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Geheimprojekt Übermensch: Band 2, Die Rettung des Wesens im Ei
Geheimprojekt Übermensch: Band 2, Die Rettung des Wesens im Ei
Geheimprojekt Übermensch: Band 2, Die Rettung des Wesens im Ei
eBook499 Seiten7 Stunden

Geheimprojekt Übermensch: Band 2, Die Rettung des Wesens im Ei

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Über dieses E-Book

Der zweite Teil des dreiteiligen Romans (Teil 3 erscheint 2025) beginnt mit der überstürzten Flucht des berühmten Journalistenpaares Agramoffs mit einem kleinen Segelboot.

Vorgeschichte
Bei einer Routineuntersuchung der schwangeren Klara wurde festgellt, dass sich in ihrer Gebärmutter ein riesiges Ei entwickelt. Die karrieregeilen jungen Ärzte wollten daraus eine Weltsensation machen und planten, dies der Weltpresse zu präsentieren. Das veranlasste die Agramoffs dazu, zu flüchten und bei einer Freundin auf einer Prominenten-Insel unterzutauchen. Dort brachte Klara Agramoff tatsächlich ein Ei zur Welt. Die Ärzte setzten alles daran, die beiden wieder aufzuspüren und behaupteten deshalb, das berühmte Ehepaar sei von einer extrem ansteckenden, neuen Infektionskrankheit befallen. Um deren Ausbreitung zu verhindern, wurde eine landesweite Fahndung ausgelöst, was natürlich einen riesigen Wirbel in den Medien erzeugte. So wurden die Agramoffs schließlich im Haus ihrer Freundin erkannt. Kurz vor dem Eintreffen der Polizei gelang ihren die Flucht auf das Boot.

Rahmenhandlung
Tag und Nacht wechselt sich das Ehepaar ab, das Ei mit ihrer Körperwärme zu bebrüten. Als das Benzin ausgeht und sie in einem Sturm geraten, der den Mast zerbricht, treiben sie hilflos auf dem Ozean. Ein vorbeifahrendes Frachtschiff rettet das Paar vor dem nahenden Tod. Ein Teil der Mannschaft besteht jedoch aus Mitgliedern einer Piratenorganisation, die Millionen mit Lösegeldern für gekaperte Frachtschiffe verdient und hemmungslos mordet. Nach einer Reihe dramatischer Ereignisse erreichen sie schließlich einen Hafen. Hier kann das Ehepaar ihren Freund erreichen, der ihnen den Zugang zu Prof. Brookman ermöglichte, der im Himalaya-Königreich Amthum untergetaucht ist und durch neuartige Methoden der Genmanipulation die Ei-Schwangerschaft von Klara Agramoffs ermöglicht hatte. Der immense Reichtum ihres Freundes und die weltweiten Beziehungen aus seiner Vergangenheit als Investment-Spekulant ermöglichen die Bestechung von Polizei- und Geheimdienst-Offizieren in der Diktatur des Schwellenlandes, in dem die beiden gelandet sind. So können sie schließlich nach Amthum fliegen.

Sie haben jedoch die Hoffnung bereits aufgegeben, dass das unbekannte Wesen im Ei die abenteuerliche Reise überlebt hat und erwarten einen vermoderten Kadaver. Als sie jedoch schließlich in einem der versteckten königlichen Burgpaläste ankommen, müssen sie sich einer strikten telepathischen Prüfung durch den König und den Großabt des Landes unterziehen. Man will unbedingt sicherstellen, dass sie bereit und in der Lage sind, die Geheimnisse für immer zu bewahren, die man ihnen offenbaren muss, wenn das Ei geöffnet wird. In den Kellergewölben unter dem Palast hat Brookman seine größten hochmodernen Laboratorien. Hier erwartet sie schließlich eine Sensation, welche sie für immer geheim halten müssen, um die Entwicklung der Menschheit nicht zu gefährden.

Es gibt Menschen, die glauben, dass es sich bei diesem Roman um ein „Lit-Leak“ handelt. Mit anderen Worten, ein Insider verrät die schon lange im Geheimen durchgeführten Experimente zur gentechnischen Veränderung des Menschen an einen Schriftsteller. Das habe der Autor dann in die Form eines dreiteiligen Romans gegossen.

Entsprechend dem Motto „Testlauf statt Fehlkauf“ sind ausführliche Hintergrundinformationen auf www.fagulon.de zu finden. Das ungekürzte Hörbuch mit gestischer Lesung von Sebastian Scherbot ist unter www.fagulon-shop.net erhältlich. Die ersten Kapitel von Band 1 kann man zudem kostenlos auf allen großen Podcast-Plattformen anhören.
SpracheDeutsch
HerausgeberFAGULON Verlag
Erscheinungsdatum20. Apr. 2024
ISBN9783941525344
Geheimprojekt Übermensch: Band 2, Die Rettung des Wesens im Ei

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    Buchvorschau

    Geheimprojekt Übermensch - Marc DeSargeau

    1. Kapitel

    Die morgendliche Kälte ist in alle Winkel des Bootes gekrochen und ergreift nun auch von der Kajüte Besitz, in der James und Klara die Nacht verbracht haben. Die Feuchtigkeit ihres Atems hat das Bullauge beschlagen lassen, so dass James – der seine steifen Glieder als erster aus der engen Koje wuchtet – erst eine Weile wischen muss, um zu erkennen, ob sich der Nebel schon gelichtet hat.

    Das Ergebnis seiner Bemühungen lässt hoffen, so dass er in die Steuerkabine hinauf steigt, die Heizung und den Warmwasserboiler anstellt und nach dem hellen Fleck Ausschau hält, der wohl die Sonne ist, da er sich über dem Horizont erhebt und offenbar versucht, höhere Gefilde zu erklimmen.

    Als James wieder in die Schlafkajüte zurückgeht, kann er sich einen neugierigen Blick in die beiden Lustkabinen nicht verkneifen. Unwillkürlich stellt er sich den ältlichen und übergewichtigen Wayne vor, der – vielleicht mit einen rosa Tutu bekleidet – inmitten einiger Gleichgesinnter die Form von Lebensfreude zelebriert, die ihm an Land durch die strengen moralischen Normen seiner Nachbarn und die perfekte Selbstkontrolle einer kleinstädtischen Gemeinschaft verwehrt wird. ›Hier bin ich Tunte – hier kann ich’s sein …‹ ist ein Motto, welches James einfällt und ein flüchtiges Grinsen auf sein scharf geschnittenes Intellektuellengesicht zaubert, während er zu Klara zurückkehrt, die bereits mit der Bereitung neuer Wärmflaschen für das Ei beschäftigt ist.

    »Hab ich mir doch gedacht, dass der Herr Vater noch einen kleinen Ausflug in alternative Welten unternehmen würde, während sich seine Frau mit der Pflege des Nachwuchses abquälen muss«, ist ihre Reaktion, als er die Tür vorsichtig öffnet. Eigentlich hatte James gehofft, Klara und das Ei würden noch schlafen.

    »Ja, manchmal bedarf es nur kleiner Anregungen, um zu neuen Ufern zu finden«, sagt James so ernsthaft, wie es ihm möglich ist. »Vielleicht finden wir aber heute auch zur Küste zurück. Der Nebel scheint sich zu lichten, der Wind hat in der Nacht weiter abgenommen. Aus dem Stand der Sonne können wir wenigstens einigermaßen die Himmelsrichtung ableiten. Irgendwo am Ufer werden wir schon ankommen. Wir tuckern dann einfach gemütlich die Küste entlang, bis es wieder Abend ist und wir einen geeigneten kleinen Yachthafen gefunden haben, in dem wir – ohne erkannt zu werden – an Land gehen können.«

    »Was?? Erst abends? Kannst du dir vorstellen, was ich für einen Hunger habe??« Klara ist echt überrascht, sieht aber nach kurzem Nachdenken ein, dass es wohl keine Alternative gibt. Die Gefahr einer Entdeckung am Tage wäre einfach zu groß. Das Beispiel von Wayne hat gezeigt, dass sich ihre Gesichter – und die damit verbundenen bedrohlichen Geschichten – vielen Fernsehzuschauern eingeprägt haben. Wer aber ist in diesem Lande kein Fernsehzuschauer? Wie sagte doch James früher häufig? ›Nichts wird zu Allem, wenn es im Fernsehen geschieht – Alles wird zu Nichts, wenn das Fernsehen es ignoriert‹.

    »Wie geht es unserem Eier-Fatzke? Der ist wohl der Einzige hier, der keinen Hunger hat. Wie praktisch eigentlich, innerhalb eines riesigen Verpflegungspaketes aufzuwachsen!« James streichelt über das Ei, welches aus der offenen Styroporbox herauslugt. Es fühlt sich angenehm warm an. Klara steckt zwei neue Wärmflaschen dazu. Was für ein Segen, dass die Batterien des Schiffes nicht für nur eine effektive Heizung der Kajüte, sondern auch für die schnelle Erwärmung des Warmwasserboilers sorgen! In der klammen Kälte des Seewindes wäre es sonst nicht auszuhalten.

    »Wieso ist die Natur überhaupt von der Vermehrung durch Eierlegen abgekommen?«, fragt sich James. »Ist doch viel bequemer und effektiver – für beide Seiten! Besonders die Reptilien haben eigentlich schon die ideale Lösung gefunden: Eier in eine Grube legen und vergessen. Der Nachwuchs schlüpft dann irgendwann von alleine. Die Mutter hat sich meistens schon längst aus dem Staube gemacht. Der Vater leistete seinen Beitrag ohnehin nur durch einen kurzen Erguss und dürfte die Angelegenheit fünf Sekunden später wieder vergessen haben. Die Kinder sind gleich nach dem Schlüpfen fix und fertig ausgestattet, sie können und wissen alles, was sie brauchen – sind halt nur noch etwas kleiner als ihre Eltern! Welcher Idiot ist denn auf die Idee gekommen, dieses perfekte System abzuschaffen und durch die Geburt von Embryos zu ersetzen, die 18 Jahre brauchen, um zu Menschen zu werden und ihren Eltern 25-30 Jahre auf die Nerven gehen und zusätzlich auch noch alimentiert werden wollen? Habe ich nicht irgendwo gelesen, dass Krokodile und andere Echsen sich seit der Zeit der Dinosaurier überhaupt nicht verändert haben? Ihr System der Fertiggeburten muss dann doch wohl eine Perfektion erreicht haben, die nicht mehr zu übertreffen ist! Wäre es anders, hätte die natürliche Zuchtwahl doch schon längst für Veränderungen gesorgt!« James glaubt erst jetzt richtig zu erkennen, was für einen katastrophalen Rückschritt die Evolution mit der Erfindung der Lebendgeburten und der langsamen Aufzucht bei Säugetieren – und ganz besonders beim Menschen – gemacht hat.

    Seine Frau holt ihn wieder in die praktischen Erfordernisse des Lebens zurück: »Vielleicht solltest du diese Fragen bei passender Gelegenheit einmal mit Gott oder mit Darwin diskutieren. Wir müssen uns jetzt aber darum kümmern, wieder in Richtung Land zu kommen. Ich weiß wirklich nicht, ob ich den Hunger noch bis zum Abend aushalten kann. Ein schönes Frühstück, heiße und knusprige Brötchen und ein weichgekochtes Ei … Ich habe schon überall gesucht, aber hier auf dem Boot ist keine einzige Konserve. Gott sei Dank, dass wir genug Wasser und Diesel haben.«

    James hat die Botschaft verstanden und trollt sich an Deck, um den Anker zu lichten. Als einigermaßen erfahrenem Segler ist es ihm ein Leichtes, anhand des Sonnenstandes die Himmelsrichtung zu bestimmen und festzustellen, in welcher Richtung die Küste liegt. Der schwere Dieselmotor startet ohne Probleme. Langsam tuckernd setzt sich das Schiff in Richtung der Küste in Bewegung.

    Nach einer Viertelstunde fängt der Motor jedoch plötzlich an zu stottern, setzt schließlich ganz aus und lässt sich auch durch wiederholte Versuche nicht wieder starten. Ohne Antrieb schaukelt das Boot auf den Wellen dahin. Wie gut, dass James eine ganze Packung seiner Tabletten gegen Seekrankheit eingesteckt hat. Dieser Ausflug scheint erheblich länger zu dauern, als es die Agra-moffs für möglich gehalten hatten.

    »Warum hast du den Motor wieder abgestellt, ich habe mich schon so auf ein Essen gefreut …«, fragt Klara, die das Ei mit neuen Wärmflaschen ausgestattet und wieder in der Box verstaut hat. Dieser Container ist mit Bindfäden und Klebeband an einem der Bettpfeiler befestigt, damit er beim Schlingern des Bootes nicht in der Kajüte umherrutschen kann.

    »Der Motor ist einfach ausgegangen, aber laut Anzeige haben wir immer noch einen vollen Tank. Ich werde mir mal die Maschine ansehen. Vielleicht ist irgendein Teil der Elektrik durch Kondenswasser nass geworden.« James steigt wieder die Treppen hinunter und öffnet eine Luke, die unter das Heck des Bootes führt. Hier sind der Motor und ein großer Teil der Technik des Schiffes eingebaut. Nachdem er alle Kontakte überprüft und an den Verbindungen der Benzinleitung zum Motor gerüttelt hat, wiederholt er – allerdings erfolglos – die Startversuche. Langsam steigt in James eine gewisse Wut auf Maschinen auf, die ihren Dienst ohne Angabe von triftigen Gründen verweigern – so als ob sie ihn verhöhnen wollten. Hat er denn nicht schon genug Schwierigkeiten?

    »Verdammte Scheiße, wieso geht denn dieser blöde Motor einfach aus!!« James haut in seiner Wut mit der Faust auf das Armaturenbrett, in dem sich auch die Tankanzeige befindet. Sofort fällt der Zeiger von ›voll‹ auf ›leer‹ zurück. Hatte er sich nur verklemmt? Waren auch die Armaturen überholungsbedürftig und hätten vor dem Sommer ausgebaut und gewartet werden sollen? James hatte sich in der Sicherheit eines vollen Tanks so wohl gefühlt, dass er jetzt erbleicht. Wie lange würden die Batterien noch aushalten, wenn sie nicht immer wieder durch die Lichtmaschine aufgeladen würden, die natürlich vom Motor angetrieben wird?

    Mit hektischen Bewegungen stürzt James zurück in den Raum unter dem Heck des Schiffes, während Klara ihm mit besorgten Blicken folgt. Neben dem Tank steht ein langer Stab, der wohl schon öfters dazu benutzt wurde, die Tankfüllung auf die altmodische Art zu kontrollieren. Egal wie tief James diesen Stab in den Tank versenkt, immer wieder kommt seine Spitze trocken zurück.

    »Unser Tank ist leer, die Nadel der Anzeige war nur verklemmt, wir hatten vermutlich nur noch einen Rest Diesel im Tank – der ist jetzt verbraucht. Warum sollte das Schiff auch mit vollem Tank im Hafen liegen, wenn ohnehin keine Fahrten geplant sind! Egal ob uns Wayne oder eine verklemmte Nadel reingelegt haben, wir sitzen auf dem Trocknen, deine Mahlzeit wird wohl noch etwas warten müssen!!« James ist wieder zu seiner ernsten, professoralen Sprechweise zurückgekehrt, die er oft benutzt, um die Erregung seiner Gefühle zu verbergen.

    »Na, als alte Segler sollte uns das doch nicht aus der Bahn werfen. Wir sind vielleicht 1-2 Stunden von der Küste entfernt. Setzen wir also die Segel! Wind ist genug da, eigentlich wollte ich schon immer mal unsere eingemotteten Segelerinnerungen auffrischen!« Klara nimmt die Herausforderung durch den trockenen Tank eher sportlich. Einige Stunden werden die Batterien schon noch durchhalten, dann sind sie wieder an Land – oder wenigstens in der Nähe eines Hafens, in den sie beim Einbruch der Dämmerung, ohne Aufsehen zu erregen, einlaufen können.

    James hat inzwischen noch einmal ausprobiert, ob sich mit ihren Mobiltelefonen Kontakt mit dem Festland herstellen lässt, muss die Aussichtslosigkeit seiner Versuche jedoch bald einsehen. Ist man bereits zu weit von der Küste entfernt? Natürlich hat sich das Satellitentelefon vom Bad im Salzwasser nicht mehr erholt, so dass sie wirklich auf ihre Segelkünste angewiesen sind, um an Land zu kommen. Auf die Hilfe des ›verschollenen‹ Abenteuerreisenden Sergej können die beiden jedoch auch dann nicht rechnen. Elisabeth wollen sie auf keinen Fall wieder behelligen. Sie hat durch den Polizeiüberfall schon genug gelitten. Außerdem müsste man ihr dann wohl die Sache mit dem Ei erklären, wozu keiner der beiden besondere Lust hat. Ein wenig schämen sie sich, ihre alte Freundin nicht gleich ins Vertrauen gezogen zu haben.

    Als sich die beiden an der Takelage zu schaffen machen, stellen sie bald fest, dass auf diesem Boot wohl schon sehr lange keine Segel mehr gesetzt wurden. Grünliche Algen haben sich auf den Tauen an den Stellen eingenistet, die der Witterung ausgesetzt waren. Diejenigen Teile der Seile, die jedoch in den unteren Schichten einer Rolle zum Vorschein kommen, sind noch hell und rein – erscheinen wie neu. Ähnlich verhält es sich mit dem Hauptsegel, welches das Paar mit vereinten Kräften entfaltet und am Mast empor zieht. Grünliche Streifen an den Stellen, an denen die Witterung sich Zutritt verschaffen konnte, wechseln auch hier mit dem sanften Beige eines noch fast neuen Segeltuchs ab.

    Der Mast müsste dringend wieder lackiert werden. An einigen Stellen greift das Seewasser bereits das Holz an. Offenbar hat Wayne seine Spritztouren in den letzten Jahren nur mit Hilfe des Motors gemacht, wodurch die Vermutung von James und Klara bestätigt wird, dass das Segelvergnügen bei diesen Ausflügen nicht im Vordergrund stand.

    »Wir sollten es vielleicht beim Hauptsegel belassen, mir scheint der Wind wieder aufzufrischen. Das Vordersegel ist zu riskant. Ich bin schon einmal ins Wasser gefallen, das reicht für diese Tour.« James muss Klara nicht lange überzeugen, sie hat schon vom Setzen des Hauptsegels wunde Finger und stimmt erleichtert zu.

    Das Boot hat Fahrt aufgenommen und gleitet – elegant geneigt – kraftvoll durch die Wellen. Leider weht der Wind von der Küste weg, so dass James all die schon fast vergessenen Künste des Kreuzens aus seinem verrosteten Seglergedächtnis hervorholen muss, um das Schiff im richtigen Zickzackkurs in Richtung des Ufers zu führen. Klara agiert dabei als sein Matrose, eilt immer wieder aus der Steuerkajüte in den stärker werdenden Wind nach draußen, um einige Seile fester zu ziehen und andere Anweisungen ihres ›Kapitäns‹ zu befolgen.

    »Wollen wir uns ablösen? Jeder spielt eine Stunde lang den Kapitän und danach den Matrosen?«, schlägt James vor, als Klara wieder einmal vor der schäumenden Gischt in die Kajüte flüchten muss.

    »Wer von uns beiden ist gut gepolstert gegen die kalten, nassen Winde? Wer besteht dagegen nur aus Muskeln, Haut und Knochen? Ich weiß, dass ich etwas übergewichtig bin, aber deshalb friere ich weniger – deine Drahtigkeit ist jetzt ein Nachteil. Lass mich doch mal für ein paar Stunden die Vorteile der Pummeligkeit genießen ...« Klara fühlt sich wohl in ihrer Rolle als Matrose. Außerdem will sie auch nicht die Verantwortung für die richtige Segeltechnik übernehmen, da das Boot immer häufiger vom Wind in eine tiefe Schräglage gedrückt und von Böen durchgerüttelt wird.

    Leider hat sich auch der Nebel wieder verstärkt. Die Sonne ist kaum noch zu erkennen und James hofft inständig, dass sich das Wetter nicht weiter verschlechtert, denn sie müssen noch mindestens eine Stunde – vielleicht sogar zwei – aushalten, bis sie die Küste erreicht haben werden.

    »Kannst du das Segel etwas mehr straffen, der Wind wird immer stärker, wir müssen verhindern, dass es bei den Wendemanövern zu heftig hin und her schlägt. Ich trau den Seilen nicht so recht. Einige Teile scheinen mir schon ziemlich marode, vielleicht sogar vermodert zu sein.« Klara folgt den Worten ihres ›Kapitäns‹ mit beschwingter Bereitwilligkeit.

    Die Flucht und der Kampf gegen die Unbilden des Wetters haben die beiden immer stärker zusammengeschweißt. Es ist, als ob eine kämpferische Euphorie ihre Adern durchpulst: Sie werden es schaffen! Das Kind im Ei lebt!

    Klara denkt mit Bewunderung an die Selbstrettung von James nach seinem Absturz ins Wasser zurück. Flucht, Ei-Geburt und die Aussicht auf das Kind haben zu einer Neuentdeckung des Anderen geführt. James bewundert bei Klara ihre emotionale Weisheit und pragmatische Tatkraft. Beides ist in den langen Jahren ihrer Ehe wohl gelegentlich aufgeblitzt, aber selten erkannt und gewürdigt worden. Klara genießt an ihrem Mann eine neue Sensibilität, Achtung und Zärtlichkeit; erfreut sich aber auch an der erfrischten erotischen Anziehung durch den muskulösen Körper und seinen männlich gelassenen Mut.

    Beide lebten in ihren Welten wie in einer Kugel. Jetzt aber berühren sich die Kugeln und halten sich gegenseitig in Bewegung. Dabei ist nicht festzustellen, von welcher der beiden gerade das Drehmoment ausgeht. Es ist auch völlig unwichtig. Klara und James haben ein gemeinsames Ziel: Sie wollen das zauberische Geschenk des Meisters gesund in die Welt bringen und sich an ihrem ersten Kind erfreuen. Es wird zu einem guten, klugen Menschen heranwachsen – selbst wenn die Umstände seiner Geburt und Jugend vielleicht etwas ungewöhnlich sind!

    Während Klara an der Takelage hantiert und das Segel immer straffer zieht, erhöht sich die Zahl und Stärke der Windböen, so dass sie sich bald auf den Weg zurück in die Sicherheit der Steuerkabine machen will. Da taucht plötzlich aus dem Geheul des Windes ein hartes Krachen auf, schwillt an und wird von einem mächtigen Aufprall beendet, der das ganze Boot so erschüttert, als sei es durch den tödlichen Stoß eines Erbebens getroffen worden. Klara wird zu Boden gerissen und verschwindet unter dem Gewicht des Segels.

    Der Mast ist gebrochen! James springt aus der Kajüte aufs Deck, von schrecklichen Phantasiebildern angetrieben, in denen er Klara mit zerschmettertem Schädel unter dem Leichentuch des Segels findet. Mit wortlosem Entsetzen reißt er an den Teilen, die auf das Deck gefallen sind und verteidigt sich gegen die Kraft des Windes, die das Stück des Segels hin und her flattern lässt, welches noch am – in der Mitte zerbrochenen – Mast hängt. Schließlich sieht er das Profil von Klaras Körper unter dem groben Leinen, kann sich kaum überwinden, es anzuheben und damit der schrecklichen Gewissheit unentrinnbar gegenüberzutreten. Da bewegt sich das Segel von selbst: Klara befreit sich und zwinkert ihm vergnügt zu: »Eigentlich ganz schön hier – wie eine windgeschützte kleine Höhle. Ich sah den Mast kommen, konnte noch rechtzeitig ausweichen …«

    James hat keine Kraft mehr für eine passende Antwort. Sein Gesicht ist leichenblass und der Atem keucht vor tödlicher Erregung. Schnell hilft er seiner Frau auf die Beine. Beide schlängeln sich an dem hin- und herklatschenden Segeltuch vorbei und retten sich in die Steuerkajüte.

    »Wie konnte das passieren? Ich dachte, auf halbwegs modernen Segelbooten gibt es keine Mastbrüche mehr?« Klara ist genauso fassungslos wie ihr Ehemann, der sich noch immer nicht von der eben durchlebten Höllenqual blutiger Bilder lösen kann. Er hält Klara wortlos im Arm. »Ich dachte, das ist das Ende …«, lässt sich James leise vernehmen.

    »Was uns nicht umbringt, macht uns lachen …«, entgegnet seine Frau, eingehüllt durch die Wärme seiner sorgenden Gegenwart. Das war früher ein Zitat von James, dessen nüchternen Humor Klara gelegentlich gehasst hatte, besonders wenn sie eigentlich nach Wärme und Verständnis ihres Mannes suchte. Nun benutzt sie diese Worte selbst und erkennt dabei, wie viel Vertrautheit und Liebe in diese – scheinbar zynischen – Worte gelegt werden kann.

    Eng umschlungen starren beide aus der Steuerkajüte und erkennen, dass die Spitze des abgebrochenen Mastes auf die Reling am Bug des Schiffes gefallen ist und diese so deformiert hat, dass die tiefe Delle jetzt als stabile Halterung fungiert. An der Bruchstelle hat sich der Mast nicht ganz gelöst. Offenbar ist nicht der Mastbalken, sondern die Verbindung zwischen zwei Mastteilen gebrochen. Ein Teil der durch Halterungsbretter verbundenen Verschraubungen ist jedoch erhalten geblieben. Auf diese Weise ist das abgebrochene Oberteil des Mastes an beiden Enden fixiert. Dazwischen spannt sich ein Teil des Segels, das nun eine Art Blase bildet, in der sich der Wind verfängt.

    Regen schlägt an die Fenster der Kajüte. Es wird immer dunkler. Die Position der Sonne ist nicht mehr zu erkennen, da sich mit den Wolken auch der Nebel wieder verstärkt hat. Der Wind scheint weiter zuzunehmen und treibt das Schiff in eine unbekannte Richtung. James hat völlig die Orientierung verloren. Da sich der Wind in der Segeltasche verfängt, wird auch das Schiff in seine Richtung getrieben. Ohne Orientierungsmöglichkeit macht es auch keinen Sinn mehr, zu steuern. Selbst wenn man die Himmelsrichtungen erahnen könnte – mit abgebrochenem Mast und einem vom Wind ausgebeulten Segelfragment können ohnehin keine Manöver mehr durchgeführt werden. Es ist nicht mehr daran zu denken, gegen den Wind zu kreuzen. Dies hätte – bei intaktem Segel – das Boot vielleicht noch ans Ufer führen können, wenn man davon ausgeht, dass sich die Richtung des vom Lande her kommenden Windes nicht verändert hat. In dieser Situation den Anker auszuwerfen, ist zu riskant. Vermutlich würden die Brecher bald über dem verankerten Boot zusammenschlagen, es volllaufen lassen und zum Sinken bringen.

    Den ganzen Tag über ist das zerknickte Wrack nun schon in der stürmischen Suppe aus kaltem Regen und Nebel herumgetrieben. Trotz aller Versuche, Strom zu sparen, haben die Batterien kaum sechs Stunden gehalten, bevor auch sie sich verabschiedeten – wie vor ihnen der Dieselmotor, der ihre Kraft immer wieder regeneriert hatte. Jetzt sitzen die Agramoffs verloren in der Düsternis des stürmischen Ozeans, bedroht von der feuchten Kälte, von Wind und Wellen. Kein warmer Elektro-Heizkörper mehr, kein heißes Wasser für die Wärmflaschen. Das Brüten kann nun nicht mehr an die Styroporbox delegiert werden, es ist wieder eine Aufgabe der Eltern. Alle halbe Stunde wechseln sich Klara und James ab.

    Der Eine liegt unter Deck im Bett, schlingt seinen Körper um das Ei und versucht möglichst viel Wärme durch eine hohe Schicht von Decken und Kleidungsstücken im Brutnest zu erhalten. Ist es Zufall oder ein Ausdruck liebenden Instinktes, dass immer die gleichen Lieblingssachen von James und Klara die innere Schutzschicht bilden, mit der das Ei gegen die Kälte abgeschirmt werden soll? Die Feuchtigkeit tropft von den Scheiben; alles wird klamm. Der Andere steht in der Steuerkajüte, hält Ausschau nach einem rettenden Schiff und beobachtet die abgeknickte Mastruine.

    James hat im Maschinenraum eine Kiste mit einer Leuchtpistole gefunden, in der noch zwei Schuss Munition stecken. In Ermangelung eines Funkgerätes und eines funktionierenden Satellitentelefons sind diese beiden Schüsse – wenn die Leuchtpatronen noch nicht durch die salzige Feuchtigkeit der Seeluft korrodiert sein sollten – ihre einzige Hoffnung, sich bemerkbar zu machen.

    Würde die Küstenwache sie suchen? Könnten sie vielleicht zufällig mit einem Frachter auf dem stark befahrenen Seeweg an der Küste zusammentreffen? Wo aber befinden sie sich? Wie schnell treibt sie der Wind voran und in welche Richtung? Es bleibt nichts übrig, als in die windige Nebligkeit zu starren und den zerbrochenen Mast zu überwachen. Die größte Sorge von James besteht nämlich darin, dass der Wind den abgebrochenen Teil des Mastes vom Stumpf abreißen und über Bord treiben könnte. Durch die vielen Seile, mit denen Mast und Segel noch mit dem Schiff verbunden sind, besteht die Gefahr, dass das Boot in einem solchen Falle erhebliche Schlagseite bekommen würde und schließlich kentern könnte. Der jeweils ›Wachhabende‹ hatte deshalb auch die Aufgabe, diese Seile mit extra geschärften Messern sofort zu zerschneiden, wenn der abgebrochene Teil des Mastes wirklich ins Meer stürzen würde. Vielleicht fiel er aber erst auf das Deck? Welche Zerstörungen er auf diese Weise anrichten könnte – davon wollten sich weder James noch Klara eine genauere Vorstellung machen!

    Der größte Teil des Tages verging auf diese Weise. Im Abstand von ein bis zwei Stunden lösten sich James und Klara ab. Während der Eine sich in seitlicher Hockstellung in das noch warme Bett kuschelte, das Ei zwischen Bauch und Oberschenkeln an der Haut erwärmte und durch ein Nest von Kleidern und Bettdecken nach außen abschirmte, bohrte der Andere seine müden Augen in die undurchdringliche Suppe des stürmenden Nebels. Glücklicherweise war genug Wasser an Bord; jedoch machte sich der Hunger immer stärker bemerkbar, endete doch jetzt schon der zweite Tag, den sie ohne Nahrung verbringen mussten.

    Der Wind ist stark und ziemlich gleichmäßig, so dass die Segeltuchblase stramm ausgebeult bleibt, die sich im Dreieck zwischen dem gefallenen und dem noch stehenden Teil des Mastes herausgebildet hat. Auf diese Weise wird das Schiff schnell vorangetrieben und im rechten Winkel zu den Wellen ausgerichtet, die es von hinten vor sich her zu treiben scheinen. Hätte man das Segel abschneiden sollen? James und Klara haben darüber gesprochen und sind zum Schluss gekommen, dass ihr Boot auch ohne dieses Restsegel vom Wind vor sich her getrieben würde, allerdings sich dann wohl parallel zu den Wellen ausrichten würde und viel leichter kentern könnte.

    Langsam senkt sich der Abend herab. Auch ohne die Sonne ist klar, dass sie von der Küste in Richtung der offenen See getrieben werden. Wäre es anders, hätten sie schon vor Stunden das Ufer erreichen oder auf einer Sandbank auflaufen müssen.

    Jedes Mal, wenn sich James und Klara auf der Treppe begegnen, halten sie kurz inne, umarmen sich wortlos und lassen ihre Stirnen aneinander ruhen. Sie sucht in der Berührung seiner drahtigen Muskeln Halt und er genießt ein sanftes Streicheln über ihre füllig-weichen Formen. Es ist nichts weiter zu sagen – man kann nur hoffen und warten. Den ganzen Tag über hat keiner von ihnen ein Zeichen eines Küstenbootes oder eines Frachters ausmachen können. Segler sind bei diesem Wetter ohnehin nicht auf dem Meer. Es ist offensichtlich, dass sie schon längst von der stark frequentierten Küstenroute hinweg geweht wurden und sich die Wahrscheinlichkeit auf ein rettendes Schiff zu treffen, mit jeder Stunde verringert, selbst wenn der Nebel aufklaren und der Wind sich legen sollte.

    Es mag wohl gegen zehn Uhr abends sein, als James wieder einmal seine ›Wache‹ in der Steuerkajüte antritt. Die zunehmende Erschöpfung, der Hunger – aber auch die angenehme Wärme des ›Nestes‹ erleichtern es dem jeweils ›diensthabenden Brüter‹, einzuschlafen. So ist auch er erst kurz vor der Ablösung durch Klara aufgewacht. Sie kommt ihm auf der Treppe mit nassem Haar und Gischt auf dem Gesicht entgegen. Als sich ihre Stirnen in der stummen Zeremonie vereinigen, die zum wichtigsten Ausdruck ihrer wärmenden Vertrautheit geworden ist, sagt sie nur kurz: »Ich musste einfach mal raus, den Wind spüren …« James versteht das nur zu gut, als er in die stickig-kalte Feuchtigkeit eintritt, die sich in der Steuerkajüte ausgebreitet hat.

    Der Wind hat etwas nachgelassen, die neblige Nacht ist tiefschwarz. Ist es nicht sinnlos, jetzt noch nach einem Schiff Ausschau zu halten? Würde man seine Lichter sehen, wäre es vermutlich schon zu spät, einen Zusammenstoß zu vermeiden! Außerdem, wie sollte man das bewerkstelligen? Also ist die nächtliche Wache eigentlich nur ein Ritual, mit dem beide instinktiv versuchen, von der hilflosen Aussichtslosigkeit ihrer Situation abzulenken. Sie spüren, dass es unerträglich wäre, jetzt unten in der Kajüte in angstvoller Verzweiflung beieinanderzuliegen, dem möglichen Tod durch Ertrinken auf stürmischer See oder durch Hunger und Durst entgegen zu zittern. Wie sollte einer den anderen trösten und wärmen können, wenn er doch selbst so von Angst zerrissen ist, dass es alle Kraft kostet, deren Symptome zu unterdrücken und mit dem liebevollen Brüten des Eies die immer unwahrscheinlicher werdende Zukunft dieser kleinen Familie zu beschwören.

    James öffnet die Tür der Steuermannskajüte, schlüpft schnell hinaus, um so wenig wie möglich vom kalten Nieselregen eindringen zu lassen. Mit beiden Händen festgekrallt, steht er zwischen der Reling und den Seilen des umgeknickten Mastes. Vor ihm bläht sich ein Teil des Segels zu der drallen Blase, die ihrem Boot nun schon seit Stunden voraneilt und es in eine ungewisse Zukunft zieht. So steht er eine halbe Stunde im Wind und wird von den Wellen, die sich an der Bordwand brechen, bis auf die Haut durchnässt. Seewasser perlt auf den schütteren Resten seiner grauen Haare herab und hat sein verkrampftes Gesicht und die zarte, randlose Brille mit zahllosen salzigen Tupfern übersät. Da die Energie der Batterien schon vor langer Zeit verebbte, ist auch das Licht mit dem Untergang der Sonne verschwunden. In der endlosen Schwärze der Nacht kann man die lustig tanzenden Tröpfchen des tödlich kalten Meerwassers nur spüren, nicht aber sehen. Dennoch kann James die lauernden Krakenfinger des Meeres erahnen, welche jeden Moment mit einer großen Böe das merkwürdige Konstrukt aus gebrochenem Mast und Segel vom Deck fegen und das Boot zum Kentern bringen können. Aus dem Wachen für die Rettung ist unmerklich das Warten auf den Tod geworden.

    Als der Körper von James in kalter Nässe fast erstarrt ist, erwacht er aus seiner Trance. Ihm kommt als Erstes der Gedanke, ob er nicht einfach loslassen – sich ohne weitere Gegenwehr der Übermacht der kalten Fluten hingeben sollte. Die Kälte des Wassers würde seinen ohnehin fast erstarrten Körper sicher sofort in die wärmende Sicherheit der Ohnmacht entlassen oder wenigstens in die von Licht durchstrahlten Halluzinationen, von denen so viele Menschen erzählen, die bereits in die Gefilde des Todes eingetaucht waren und in letzter Minute vor seinen Lockrufen flüchten konnten. Viele von ihnen berichteten, wie sich ihre Seele vom Körper trennte, sie ihren versinkenden Leib aus luftiger Höhe beobachten konnten. Sie sahen ein Licht am Ende eines langen Tunnels. Oft rasten Szenen ihres vergangenen Lebens in unvorstellbarer Schnelligkeit vor ihrem geistigen Auge vorbei. Warum nicht einfach der sicheren Todesqual der nächsten Tage entrinnen, warum nicht jetzt loslassen? Eine kleine Lockerung der klamm-harten Finger würde schon reichen! Musste es nicht wie ein Unfall aussehen?

    Die Leichtigkeit, mit der die Flucht in den Tod ihn verführen kann, jagt James plötzlich furchtbaren Schrecken ein. Blitzartig strafft sich sein durchnässter Körper und er hangelt sich an den Seilen und der Reling zurück in die Steuerkajüte, schlägt die Tür hinter sich zu und verriegelt sie, als könnte man so das Eindringen der lockenden Todesgeister verhindern. In der Ecke liegt noch ein Haufen mit Pullovern, Hosen und einem Anorak, den James schon vor einiger Zeit vorsorglich mit nach oben gebracht hatte. Während er die durchnässte Kleidung gegen halbwegs trockene vertauscht, schießt ein heißes Gefühl der Scham in sein Gesicht. Er lässt sich in eine Ecke der Kajüte fallen, umwickelt sich dort hockend mit einer Decke und gibt sich den Nachbeben der Erschütterung hin, die seine Nachgiebigkeit gegenüber den Lockrufen des Todes in ihm ausgelöst hat.

    »Wie konnte ich mich nur feige davon stehlen wollen? Wie meine Frau und unser Zauberkind in ihrem Todeskampf allein lassen? Wieso hat mich der Gedanke bestechen können, dass sie annehmen würde, ich wäre ein zweites Mal über Bord gefallen? Wie konnte ich mich im Angesicht des Todes noch am Erfolg einer Lüge freuen; wie meine Flucht in die lichten Gefilde des Nichts als einen tragischen Unglücksfall erscheinen lassen?« Diese und andere Gedanken schamvoller Selbstanklage rasen durch James und erhitzen seine Gefühle, während sein Körper durch das krampfende Zittern aller Muskeln versucht, etwas von der weggewehten Wärme zurückzugewinnen.

    »Habe ich nicht immer wieder versucht, den Rat manch alter Philosophen zu befolgen und jeden Tag so zu leben, als wäre es mein letzter? Wie oft ist dieser Wunsch als luftige Illusion durch die Hektik der Sachzwänge zerschlagen worden? Vielleicht waren einige der wartend und meditierend verbrachten Tage im Kloster im Amthum es wert, als letzte Tage gelebt worden zu sein? Bleiben uns jetzt nur noch ein paar Stunden? Sollten sie nicht als die letzten unseres Lebens geehrt und in Würde und Liebe verbracht werden? Beinahe hätte ich die Chance verpasst, mein Leben mit dankbarer Kontemplation abzuschließen.« James’ Gedanken verstummen.

    »Ja, in diesen wenigen Stunden sind wir unaufhaltsam am Rande der Pyramide des Lebens herabgerutscht, jetzt sollten wir dankbar nach oben blicken, versuchen zu verstehen und in Würde Abschied zu nehmen«, lässt sich plötzlich eine warme weibliche Aura vernehmen. Es ist Klara!

    James reist die Augen auf und versucht sie in der Dunkelheit der Steuerkajüte zu entdecken. Ist sie nicht vorhin noch unter Deck gewesen, hatte sich an das Ei im warmen Nest gekuschelt und war vermutlich bald eingeschlafen? James ruft ihren Namen und tastet nach ihrem Körper in der dunklen feuchten Kälte. Er findet den nassen Haufen seiner abgelegten Kleider – ansonsten ist die Kajüte leer.

    »Du brauchst nicht nach meinem Körper zu suchen, wenn mein Geist bei dir ist«, lässt sich die Präsenz von Klara wieder vernehmen. Sind das Halluzinationen seines überhitzten Geistes, kündigt sich der Tod durch Unterkühlung nicht manchmal so an? Leidet er an einem schizophrenen Schub, ausgelöst durch den Stress der Todesahnung?

    James steht auf und geht in der Kajüte herum, um sicher zu sein, dass sein Körper nicht schon in den Umschlingungen der Ohnmacht gefangen ist. Alles scheint normal, selbst seine unterkühlten Glieder haben ihre Kraft wieder gewonnen. Das tägliche Lauftraining hat ihm kräftiges Muskelgewebe beschert, dessen Zittern so viel Wärme erzeugt, dass ein Kreislaufkollaps nicht zu befürchten ist.

    Eben will er sich nach unten zu Klara flüchten. James sehnt sich nach der Wärme ihres wartenden Körpers. Da dringt ihre Gegenwart – seltsam entfernt, aber doch deutlich zu wahrzunehmen – wieder in seinen Kopf ein, ohne vorher das Ohr berührt zu haben: »Es gibt Dinge, die kann man sich nicht leicht von Angesicht zu Angesicht sagen, besonders dann nicht, wenn man bereits so lange zusammen – oder nebeneinander – lebt, wie wir das getan haben. Lass uns die Freiheit unserer Gedanken in dieser Stunde erhalten. So brauchen wir keine Worte. Lassen wir den anderen einfach in unser Denken und Fühlen ein! Auf diese Weise sind wir ganz bei uns und haben nichts offenbart, dessen wir uns vor dem anderen schämen würden. Es ist ja nur gedacht und gefühlt – ob der andere mithört und mitfühlt, bleibt ein Geheimnis.«

    James setzt sich wieder in eine Ecke der Steuerkajüte, wickelt die Decke um seinen Körper und schließt die Augen. Er hält die Erscheinung sprechender Gegenwart, die ihm eben begegnet ist, für eine Halluzination, eine Frucht von Kälte, Hunger und Verzweiflung.

    Statt den Nachklang dieser Vision auf sich wirken zu lassen, sieht er die Pyramide seines Lebens und Strebens vor sich stehen. Neben seinem, von ihr herabgefallenen Körper schäumt das Wasser, welches ihn bald verschlingen wird. Mit inniger Sehnsucht nach dem Unerreichbaren schaut er eine Stufe nach der anderen hinauf: Der Todesbereite lässt die Bilder seiner Kindheit und Jugend im rasenden Zeitraffer vorbeiziehen, der Menschen nur dann zur Verfügung steht, wenn sie vor dem alles verschlingenden Abgrund des Todes stehen.

    Weiter und höher gleitet sein Blick auf die oberen Ebenen der Pyramide, die noch vor wenigen Tagen die selbstverständlichen Fundamente seiner Existenz waren: Eine reiche Karriere als einflussreicher politischer Journalist hatte er hinter sich. Seine scharfsinnigen Kommentare und Analysen: Hatten sie nicht so oft den Nebel von politischen Zusammenhängen weg geblasen? Wurde durch ihn nicht zuweilen auch der Tenor der öffentlichen Meinung bestimmt? Hat er nicht Politiker vor sich hergetrieben? War sein schönes Haus in den Wäldern und ein ausreichendes finanzielles Polster nicht die Verwirklichung der äußeren Bedingungen, auf die einer wie er Anspruch hatte?

    Jetzt ist er jedoch plötzlich ein hilfloses Lebewesen, dem Besitz und Ansehen und die Hoffnung auf zukünftige Wirkung entglitten sind. Er sitzt in der feuchten Kabine eines Bootes mit gebrochenem Mast und treibt zusammen mit seiner treuen Gefährtin – und der ungeborenen Hoffnung in ihrem Ei – einem vermutlich qualvollen Tod entgegen.

    »Bist du denn wirklich sicher, dass das Alles die Mühe wert war?«, drängt sich wieder die Aura von Klara mit sanfter Gelassenheit in seinem Kopf. Offenbar kann sie seine Gedanken hören, versteht seine Gefühle. Wie ist das möglich? Erschöpfungs-Halluzinationen oder Schizophrenie sind wohl auszuschließen?

    Ist etwas dran an den Berichten über Gedankenübertragung? Hat Klara in Amthum etwas darüber gelernt? Ist dort eine Fähigkeit in ihr erweckt worden, welche die Mönche schon seit Jahrhunderten in ihren ›Gesprächen ohne Worte‹ verwenden? James ist sich ziemlich sicher, dass die Stimmen, die während der Audienz beim König von Amthum in seinem Kopf auftauchten, in der gleichen Weise selbstverständlich und mühelos in ihn eindrangen, wie es jetzt die Gedanken seiner Frau tun. Offenbar werden auch seine Gefühle in ähnlicher Weise in ihr Gehirn gespiegelt. Hat er also die gleichen Fähigkeiten, sie jedoch nie genutzt, weil er deren Existenz für unmöglich hielt?

    »Ist es dir denn nicht leicht gefallen, dich von dem rasenden Karussell des journalistischen Zirkus zu verabschieden? Warum verschließt du jetzt die Augen davor, dass die oberen Etagen dieser Karriere-Pyramide aus milchigem Glas sind? Dahinter war und ist doch nur der Nebel der Illusionen über Demokratie und die Macht der veröffentlichten Meinung!« Klaras Gedanken schwirren auf einer Welle leicht amüsierter Verwunderung in seinen Kopf. Sie scheint zu belustigen, mit welchem Respekt er auf die Errungenschaften seiner Karriere als einer der führenden politischen Journalisten des Landes, vielleicht sogar der Welt zurückblickt.

    »Hast du dich und den ganzen Politikbetrieb wirklich ernst genommen?«, erscheint die fragende Gegenwart Klaras wieder in seinen Gedanken.

    »Sicher, in gewisser Weise …, viele Entscheidungen wären wohl anders ausgefallen, wenn wir Journalisten nicht die Hintergründe aufgedeckt, politische Bewegungen geschaffen oder unterstützt hätten. Wahlen wären anders verlaufen, hätten andere Personen an die Macht gebracht.« James denkt sich seine Rechtfertigungsgründe zusammen.

    Es ist doch das Streben eines rastlosen Lebens gewesen, welches ihn nach der Stellung des ›Gestalters der öffentlichen Meinung‹ greifen ließ. Hatten nicht alle bedeutenden Journalisten den Anspruch, die Segel des Schiffes der Macht zu bedienen – sie nach dem Wind in ihrem Sinne auszurichten? Wollten sie nicht insgeheim auf diese Weise die Wirkungsmöglichkeiten der Männer am Steuerruder – der Politiker – beschränken, vielleicht sogar neutralisieren? War er nicht des Öfteren als begabter Segelsetzer erfolgreich gewesen?

    »Schau doch hinter die Schwingungen der Sinuskurve von Wahlen, die in den letzten Jahrzehnten in den großen Demokratien – und auch in unserem Lande – die politischen Gemüter in Atem gehalten haben! Mehr als ein Jahr dauert die Medienschlacht, die sich auf eine einzige (aber völlig unwichtige) Frage konzentriert: Nämlich, gewinnt dieser oder jener die Wahl, ist diese oder jene Partei in einer Koalition vertreten? Was habt ihr zu diesem Thema in tausendfachen Kommentaren und Analysen geschrieben? Alles unwichtiger Müll!«

    »Die Personalisierung der ›Regierung‹ soll doch nur davon ablenken, dass in Wahrheit die wirtschaftlichen und technologischen Sachzwänge das Leben unserer Gesellschaft und der Welt regieren. Sie – und nicht die Politiker – bestimmen den Alltag jedes Einzelnen und die Beziehungen der Staaten untereinander! Wie soll denn eine Partei oder ein Präsident etwas Entscheidendes bewirken können, wenn 95-98 % aller Ausgaben des Staates bereits in festen Budgets verplant sind, ja verplant werden müssen? Wie können Politiker im Dickicht von Zehntausenden Gesetzen und angesichts endloser Klagen von Interessengruppen vor einer Hierarchie von Gerichten noch etwas Wesentliches gestalten? Zudem ist die Politik in einem dichten Netz von internationalen Verträgen, Vereinbarungen, Sachzwängen und Verpflichtungen gefangen.«

    »Die modernen Gesellschaften und die Weltwirtschaft – sie entwickeln und verwalten sich doch von ganz alleine. Vor diesem Hintergrund ist es völlig egal, wer die nächste Wahl gewinnt! In den Industrienationen wählen die Apparatschiks der Parteien ohnehin immer diejenigen in Führungspositionen, die sich im unteren Drittel der Skala der Mittelmäßigkeit bewegen, oft sogar am Rande der Debilität stehen!«

    »Diese Art von ›Demokratie‹ ist eine ohnmächtige Illusion. Wenn wirklich einmal etwas zu entscheiden ist, regiert ein kleiner Klüngel. Der Rest ist ein mehr oder weniger gleichförmiges Schmierentheater, das durch die Talkshows des Fernsehens ergänzt und kolportiert wird. Die politische Kaste ist entweder zu eitel oder zu dumm, das zuzugeben. Die Intellektuellen unter den Journalisten wollen es auch nicht wahr haben, denn ansonsten würde die lächerliche Überflüssigkeit ihrer ›Hintergrundanalysen‹ sofort offensichtlich werden!!«

    Temperamentvoll und doch mit heiterer Leichtigkeit fließen die Gedanken und Gefühle von Klara in den Geist

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