnte, servierte ihm ein Kellner mit fleckiger Schürze Kaffee, gebratene Eier und Bohnen. Lieber hätte er ein Stück Brot mit Butter und Konfitüre gegessen, aber ein solches Frühstück wurde in Mittelamerika in den Hotels nur mit einem Aufpreis serviert. Was er in Mittelamerika am wenigsten ertrug, war das Essen, dachte er, während er mit dem Löffel in den Bohnen herumwühlte. Es gab immer das Gleiche. Sogar hier in Panama, wo sonst alles sehr US-amerikanisch war. Trotz des Ventilators drückte bereits wieder die Hitze. Steiner klebte das Hemd am Körper. Er beschloss, sich noch einmal eine Stunde hinzulegen.

    «Konrad! Konrad!» Jemand klopfte an der Tür. Steiner wachte aus unangenehmen Träumen auf. Moskitos, die ihm mit ihren langen Rüsseln nachstellten, kamen darin vor. Boris stand draussen im Gang und strahlte über das ganze Gesicht. «Konrad, alter Kamerad, wie geht es? Warum nur siehst du so zerknittert aus?», sagte er schmunzelnd. Sie setzten sich auf den Balkon. Es war später Nachmittag, die Sonne war hinter den Gebäuden verschwunden. Steiner zündete sich eine Zigarette an, sog den Rauch tief ein, seufzte und schaute auf den Platz herunter. Es war die Plaza, eine Art Park mit Bäumen und Bänken, wo Schuhputzer, Eisverkäufer, Kinder und Dealer hockten. Eine Plaza, wie es sie in jeder Stadt auf diesem Kontinent gab. Immer sahen sie gleich aus: ein Stück heile Welt inmitten von Armut. Die Altstadt hier, so zerstört sie heute auch war, man sah ihr immer noch an, dass sie einmal das stolze Zentrum des Landes gewesen sein musste.

    Boris hatte seine Sonnenbrille auf und beobachtete auf dem Balkon gegenüber zwei dunkelhäutigen Frauen mit Lockenwicklern in den Haaren, kurzen Hosen und dicken Schenkeln. «Das sind Nutten. Echt geil. An denen ist richtig was dran.»

    «Ich stehe mehr auf schlanke Frauen.»

    «Gestern hatte ich aber den Eindruck, dass du die Kolumbianerin mit deinen Augen regelrecht verschlungen hast – und die war ganz schön üppig», grinste Boris. «Heute führe ich dich an einen anderen Ort, in ein richtiges Puff. Abgefuckt, Panamastyle.» Steiner quetschte auf dem Geländer seine Zigarette aus und spickte den Stummel in den Park hinunter. «Ich gehe heute nirgendwo hin. Ich habe genug von Panama. Und überhaupt, der Abend gestern war für mich zu viel. In der Nacht mit Drogen im Sack am Hafen herumzuhängen, ist nicht mein Ding. Nicht auszumalen, wie unangenehm das enden kann.» Boris sah ihn an und grinste weiter. «Was denkst du, warum ich in diesem lausigen Land bin? Um mich zu langweilen? Das kann ich wieder zuhause machen.» Dann rieb er sich die Nase. «Wenn wir gleich beim Thema sind. Gehen wir in mein Zimmer rüber? Dort liegen drei Gramm Gras. Heute ist unser letzter Abend, den Stoff können wir nicht ungenutzt lassen.» Steiner sagte, er habe keine Lust auf Gras, wand sich ein wenig, ging dann aber doch mit.

    Boris teilte sich ein Zimmer mit Jens und Susanne, weil sie alle kaum mehr Geld hatten. Am Boden zerstreut lagen ihre Kleider, Taschen und Koffer. Ihr einziger Luxus war ein Kassettenrekorder, aus dem Tag und Nacht brachiale Musik von Rammstein ertönte. Die beiden anderen lagen halbnackt im zerwühlten Bett. Susanne schien nicht besonders erfreut zu sein über den Besuch. «He Boris, ehrlich, kannst du nicht wenigstens anklopfen!?»

    Doch dieser war bereits damit beschäftigt, mit einem Taschenmesser das Gras aus einem Plastikbeutel zu schaufeln. «Heute machen wir Party.» Für ihn war das beschlossene Sache, für die er keine Zustimmung der anderen bedurfte. Steiner beobachtete, wie Boris einen beachtlichen Haufen des Pflanzenmaterials hinlegte und dieses mit dem Messer zerkleinerte. Er arbeitete wie ein Besessener. Steiner sass auf dem Stuhl, sah ihm zu, rauchte und sagte nichts. Boris rollte mit Tabak einen Joint, zündete ihn an und sog geniesserisch den Rauch ein. Darauf streckte er Steiner die Zigarette zu und sagte: «Hier, Konrad. Nimm auch.» Dieser schüttelte stumm den Kopf. «Nimm bitte. Das tut dir gut und schafft Ordnung in deinem Kopf.»

    «Keine Lust. Und das Zeug kratzt ohnehin im Hals.»

    «Stimmt nicht. Das ist guter Stoff. Siehst du nicht? Das ist eine andere Packung als gestern.» Er streckte Steiner den Beutel hin. «Riech mal.» Steiner hielt ihn gegen das Licht und steckte seine Nase hinein. «Du hast Recht, das könnte besser sein. Trotzdem …»

    «Kollege, stell dich nicht so an! Mach mir doch die Freude. Dies ist mein letzter Abend in Amerika.»

    Steiner seufzte resigniert, nahm den Joint und zog den Rauch in die Lunge. Es war dieser kurze Moment, den er mochte. Wenn der Rauch im Innern war und das Zeug langsam in den Kopf stieg. Sofort fühlte er sich wohler.

    Jens und Susanne lagen noch immer gelangweilt auf dem Bett. «Habt ihr auch Lust auf Bier und eine kleine Party?», fragte Boris, der unterdessen die Musik in voller Lautstärke aufgedreht hatte. «Wenn du zahlst.» Seine Augen glänzten, und er grinste über das ganze Gesicht, als er aus dem Zimmer verschwand. Steiner rauchte den Joint fertig und ging in sein Zimmer, wo er auf die Toilette hockte. Es war immer das Gleiche, kaum hatte er das Zeug inhaliert, musste es unten raus. Das Gras löste bei ihm die Körpersäfte. Aber wenigstens war die Toilette hier halbwegs sauber.

    Als Steiner zurückkehrte, waren alle auf dem Balkon am Biertrinken. Jens und Susanne hielten sich eng umschlungen, Boris redete ohne Unterbruch von seinen Erlebnissen in Kolumbien, wie sie bei einer siebzigjährigen Frau in Cartagena allerbestes Koks gekauft hätten und wie diese Stadt geil sei, und dass Steiner unbedingt dort hingehen müsse, schon wegen der Frauen, weil diese dort wirklich die schönsten von ganz Kolumbien seien, und sie sich einfach flachlegen liessen. Es war nun Steiner, über dessen Gesicht sich ein flaches Grinsen ausbreitete, und schliesslich aus allen Löchern prustete. Sie rauchten noch ein paar Joints, Boris holte neues Bier. Jens und Susanne, die nicht kiffen wollten, verschwanden schliesslich im Zimmer.

    Es war ein Nachmittag, ganz nach Steiners Geschmack. Zusammen mit Bekannten abhängen, ohne Verpflichtungen und ohne grosse Sorgen im Kopf, berauscht von Substanzen und vom Leben. Es war, wonach er sich oft gesehnt hatte, in den vergangenen Wochen und Monaten. Doch allzu oft nagten die Zweifel in seinem Innern, lastete seine Existenz schwer wie ein Stein auf ihm. Irgendwann hatte Steiner aber doch genug von den Sprüchen, dem Gegröle und den derben Witzen von Boris. Er erhob sich und kündete an, dass er spazieren gehe. Er komme am Abend zurück, sodass sie dann etwas zusammen unternehmen könnten. Draussen im Gang musste er seine Brille putzen. Sie war angelaufen, so schwül war es im Hotel. Steiner sah die Welt wegen eines starken Sehfehlers ohne Brille nur verschwommen. Als die Sicht wieder klar war, ging er hinunter in die Haupthalle des Hotels. Señor Jorge winkte ihm freundlich von der Rezeption zu. Steiner setzte sich in der Bar gleich nebenan an einen Tisch und bestellte eine Cola mit viel Eis. Er schaute dem Treiben zu, einem bunten Mix aus Geschäftsmännern, jungen Mädchen und Beamten in Uniform, die sich in diesem Hotel einfanden. Sie tranken Kaffee oder Bier und rauchten. Im Hintergrund dröhnte der Beat von Salsa und Merengue. Langsam trank er seine Cola, die seinen Kopf klärte. Señor Jorge lächelte ihm von der Rezeption zu und gab ihm mit einer Geste zu verstehen, dass er gerne zu ihm sitzen würde. Steiner hielt den Daumen nach oben.

    «Willkommen in unserer kleinen Welt», begrüsste er ihn. Steiner stand kurz auf und schüttelte ihm die Hand. «Ich geniesse es, nach den langen Reisen einige ruhige Tage in Ihrem Hotel zu verbringen», schmeichelte er ihm höflich, obwohl er die Abreise herbeisehnte. Der Mann von der Rezeption trug eine Art Uniform mit goldenen Knöpfen, hatte krause dunkle Haare und stellte sich als Hoteldirektor vor. Sein Urgrossvater sei vor rund hundert Jahren aus Griechenland nach Panama gekommen. Er war als Ingenieur am Bau des Panama-Kanals beteiligt, der 1915 eröffnet wurde, nachdem Zehntausende von Arbeitern an Malaria und anderen Krankheiten gestorben waren. Doch der neue Verkehrsweg, der Reisen von Europa an die amerikanische Westküste wesentlich verkürzte, brachte Wohlstand nach Panama. Es waren die goldenen Jahre, auch für das Hotel Central, erzählte Señor Jorge. Doch seine Familie sei erst viel später zu diesem Hotel gekommen.

    Als die Regierung die Altstadt in den 1970er-Jahren zerfallen liess, interessierte sich niemand für das Hotel. Der Vater von Señor Jorge konnte die riesige Immobilie zu einem günstigen Preis erwerben. Seither führte seine Familie den Betrieb, finanziell seien ihre Möglichkeiten aber sehr beschränkt, ständig fehle es an Mitteln, immer gäbe es irgendwo ein Dach oder ein Treppenhaus zu reparieren, Zimmer zu erneuern und raffgierige Beamte zu bezahlen, erklärte er und zeigte augenzwinkernd auf die Männer, die an den anderen Tischen sassen. «Aber jetzt möchte ich mehr von Ihnen wissen. Was denken Sie über unsere Stadt?», fragte er. Steiner erzählte, dass er in der Schweiz Wirtschaft studiert habe, dass ihn der Immobilienmarkt immer interessiert habe, dass er sich auf einer ausgedehnten Reise durch Mittel- und Südamerika befinde, wo er seine spanischen Sprachkenntnisse perfektionieren möchte, die er sich zuvor an der Universität angeeignet hätte und dass für ihn diese Altstadt einen speziellen Charme ausstrahle.

    «Was würden Sie mir als Unternehmer raten?», fragte der Hoteldirektor. Steiner fühlte sich geschmeichelt. Seit langem hatte er wieder mal die Möglichkeit, mit einem gebildeten Mann zu sprechen, mit einem Unternehmer, der die Möglichkeiten und den Willen hat, etwas zu bewegen, die Welt im Kleinen zu verändern. Solche Menschen interessierten ihn. Er selbst stammte zwar aus einer belesenen, aber nicht unternehmerisch orientierten Familie. Gerne wäre er nach seinem Studium in einen grossen Konzern oder gar eine Bank eingetreten und hätte das praktische Handwerk der Betriebswirtschaft gelernt. All dies erzählte er seinem Gegenüber atemlos und mit einer gewissen Euphorie im Kopf. «Aber um zu Ihrer Frage zurückzukommen. Ja, ich sehe ein grosses Potenzial für diesen Standort. Der innere Wert dieser Immobilie ist mit Sicherheit bedeutend grösser als ihr aktueller Preis», führte Steiner aus, wie er dies an der Universität gelernt hatte.

    Die ganze Altstadt von Panama sei heruntergekommen, dies führe zu einer stetigen Abwärtsspirale. Doch diese lasse sich durchbrechen, wie das Beispiel europäischer Städte wie Barcelona, Neapel oder Hamburg zeige. Es brauche nur Unternehmer, die den Mut hätten zu investieren, die Leuchttürme in einem Quartier schufen und neue Bewohner anlockten, was zur Aufwertung eines ganzen Stadtteils führen würde, dozierte Steiner.

    Señor Jorge hörte ihm gespannt zu und klatschte am Schluss gar in die Hände. «Sie sprechen mir aus der Seele, mein Freund. Auch ich glaube an das koloniale Erbe dieser Stadt und an eine glorreiche Zukunft dieses Hotels.» Bis dahin sei es aber noch

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