Das eigensinnige Kind – Teil 2: Vom Umgang mit einem sehr deutschen Gefühl
Von Wolfram Ette und Karin Nungeßer
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Rezensionen für Das eigensinnige Kind – Teil 2
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Buchvorschau
Das eigensinnige Kind – Teil 2 - Wolfram Ette
Vorbemerkung
»Das eigensinnige Kind« ist das kürzeste Märchen in der Sammlung der Brüder Grimm. Während der Arbeit am ersten Band stellte sich mir manchmal die Frage, ob man diese wenigen Zeilen durch ein ganzes Buch überlasten würde. Es hat aber seit seiner Veröffentlichung eine Resonanz gefunden, die das Gegenteil beweist. Im Frühjahr 2020 schickte ich den Text an Karin Nungeßer. Ihre Antwort machte mir klar, wie viel ungesagt und ungedeutet geblieben war, wie viele Implikationen noch zu entwickeln, wie viele Extrapolationen auszuführen waren. Das Buch über das eigensinnige Kind war zu kurz, es konnte nichts weiter als ein Anfang, ein erster Band sein.
Wolfram Ette [we]
Zwei sind mehr als eine*r. Aber es waren mehr als zwei beteiligt an diesem Unternehmen, das am Ende ein Effekt vieler sich kreuzender Stimmen ist. Wir möchten den Teilnehmer*innen zweier Seminare in Leipzig und Mülheim für die intensiven Diskussionen über Texte und Sache des eigensinnigen Kindes danken. Für ihre Zugewandtheit und ihre kluge Kritik zu meinen Lebensläufe-Texten und zum Haarer-Teil gilt mein herzlichster Dank Karin Lubetzki, ebenso Sabina Jentzsch, Oliver Oll und Corinna Hoffmann für ihre vielfältige Unterstützung beim Dranbleiben. Christiane Frohmann hat noch kurz vor Toresschluss wichtige Erkenntnisse beigesteuert. Ohne Andreas Probosch, seine Weisheit und Liebe, gäbe es dieses Buch nicht.
Karin Nungeßer [kn]
Kapitel 1
Das Grimm’sche Märchen
Der Zirkel
Es war einmal ein Kind eigensinnig, und that nicht, was seine Mutter haben wollte. Das ist alles, was wir über den Eigensinn aus diesem Märchen erfahren. Er ist ein Nichttun, ein Trotz. Egal was die Mutter haben will, das Kind will es nicht. Sein Eigensinn ist die nackte, beziehungslose Negation.
Oder? Erfahren wir aus dem Märchen vielleicht doch etwas über den Eigensinn? Ich meine ja, und zwar ebendann, wenn man der Maxime folgt, dass der Tod in diesem Märchen eine Metapher ist, dass hier nicht wirklich gestorben wird, sondern die Ruhe unter der Erde das Gesetz eines Lebens beschreibt, das selbst nicht lebt. Wenn wir uns an diese Maxime halten, sind wir berechtigt, die Erzählung zu entchronologisieren. Das heißt, wir müssen uns nicht an die Reihenfolge, in der erzählt wird, halten. Wir können Positionen vertauschen oder überhaupt alles als gleichzeitig betrachten. Und wir können das Resultat – das Begrabensein unter der Erde – nicht nur als Resultat, sondern auch als seine eigene Voraussetzung begreifen. Wir umfassen die Erzählung, biegen sie zu einem Kreis, lassen Anfang und Ende ineinander übergehen. Und daraus ergibt sich: Der Eigensinn des Kindes ist sein schierer Lebenswille. Es will nicht begraben sein, es will nicht, dass über sein Leben Erde hingedeckt werde.
Umgekehrt ist das, was seine Mutter haben will, sein Tod. Von Anfang an. Es gibt keine Eskalationsdynamik, derzufolge der elterliche Todeswunsch erst durch den abstrakten Starrsinn des Kindes, das alles verneint, wachgerufen wird. Es ist genau andersherum. Der Todeswunsch liegt dem Verhältnis von Anfang an zugrunde; der Trotz, von dem am Anfang die Rede ist, ist schon der Arm, der sich aus dem Grab erhebt: kein Nichtwollen, sondern die Geste, die sich dem Licht, der Mutter, der »Welt« entgegenstreckt. [we]
Die Hand
Im ersten Band der Texte zum eigensinnigen Kind deutete ich die aus dem Grab aufsteigende, sich herauswühlende, hochschnellende Hand als Geste des Protestes, als – ohnmächtigen, rasenden, verzweifelten – Versuch der Selbstbehauptung und der Gegenwehr, bis zum hochgereckten, in einer Waffe aushärtenden Arm eines innerlich abgestorbenen Faschisten.¹ Das Nächstliegende fiel mir nicht auf. Es ist die Hand des Kindes, das in der Wiege liegt, im Bettchen oder auf dem Boden. Es streckt seinen Arm aus auf der Suche nach Nähe, nach Mutter-Vater. Es will heranholen, wohin das Ärmchen zeigt, und es will dorthin, wohin das Ärmchen zeigt. Es ist die Geste, durch die das Kind Beziehung herstellt zu denen, die es umgeben. – Das wird zum störrischen Eigensinn verzerrt. Weil dem Wunsch nach Beziehung, der in einer bestehenden Beziehung artikuliert wird, vonseiten der Mutter nicht entsprochen werden kann, erscheint das Kind als eines, das nicht tat, was seine Mutter wollte. Das muss dem Kind ausgetrieben, das muss niedergehalten, das muss am Ende niedergeknüppelt werden. [we]
Wer töten kann
Da ließ der liebe Gott es krank werden – so heißt es in der ersten Ausgabe des Märchens von 1815. In den späteren Auflagen lesen wir: »Darum«. Koinzidenz oder Kausalität? Die Überarbeitung stellt fest: Das eigensinnige Kind wird für seinen Eigensinn bestraft. Der liebe Gott wäre also ein Agent des mütterlichen Wunsches, dass das Kind nicht so eigensinnig sein solle, dass es im Grunde nicht sein solle – ein Wunsch, den sie sich nicht bewusst macht und der deswegen delegiert wird? Braucht es Gottvater eigentlich nicht? Ist die Erkrankung des eigensinnigen Kindes das logische Resultat der Bedrohung, die allein von seiner Mutter ausgeht? Markiert sie den Punkt, an dem die Gewalt gegen das Kind in die Gewalt des Kindes gegen sich selbst umschlägt?
Wie immer man das »Da« oder das »Darum« versteht und die Krankheit motiviert, klar wird am Ende des Märchens: wer töten kann. Da mag Gott in seinem Himmel und in den Herzen der Menschen wohnen; er bringt es nur bis zu Krankenlager und Totenbettchen. Nur die Mutter hat Macht über Leben und Tod. Nur sie, die Leben gibt, kann es nehmen. [we]
Das Kippbild
Über Jahre hinweg war die Konstellation von Mutter und Kind in diesem Märchen für mich ganz klar. Das Kind ist unschuldig, fürchterlich wird ihm mitgespielt. Die Mutter dagegen ist böse. Aus welchen Gründen auch immer. Sie gönnt dem Kind kein eigenes Leben. Sein eigenes Leben geht auf in dem, was sie haben will.
Man darf diese Perspektive nicht aus dem Blick verlieren. Eine Mutter, die Täterin ist, oder zu einer wird, ist die Substanz dieses Märchens. Trotzdem zeichnet sich, schwach und deutlich, in einer verblassenden Asymmetrie eine zweite Lesart ab, die auszuführen wichtig erscheint, um ein vollständigeres Bild der Erfahrung zu gewinnen, die sich in diesem Text konzentriert.²
Also: Ist die Mutter auch nur ein »Opfer der Verhältnisse«? Ein Indiz deutet innerhalb dieses Märchentextes darauf hin: der Umstand nämlich, dass sie zwischen dem Anfang und dem Schluss des Prozesses aus dem Text verschwindet. Dazwischen klafft ein Leerraum. Wir erfahren nichts darüber, wie sie auf die Krankheit, mit der der liebe Gott das Kind straft, reagiert. Ja, sie scheint nicht einmal bei der Bestattung und den wiederholten Versuchen, das Kind in die Erde zu betten, dabei gewesen zu sein. Erst dann, als all das fehlschlägt und sich herausstellt, dass die anderen Dorfbewohner, die Gemeinde – all diejenigen, mit denen sich das anonyme »sie« füllen lässt – es nicht schaffen, das Kind unter die Erde zu bringen, musste die Mutter selbst zum Grabe gehen und mit der Ruthe auf das Ärmchen schlagen.
Man kann das so deuten, dass es die pure Kälte ausdrückt, von der das Verhältnis zwischen Mutter und Kind beherrscht ist. Die Mutter zieht sich von Beginn an zurück und lässt die anderen für sich handeln: den lieben Gott als quasi-väterliche Autorität, dann die »Stützen der Gesellschaft«. Sie alle agieren in ihrem Auftrag. In der Gesellschaft und in den Werten, auf die sie sich gründet, wird der Wille der Mutter, das eigensinnige Kind los zu sein, externalisiert. Und am Ende, da das alles nichts genutzt hat, muss sie selbst doch noch einmal tätig werden und ihr eigenes eigensinniges Kind zum Verschwinden bringen.
Man kann die Perspektive jedoch auch umdrehen. Dann externalisiert eine Gesellschaft, die nichts Abweichendes, keinen eigenen Sinn duldet, sich in der Mutter. Dann handelt diese als Agentin all derjenigen, die ihr Kind tot sehen wollen. Dann schildert das Märchen keinen Zirkel, in dem das Ende in den Anfang greift und der Text seine eigene Voraussetzung hervortreten lässt. Dann ist es Schauplatz einer tödlichen Eskalation:
Am Anfang ist die Situation noch halbwegs normal. Was immer die Mutter vom Kind haben will, es muss nicht unbillig sein, was sie da verlangt. Und auch der eigensinnige Trotz des Kindes bewegt sich durchaus noch innerhalb einer pädagogischen Szenerie, in der Deeskalation möglich wäre und die beiden sich aufeinander einpendeln könnten. Da kannst du essen, du eigensinniges Kind: Damit kommt die Mutter des Erzählers im »Grünen Heinrich« von Gottfried Keller ihrem Kind entgegen und verhindert in der Konstruktion des Romans die Katastrophe, die dann in der Geschichte vom »Meretlein« auserzählt wird.³ Der Eingriff des lieben Gottes, der Angriff aufs Soma des Kindes: Er könnte auch von außen kommen. Hat er die Mutter vielleicht stumm in sich selbst zurückgetrieben, fassungslos darüber, dass etwas geschah, das sie sich in schwachen Momenten vielleicht wünschte, wovon sie aber keinesfalls wollte, dass es wirklich geschähe?
Vielleicht ist die Stummheit der Mutter, ihr Verschwinden aus dem Märchen nicht Ausdruck von Kälte und Bosheit, sondern Ausdruck des Schocks, unter den Krankheit und Tod des Kindes sie setzten. Dann aber bekäme der letzte Satz des Märchens, in dem sie wieder auftritt, einen ganz anderen Sinn. Da musste die Mutter selbst zum Grabe gehen – das »musste« ist vielleicht gar kein Zynismus, der sich höhnisch über unsere Anteilnahme am Schicksal des Kindes hinwegsetzt, sondern Ausdruck des gesellschaftlichen Zwanges, der das Verhalten der Mutter dirigiert. Sie will gar nicht zum Grabe gehen. Vielleicht ist ihr das pflanzenhaft aus dem Grabe wachsende Ärmchen, das ein Erinnerungszeichen sein kann (vergleichbar dem Birnbaum, der bei Fontane aus dem Grabe des Herrn von Ribbeck wächst) ein Trost. Vielleicht ist ihr, wie der Mutter in »Pet Sematary« von Stephen King, ein Gespenst des Kindes noch lieber als ein totes Kind. In diesem Gram »musste« sie tun, was »sie«, die anderen, die Gemeinde, die »Gesellschaft« von ihr verlangten, die nicht ertragen konnten, dass jemand, der tot und begraben zu sein hatte, ebendies nicht sein wollte und aus dem Grab heraus ins Leben zurückkehrte. Die Mutter verkörpert die gesellschaftliche Unterdrückung, so wie umgekehrt, meiner ersten Lektüre folgend, die gesellschaftliche Unterdrückung die mütterliche verkörpert.
Keine dieser Lektüren ist, für sich genommen, wahr. Wahr ist die Kippbewegung, in der eine in die andere umschlägt. Wahr ist das Dazwischen, das Darüber, das jegliche einsträhnige Fixierung einer Ursache für die Unterdrückung des Eigensinns verhindert. Wahr ist, mit einem weniger modischen Wort, die Dialektik zwischen Gesellschaft und Familie, die keinen Ursprung behauptet, der nicht im Wechselverhältnis dieser Pole bestünde. [we]
Über Lebende und Tote
In einem kleinen Detail ähnelt das Märchen vom eigensinnigen Kind einer klassischen Gespenstergeschichte. Da schickt sich jemand an, sein Grab zu verlassen und als Gespenst unter den Lebenden zu wandeln. Umgekehrt bedeutet das: Der- oder diejenige ist nicht richtig gestorben. Das Band zwischen ihm*ihr und den Überlebenden ist nicht zerrissen; es besteht fort und holt die Toten aus dem Grab heraus wieder zurück ins Leben – ins zweite, scheinhafte Leben der Untoten, die uns halluzinativ umgeistern.
In dem Text »Trauer und Melancholie« gibt Freud eine Erklärung für dieses Phänomen. Was die Toten aus der Erde zieht, sodass sie die Lebenden heimsuchen, seien Schuldgefühle. Im Unterschied zur normalen Trauer, die