Nummer Sieben muss sterben: Der dritte Fall der Kriminalkommissarin Petra Neuhaus
Von Martin Willi
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Nummer Sieben muss sterben - Martin Willi
Prolog
Mit seinen schmalen hellbraunen Augen sah er durchs Küchenfenster zum Himmel empor, der Mond war bereits letzte Nacht so rund und schön, wie er es noch selten erblicken konnte. Jetzt war es noch zu hell, aber schon bald würde der einzige natürliche Satellit der Erde in seiner ganzen Pracht am Himmel erstrahlen. Nun war es wiederum so weit, der Vollmond versprach ihm beste Aussichten auf Erfolg seines Planes. Wer wird wohl sein drittes Opfer sein?
Er schaute sich in seinem Wohnzimmer um, alles schien ihm perfekt zu sein, alles war genauso, wie er es liebte. Jeder Gegenstand befand sich an seinem angestammten und angedachten Platz. Doch was war das? Das Bild von Petra auf dem Sideboard stand offensichtlich etwas mehr rechts als sonst. Schnell schritt er zum Foto und stellte es so hin, wie es sein sollte, wie es gestern war, wie es morgen und allezeit sein würde.
Zwei Minuten später verliess er seine Wohnung, das Jagdmesser mit einer zwölf Zentimeter langen Klinge in seiner rechten Brusttasche liess ihn in schönster Vorahnung auf seine Tat in erwartungsvolle Ekstase versetzen. Ich bin zu aufgeregt, ich muss ruhig bleiben, es wird wunderbar sein, wenn ich zusteche. Ruhig atmen, ruhig. Keine Hektik. Wen darf ich heute wohl von seinem menschlichen Dasein erlösen? Wessen Leid werde ich heute beenden können? Wer wird es sein – ein Mann, eine Frau oder sogar ein Kind?
Den Brief an Petra warf er auf dem Bahnhof in den Briefkasten. Anschliessend fuhr er mit der Bahn nach Baden, um sich auf seine dritte Vollmondtat vorzubereiten.
Die Altstadt von Baden hatte er sich heute für seine Handlung ausgesucht. Dies erschien ihm nach seinen beiden ersten Taten ein optimaler Ort zu sein, vor allem eine logische Örtlichkeit. Er begann die Rathausgasse entlangzugehen, es herrschte ein emsiges Treiben an diesem lauen Sommerabend. Sein Jagdmesser hatte er aus seiner Brusttasche gezogen und umklammerte es fest mit seiner rechten Hand. Nun begann er wieder leise flüsternd zu zählen: «Eins, Zwei, Drei, Vier, Fünf, Sechs, Sieben!» Eine Frau Mitte vierzig kam auf ihn zu und er stellte sich ihr in den Weg.
«Was soll das, was wollen Sie?»
Lächelnd sagte er: «Tut mir leid, du bist Nummer Sieben.» Im selben Moment stach er zu, das Jagdmesser durchbohrte das Herz der unschuldigen Frau und liess sie röchelnd sterben.
KW 15 – Mittwochabend
«Was meinst du, wollen wir morgen wieder einmal ins Kino gehen?» Alexandra Meili stand etwas gelangweilt, beinahe schon unmotiviert, an der Küchenkombination und scrollte auf ihrem Smartphone, um in Erfahrung zu bringen, was am Donnerstagabend in der Region kulturell so angeboten wurde. Alexandra, die in Aarau als Kundenberaterin in einer Drogerie tätig war, fuhr durch ihre gelockten roten Haare, eine Frisur wie eine Löwenmähne besass sie, worauf sie einen durchaus berechtigten Stolz hatte. Sie glaubte zu wissen, dass es nur wenige Frauen mit einer solch wunderbaren Haarpracht gibt. Manchmal im Sommer, so wünschte sie sich zwar des Öfteren, dass ihre Haare kürzer und nicht so dicht wären. Aber sie wusste auch, dass ihre Haare bei Männern sehr gut ankamen, dass sie mit ein Grund waren, dass sie so attraktiv und anziehend auf das männliche Geschlecht wirkte. Und welche heterosexuelle Frau möchte nicht begehrenswert und reizvoll für das männliche Geschlecht erscheinen?
Ihr Lebenspartner Kevin Sutter sass auf dem Sofa, hatte die Beine auf den Salontisch hochgelagert, obwohl Alexandra das nicht gerne sah, tat er es zu ihrem Verdruss immer wieder. Kevin schaute sich einen Fussballmatch an. Conference-League stand auf dem Programm, kein besonderes Spiel, Bordeaux gegen Napoli. Kevin war Fan des FC Aarau und sympathisierte zudem mit Leeds United und Union Berlin. Aber diese Mannschaften waren allesamt nicht oder nicht mehr in den europäischen Wettbewerben vertreten, da sah er sich in der Not auch andere Spiele an. Hauptsache Fussball. «Kino, okay, warum eigentlich nicht, waren wir schon eine Weile nicht mehr. Was läuft denn so, gibt es was Interessantes?»
«Im Ideal ist ‘Die göttliche Ordnung’ zu sehen. Den will ich mir doch schon lange anschauen, das weisst du doch. Beim Kinostart habe ich ihn damals irgendwie verpasst. Immer kam etwas dazwischen und plötzlich war es zu spät.» Alexandra wusste sehr wohl, dass Kevin eher Actionfilme liebte, Star Wars oder James Bond standen bei ihm ganz hoch oben im Kurs. Aber er kann ja auch mal über seinen eigenen Schatten springen und mir zuliebe «Die göttliche Ordnung» anschauen, er wird schon nicht gleich einen jahrelangen oder sogar bleibenden Schaden davon bekommen. «Und was hältst du davon?», hakte sie nach, da Kevin ihr noch keine Antwort gegeben hatte.
«Wenn ich ehrlich bin, so habe ich dazu wirklich keine Lust. Ist der Film nicht langweilig oder sogar ätzend? Scheint mir doch irgendwie so eine Frauensache zu sein, irgendwas Emanzipiertes oder nicht? Ich stehe nicht so auf diesen feministischen Kram, das weisst du doch.»
Na klar, das musste ja so kommen. Alexandra ging zu Kevin, stand hinter das Sofa und begann seinen Nacken mit wohltuenden und gekonnten Handgriffen zu massieren. «Ach komm schon Kevin, ich schau mir auch immer wieder Filme mit dir an, die ich nicht so toll finde. In einer Beziehung muss man sich auch mal einen Gefallen tun.»
«Jaja, ist ja gut Alexandra, ich komme ja mit. Und du, tust du mir auch einen Gefallen?»
Alexandra wusste genau, was Kevin mit diesen Worten meinte, was er liebte und von ihr nun wünschte. Sie beugte sich über ihn, küsste und knabberte an seinem rechten Ohr und sagte: «Jederzeit, mein Schatz, soll ich jetzt sofort?»
«Warum nicht, spricht etwas dagegen?»
«Aber nur, wenn du das Fussballspiel abstellst, kleiner Macho, was du bist. Das törnt mich jetzt echt nicht an.» Alexandra ging um das Sofa herum, lächelte verführerisch, kniete sich vor Kevin hin und öffnete seine Jeanshose. Schön langsam, Millimeter um Millimeter.
Kevin lehnte sich zurück, mit seinen Händen fuhr er durch Alexandras wilde Haarpracht. Geniessen, jetzt nur noch geniessen, war sein Gedanke. Was ihn erwartete war das Höchste der Gefühle, die er sich vorstellen konnte. Nichts auf der Welt liebte er so sehr, als wenn Alexandra ihn mit ihren Händen, ihrer Zunge und ihrem Mund verwöhnte und er so zu einem einzigartigen erotischen Höhepunkt gelangen konnte.
KW 15 – Donnerstag, Nacht auf Freitag
Vereinzelte Regentropfen vermochte der auf der Lauer liegende Mann auf dem Dach des Mehrfamilienhauses zu verspüren. Regentropfen, die sachte auf seinen angespannten Kopf herunter nieselten. Regen? Davon habe ich aber auf meiner Wetter-App nichts gesehen. Nicht mal auf die Apps kann man sich heutzutage verlassen. Dabei dachte ich, wenigstens beim Wetter gibt es keine Fake-News. Fortwährend wird man angelogen. In Gedanken an Lug und Trug fiel ihm das Lied «Good Liar» von der jungen Luzerner Band Milde ein. Darin heisst es auf Deutsch übersetzt «Ich weiss nicht, ob ich ein guter Lügner bin.» Wenn es wirklich so weit kommt, dass man mich erwischt, dann muss ich bei der Polizei ein richtig guter Lügner sein. Aufgeregt, nervös und in heller Vorfreude auf das, was in den nächsten Sekunden passieren sollte, pochte sein Herz. Es schien ihm, es würde so laut schlagen, dass man es unten auf der Strasse zu hören bekam, was aber natürlich eine reine Einbildung seinerseits war.
Seine Augen sahen scharf zur Aarauer Stadtkirche hinüber, die Uhr zeigte kurz vor 23 Uhr. Die Kirchenglocken würden jedoch nicht zu vernehmen sein, denn seit 2011 hat die reformierte Kirche ab 22 Uhr den Stundenschlag abgestellt, damit hatte sie sich der katholischen Kirche angepasst. Dies sehr zur Freude all derer, die sich nachts am stündlichen Glockengebimmel störten. Und von denen soll es offenbar immer mehr geben, wie er unlängst in den Medien gelesen hatte. Er blickte hinunter auf die Strasse, er hatte sich eine wahnwitzige Idee überlegt und sich vorgenommen diese umzusetzen. Ein Plan, der ihm selbst einerseits absurd erschien, andererseits aber auch genial und nicht durchschaubar für die Polizei. Ein Plan, der heute seinen Anfang nehmen sollte. Die siebte Person, die nach 23 Uhr in dieser Vollmondnacht über die Strasse ging, diese Person sollte sein erstes und mit Bestimmtheit nicht letztes Opfer sein. Sieben, das war seine Glückszahl, seine Lieblingsnummer, daher entschied er sich für diese Ziffer. Und da er schon solange er denken kann, fasziniert ist von der Pracht des Vollmonds, entschied er sich dafür, seine Tat in dieser Nacht zu vollbringen. Denn es war ihm bewusst, dass der Mond Auswirkungen auf die menschliche Stimmung hat. Der Mond und das menschliche Gemüt sind eng miteinander verwoben, das belegen inzwischen zahlreiche Studien. Er war überzeugt davon, dass der Vollmond eine positive Wirkung auf ihn und seine Tätigkeiten hatte. Daher war es für ihn ganz klar, dass er seine Tat nur an einem Vollmond begehen konnte. Das Sturmgewehr SIG 550 war auf die Strasse gerichtet, seine Armbanduhr zeigte genau 23 Uhr, sein rechter Zeigefinger lag leicht zitternd auf dem Abzug. Nochmals ein Blick zur Uhr, er wusste, dass diese sekundengenau stimmte, denn er hatte sie am Abend noch mit der telefonischen Zeitansage auf der Nummer 161 verglichen. Diese automatische Auskunft erfreut sich auch heute noch einer grossen Beliebtheit, wird sie doch öfters gewählt als zum Beispiel die Notrufnummer. Für den Mann war dies etwas verwunderlich, denn in der heutigen Zeit mit den Smartphones erschien ihm das nicht nachvollziehbar. Allerdings meinte er darin zu erkennen, dass die Menschen sich nach einer genauen Zeit sehnten. Für viele Menschen war es offenbar wichtig, dass ihre Uhren ganz genau stimmten, dies gab ihnen wohl Sicherheit. Mit der linken Hand trocknete er seine Stirn und seine Augen, die vom schwachen Nieselregen etwas genässt waren, er musste sich einen klaren Blick bewahren. Es muss beim ersten Mal klappen, ich habe nur eine Chance, eine einzige Möglichkeit. Für den Mann war es klar, dass er nur einmal schiessen konnte, danach musste er sofort verschwinden, er durfte kein unnötiges Risiko eingehen.
Leise flüsternd begann er die Personen zu zählen, die er da zu sehen bekam. Nummer Eins überquerte die Strasse, eine junge Frau in einem roten Minirock, ein Rock, der für diese Jahreszeit zu kurz war, meinte der Schütze in Gedanken mit sich selbst. Aber immerhin ein Kleidungsstück, das zu ihren Haaren und ihrem sonstigen Outfit passte. Vielleicht ist sie ja unterwegs, um ein Abenteuer zu erleben. Drei junge Männer folgten der Frau in einem Abstand von einigen Metern, ihr leicht frivoles Gespräch vermochte er bis in sein Versteck hinauf zu vernehmen. Sein rechtes Auge blickte gestochen scharf durch das Nachtzielgerät als ein älteres Paar, so um die siebzig, mit langsamen Schritten gemächlich die Strasse hinüberwechselte.
Einen Sekundenbruchteil schloss er die Augen. Ruhig, es ist gleich so weit, es wird grossartig sein. Hoffentlich kommt nur eine einzelne Person, wenn eine Gruppe kommt, so ist es eminent schwierig. Wen soll ich denn da auswählen? Macht es mir bitte nicht so schwer da unten. Nicht bei meinem ersten Mal, bei meiner Premiere als Killer. Ein junger Mann in einem hellbraunen Sakko und blauen Jeans kam eiligen Schrittes daher. Offenbar war er auf der Suche nach etwas oder verfolgte er gar jemanden? Der Schütze zögerte einen minimalen Augenblick, hielt den Atem an, tätigte dann den Abzug. Ein lauter Knall, ein kurzer Schrei des in sich zusammensinkenden Mannes, und alles war vorbei, schon vorbei. Schneller, als sich der Täter dies vorgestellt hatte. Nun schnell verschwinden und keine Spuren hinterlassen. Er wusste, dass er keine Zeit verlieren durfte. Jede Sekunde konnte entscheidend sein.
«Hallo, hier ist Petra, was gibt es denn?» Kriminalkommissarin Petra Neuhaus nahm um 23.17 Uhr mehr widerwillig denn erfreut den eingehenden Anruf auf ihrem Mobiltelefon entgegen. Um diese Zeit konnte es sich nur um ein Verbrechen handeln, was sollte es denn sonst sein? Sie lag bereits in ihrem Bett, nur mit einem T-Shirt und einem engen Slip bekleidet, sie trug nie mehr, wenn sie ins Bett ging, auch nicht bei Eiseskälte. Heute wollte sie etwas früher als gewohnt schlafen, doch damit wurde wohl nichts. Dies wurde ihr in dem Augenblick klar, als sie den ersten Ton ihres Telefons vernehmen musste.
Auf der Fahrt mit Blaulicht von ihrem Wohnort nach Aarau dachte sie zurück an den Anruf. Ein junger Mann auf offener Strasse erschossen, wie in einem Wildwestfilm aus Hollywood. Und das in unserem beschaulichen und idyllischen Aarau, das gibt es doch nicht. In den Millionenstädten gibt es solche Fälle des Öfteren, aber hier in der Provinz? Da bin ich mal gespannt, was mit diesem Fall alles auf mich zukommen wird. Hätte Petra Neuhaus zu diesem Zeitpunkt geahnt, welche Bedeutung dieser Fall für sie höchstselbst nehmen würde, vielleicht wäre sie auf der Stelle umgekehrt. Doch wie soll man als Ermittlerin zu Beginn eines Falls wissen, wie der Verlauf, wie das Ende sein wird? Petra konnte nicht ahnen, dass es zu einem ganz persönlichen Fall werden sollte.
Sie fuhr so nahe an den Tatort heran, wie sie nur konnte. Bereits konnte sie ihre Kollegin Bettina Leutenegger erkennen, die sich schon am Tatort befand. War ja auch kein Wunder, wohnte Bettina doch nur wenige Strassen von hier entfernt. Erwin hats gut, der hat heute keinen Bereitschaftsdienst. Na, dann ist halt Frauenpower angesagt. Auf die Dauer hilft nur Frauenpower. Diesen Spruch hatte sie irgendwann mal als Graffitispruch in Zürich in der Nähe des Hauptbahnhofs gelesen und sich eingeprägt. Schliesslich sollte dies nach fünfzig Jahren Frauenstimmrecht in der Schweiz allen Männern längst klar sein. Soll sich Erwin um seine Familie kümmern, mir scheint sowieso, dass zwischen ihm und seiner Frau irgendwas nicht mehr so richtig stimmt. Na ja, geht mich ja auch nichts an. «Hallo Bettina, ist wieder mal nichts mit der wohlverdienten Nachtruhe, nicht wahr?»
«Allerdings Petra, warum geschehen eigentlich die meisten Mordfälle in der Nacht? Das ist doch nicht normal. Kannst du mir das bitte erklären?»
«Ach Bettina, das bildest du dir doch nur ein. Und, was haben wir denn?»
«Eine verrückte Sache, wird der einfach auf offener Strasse abgeknallt wie ein räudiger Hund. Ich habe den Schuss sogar bei mir Zuhause gehört.»
«Kein Schalldämpfer? Da war sich der Täter aber sehr sicher, nicht erwischt zu werden. Und wer ist das Opfer?»
Bettina hielt den Identitätsausweis des Toten in der Hand und las ihrer Berufskollegin vor: «Kevin Sutter, 22 Jahre alt, wohnhaft in Suhr.»
«22 Jahre? Echt jetzt? Verfluchte Scheisse!»
«Das kannst du laut sagen, immerhin musste er nicht leiden, er war sofort tot.»
«Ein schwacher Trost, das nützt ihm und seinen Angehörigen jetzt auch nichts mehr.» Petra schüttelte den Kopf. «Das ganze Leben noch vor sich und innert einem Sekundenbruchteil ist alles