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Mummelchen: Liebeserklärung an das Leben
Mummelchen: Liebeserklärung an das Leben
Mummelchen: Liebeserklärung an das Leben
eBook504 Seiten6 Stunden

Mummelchen: Liebeserklärung an das Leben

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Über dieses E-Book

Das Besondere an Lisas dargestellter Lebensreise ist, dass sie in der "Jetzt-Zeit" geschrieben wurde. Selten entsteht ein Buch in dieser Art, weil die Jetzt-Zeit normalerweise den Filmemachern vorbehalten ist. Der Leser kann unmittelbar in Lisas kindliche Erlebniswelt eintauchen, alles miterleben, was sie seelisch verkraften muss, weit über ein gesundes Maß normaler Herausforderungen hinausgehend. Die dargestellte Weise der manisch-depressiven Mutter, dürfte nicht nur für Psychologen von Interesse sein, denn die relevante Frage, für alle, lautet: wie ist es, wenn ein Mensch, wie die kleine Lisa, mit einer Fülle von Ereignissen konfrontiert wird, die bedrohlich erscheinen, über den Kopf wachsen und man sich dessen nicht erwehren kann? Während des Miterlebens wird nicht so sehr der Verstand angesprochen, sondern das Gefühl. In einer Gesellschaft, die dem trügerischen Verstand den Vorrang gibt, wird das Gefühl oft "unter den Tisch gekehrt" (Mensch-Maschine). Lisas unverblümt geschilderte LebensEpisoden, zuerst in Kindheitsperspektive, lassen die besondere Atmosphäre der deutschen Nachkriegszeit aufscheinen, anfangs noch ohne Telefon und TV. Sie erzählt ihr Heranwachsen, lässt Gedanken, Gefühle und ihren Alltag lebendig werden. Geschichtlich Wichtiges kommt in den Dialogen mit den vom Krieg traumatisierten Eltern zum Ausdruck. Der Vater war bereits als junger Soldat im 1. Weltkrieg und litt massiv unter dem faschistischen Regime, konnte das blinde Mitläufertum kaum ertragen und verarbeitete dies u.a. in einem Gedicht. Lisas Kindheit ist von einem "Mangel" geprägt, einem Mangel, der den meisten Menschen auferlegt ist, jedoch eingestreut ins Bewusstsein wie von ferne her rührend, erlebt sie, trotz allem, ein zartes Gefühl von Fülle und Vollkommenheit, das vom täglichen Leben unabhängig scheint. Angesteckt von der fröhlichen Gelassenheit ihrer Mutter, aus ihren gesunden Zeiten, diesem Teil, in dem sie sich weseneins wahrnimmt, findet sie zu einem selbstbewussten Leben.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum6. Jan. 2021
ISBN9783347092808
Mummelchen: Liebeserklärung an das Leben
Autor

Lisa Möller

Lisa Möller erblickte im Mai 1953 in Dijon/Frankreich das Licht der Welt, eine Welt voller Irritationen, denn ihre Mutter wurde, als Lisa 2 Jahre alt war, nach der Geburt der Schwester, manisch-depressiv. Bald fühlte sie sich, fast noch wackelig auf ihren kurzen Beinen, für die oft hilflose Mutter verantwortlich. Sie begleitete ihre Mutter (geb. 1913, beendete während der Judenverfolgung 1938 ihre Anstellung als Hortleiterin in Berlin) durch ein von Höhen und Tiefen extrem ausgeprägtes Leben und durch eine - von einer Anzahl von abenteuerlichen aber auch lehrreichen Orts- und Personenwechseln erschwerte – Nachkriegszeit. Die Stationen ihrer Familie waren ab 1959, nach der Rückkehr aus Frankreich, zunächst ein kleiner Ort in der Nähe von Hamburg, 1962 wurde ein kurzer AuswanderungsZwischenstopp auf Korsika eingelegt, danach folgten Trier, später Kassel. Lisa bot diesem “Ernst des Lebens“ immer die Stirn, denn das Leben mit einer schwerkranken Mutter, die sehr oft die “Klapsmühlen“ von innen gesehen hatte und einem cholerischen Vater (geb. 1898, Elektroinstallateur) war dermaßen herausfordernd und unberechenbar. Am liebsten hätte sie, wie ihre Schwester, das Gymnasium besucht; es war ihr nicht vergönnt. Stattdessen wurde sie Technische Zeichnerin. Hier endet der 1. Band. Lisas Erwachsenenleben mit ihrer “lebensunfähigen Mutter“ wird im 2. Band weitererzählt. (1. Ehe 10 Jahre, 1 Sohn; 2. Ehe ab 1987, 1 Sohn).

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    Buchvorschau

    Mummelchen - Lisa Möller

    Einleitung

    Der Name steht für Pummelchen, für eine weiche, mollige Masse in die man sich hinein kuscheln konnte. Er steht auch für Mümmelmann, der Hase, der mit seiner Schnute mümmelt, und zwar dann, wenn sie ihr Gebiss auf den Tisch knallte und, obwohl aus feinem Hause abstammend, sagte: Scheiß Gebiss!. Dann mummelte sie morgens Toastbrot ungetoastet, trank dazu ihr Tässchen Kaffee und rauchte anschließend genüsslich ihr Rettchen. Andenken an dieses Ritual mit den Rettchen nach der Tasse Kaffee sind zwei Brandflecken, einer unter dem Chaiselongue auf dem Parkett und einer auf unserem massiven Eichentisch. Letzteren hatte sie mit Feinschliff herausgearbeitet. So geschickt hätte es kein Möbeltischler machen können, jedoch blieb eine leichte Delle. Wenn sie mit ihrer kleinen Hand über diese Delle strich, bereute sie ihre Missetat sehr und bewunderte gleichzeitig ihre Kunstfertigkeit und optimistisch meinte sie, dass alles im Leben sich zum Guten wenden würde.

    Dann steht Mummelchen für meine liebe Mumi. Allein ihre Anwesenheit mit ihrem feinen Berliner Humor, der einem immerzu ein Lächeln abverlangte und im Herzen fröhlich stimmte, war ein Geschenk Gottes in guten Zeiten. Aber da ist auch das viele, abgrundtiefe Leid, weil dieses sanfte Wesen, welches im Herzen um Freude und Leid der ganzen Welt wusste, engelsgleich, auf unserem Erdenfeld nicht wirklich existieren konnte. In ihrer beruflichen Karriere brachte sie es zu Hitlers Zeiten zur Hortleiterin in einem Berliner Hort bis der Krieg kam und sie das Fürchten lehrte und nicht nur das … Die Gestapo, SA und die SS nahmen ihr ein Kind nach dem anderen fort, welche ihr ans Herz gewachsen waren. Mein Vater, den sie 1947 heiratete, und der damals den vollen Durchblick besaß, weil er schon beim Ersten Weltkrieg dabei war, wusste, wohin diese Judenkinder verschleppt wurden …

    Neben pädagogischen Größen ist sie mit dem Geist Rudolf Steiners in Berührung gekommen. Und wenn wir Kinder aus der Schule mit guten Noten nach Hause kamen, war ihre Devise: Bildung ist gut und notwendig. Besser jedoch ist die Herzensbildung und diese sollten wir nicht außer Acht lassen.

    Dann steht Mummelchen auch für Hummelchen. Man möge mir und ihr die vielen … chens verzeihen. Die Mutti, welche im Kindergarten ihre Kleinen gefragt hatte: „ Wie heißt ein kleiner Baum?" usw. und weil ihr das Leben erträglicher erschien, wenn sie neben all den großen Dingen auch die kleinen Dinge gegenüberstellte, summte den ganzen Tag vor sich hin, lief dabei geschäftig hin und her und wuselte herum, hier ein bisschen und dort ein bisschen. Ihr Lied auf den Lippen war meistens ein Dauerbrenner. Wenn wir dieses Summen vernahmen waren wir unsagbar glücklich – in guten Zeiten.

    Als gelernte Kindergärtnerin hat Mummelchen alles darangesetzt, wie in dem Märchen Der Wolf und die sieben Geißlein, uns eine gute Mutter zu sein. Sie hat es versucht, so gut es ging.

    In tiefenpsychologischer Sichtweise erklärt Eugen Drewermann in seiner Abhandlung über die Geiß in seinem Werk Der Wolf und die sieben Geißlein : Das Nicht-Leben der Mutter bedeutet notwendig die Lebensverweigerung ihrer Kinder, und es ist wichtig, sich dieser Wahrheit wie einen allgemein gültigen Lehrsatz klarzumachen. Keine noch so „christliche" Tugend- und Opferideologie führt an diesem psychologischem Tatbestand vorbei.

    Diese Lehrmeinung sitzt tief wie ein Stachel. Und dieser Stachel schaut mich an oder ich schaue ihn an, wie auch immer. Er ist eine Herausforderung zum heil werden geworden.

    Hier möchte ich mit diesem Buch ansetzen. Es ist für mich eine Möglichkeit die vielen Zementsäcke, abgesehen von den vielen kleinen Päckchen, die ein jeder sowieso zu tragen hat, sichtbar zu machen, welche auf meinen Schultern, wie auf einem Lastesel drücken und die ständige Erschöpfung in meinen Gliedern spürend, mit der ich Tag für Tag durchs Leben krieche.

    Wenn ich mir jede einzelne Last anschaue, jedes Trauma, kann ich den Esel verstehen lernen, wie er sie so brav und auch störrisch schleppen muss. Schleppen muss? Nein, ich möchte nun mit jeder einzelnen Zeile alles neu bündeln, klein und fein in ein Büchlein hinein und es dann in den Bücherschrank stecken – weg damit und in die Ecke … Dann können irgendwann einmal meine Söhne es zur Hand nehmen, wenn für sie der Tag gekommen ist, zur inneren Schau. Vielleicht kann dieses Büchlein dann eine Hilfe sein, um ihr „Muttchen" und gleichzeitig alle Mütter dieser Welt besser verstehen zu lernen.

    Vor meiner Seele lasse ich Schritt für Schritt die Bilder aus meiner Kindheit aufsteigen und stelle sie vor mich hin, so dass ich sie in allen Einzelheiten anschauen kann. Es ist ein Anschauen, welches die vielen unvergossenen Tränen zum Vorschein bringt, welche mein tiefstes Wesen erschüttern, sodass die vielen Schrunden und Wunden ausbluten, die das Schicksal mir zugefügt hat. Es ist ein Reinwaschen und ich habe die Vision, dass die nächsten Seiten meines Lebensbuches wie ungeschrieben vor mir liegen, ohne Verdruss, ohne Anklage und ohne Angst vor der Zukunft und ich jedem neuen Tag begegne barfuß und frohen Herzens.

    Und zuletzt steht Mummelchen für das gleichnamige Märchen von Manfred Kyber*, welches ich beim Schreiben meiner Erinnerungen entdeckt habe. Mummelchen ist eine kleine Nixe. Sie ist in einem sumpfigen Krötenteich aufgewachsen und von ihrer Sehnsucht geleitet, begibt sie sich auf die Suche um eine Seele zu erlangen …

    * Mumm elchen Manfred Kyber - siehe Anhang

    Dijon

    Püpperling

    1955

    (Die Erzählerin ist 0 Jahre)

    Als ich zur Welt kommen möchte, vernehme ich das Rufen der Hebamme: „Pressen! Pressen! Pressen!" Eine riesige Welle kommt über mich, saugt mich in ihren mächtigen Strudel, reißt mich fort immer weiter und weiter in die dunklen Weiten des endlosen Raumes hinein. Mir wird schwindlig, denn ich spüre, dass ich falle. Es ist ein Fallen immer tiefer und tiefer und schneller und schneller in ein großes schwarzes Loch hinein. Ich wünsche mir, dass ein riesiger Berg Watte meinen Fall aufhalten möge! Dieses Fallen muss doch einmal ein Ende nehmen! Es ist aussichtslos und es kommt mir vor, als wenn ich durch mehrere Zeitalter hindurch falle, ohne Ende und es ist so schwarz um mich herum …

    Plötzlich hört das Fallen doch auf und mit einem Blubb bin ich auch schon da. Das ist also der Anfang, so unsanft geschubst zu werden auf die Erde nach dem Motto: „Sieh’ zu wie du zurecht kommst!"

    „Mal sehen wie das noch geht…" denke ich. Da schlafe ich in den Armen meiner überglücklichen Mutter ein. Es ist wirklich alles sehr schnell gegangen, auch die Fahrt ins Krankenhaus mit dem Taxi...

    Von einem fantastischen Geruch werde ich wach. Das ist der Duft von einem riesigen Maiglöckchenstrauß den Muttis Freunde vorbei gebracht haben.

    Das Schwesterchen

    1955

    (Die Erzählerin ist 2 Jahre)

    Mama ist in letzter Zeit anders geworden. Sie geht oft mit mir und dem lieben guten alten San* spazieren. Dabei drückt Mamas Hand meine Hand ganz fest … Heute gehen wir zu Nicole. Nicole ist meine Freundin und fast so alt wie ich. Ich bin froh, dass ich mit ihr spielen kann, dann ist es nicht so langweilig.

    Wieder zu Hause angekommen, zeigt mir Mama nach dem Baden ihren Bauch, der in letzter Zeit ganz schön dick geworden ist. Sie sagt, dass sie dort in ihrem Bauch ein Brüderchen oder ein Schwesterchen beherbergt, das bald auf die Welt kommen möchte. Das Brüderchen oder Schwesterchen muss aber im Bauch von Mama noch ein bisschen wachsen, damit es groß und stark wird. Und auch, wenn es zur Welt kommt, muss es noch weiter wachsen, damit ich mit ihm bald spielen kann. Auch Papa findet es toll, dass ich jemanden zum Spielen haben werde.

    Endlich ist ein Schwesterchen im Krankenhaus aus Mamas Bauch gekommen. Es heißt Jenny. Sie ist ganz süß, aber noch sehr klein, so klein wie meine Babypuppe.

    Mama macht sich große Sorgen darüber, weil die klitzekleine Jenny nicht richtig wachsen möchte. Sie ist zu dünn geworden, weil sie die Mammimilch nicht verträgt. Papa muss immerzu in die Stadt fahren, um gute Milch von einer Amme für Jenny zu holen. Auch ich mache mir Sorgen, denn Mama ist sehr traurig und unglücklich darüber, dass Jenny so dünn ist.

    * San ist unser treuer Hund.

    Anmerkung:  Aus Erzählungen meiner Eltern ging hervor, dass erst mit einer sogenannten halbverdauten Dosen-milch (Ammenmilch) meine Schwester aufge- päppelt werden konnte. Aus welchen Grund sie wirklich die Muttermilch nicht vertrug, ist unbekannt.

    Mama im Krankenhaus

    1955

    (Die Erzählerin ist 2 Jahre)

    „Mama, Mama, Mama, Mama!!!!!!!!!!! Wo ist meine Mama? – „Deine Mama musste ins Krankenhaus gebracht werden. Sie wird bald wieder gesund. Beruhige dich Kleines.

    Ich sehe mich umhüllt von einem breiten schwarzen Rock. Die Frau, die mit mir spricht, sitzt auf einem Stuhl und wischt mit ihrer Hand die Tränen von meinem Gesicht. „ Wann wird meine Mama wieder gesund? – „Das wissen wir nicht, Kleines. Aber wenn sie wieder gesund ist, wird sie kommen und dich abholen. Beruhige dich Kleines, beruhige dich! Die Frau greift mich fest und stellt mich auf die Beine. Alles bricht in mir und um mich herum zusammen … Es ist so dunkel, so dunkel... „ Wenn meine Mama nicht mehr da ist …", ich spüre, dass meiner Mama etwas Schweres und Schreckliches zugestoßen ist, „möchte ich auch weg! Bitte bringt mich weg von hier!", höre ich mich sagen. Die Frau vor mir redet leise mit einer anderen Frau, die hinter ihr steht, in diesem kleinen Raum. Fades elektrisches Licht scheint von der Decke. Plötzlich höre ich ein lautes Klappern von draußen her. Durch das Fenster kann ich nur Dunkelheit erkennen. „Was ist das? Was ist das? Sagt es mir!" Panik macht sich in mir breit. „Das war nur der Deckel von einer Mülltonne. Es ist nichts weiter. " Die Frauen reden wieder leise miteinander und ich weiß, dass ich hier festgehalten werde. Plötzlich ist alle Angst schlagartig weg. Weg – nur weg – ich möchte weg! „Schmeißt mich in diese Mülltonne!", höre ich mich sagen. Da steht die Frau auf, nimmt mich an die Hand und sagt: „Wir gehen jetzt nach unten und dann bekommst du erst einmal etwas zu essen und zu trinken. Dann zeigen wir dir dein Bettchen, dann wirst du fein schlafen und morgen mit den anderen Kindern hier spielen. Du wirst sehen, dass alles nicht so schlimm ist." Die Dunkelheit weicht und macht einer Leere in mir Platz, die sich ausbreitet, weit und breit bis in den endlos weiten Raum…

    Anmerkung: Als meine Mutter in der Klinik war, konnte unser Hund nicht mehr versorgt werden. So sah sich mein Vater gezwungen unseren guten alten San zu töten. Nachdem er ihm einen Sack über den Kopf gezogen hatte, wurde er von ihm mit einer Axt erschlagen. Es hat ihm sehr Leid getan. Es wurde gesagt, dass unser Hund bei keinem Fremden geblieben wäre, weil er schon zu alt war.

    Das Gurkenbeet

    1956

    (Die Erzählerin ist 3 Jahre)

    Oft holt Mama mich mit dem Fahrrad vom Kindergarten ab. Mamas Fahrrad hat hinten einen Kindersitz. Als wir zuhause ankommen und Mama die Eingangstür aufschließt, merkt sie, dass etwas Schweres hinter der Tür liegt. Das ist aber die kleine Jenny die Mama vorsichtig erst dort hervor holen muss. Mama sagt, dass sie bis zur Tür gerobbt sein muss. „Mama!", sage ich entsetzt, „was ist mit der kleinen Jenny passiert? Hat sie geweint? – „I wo, macht Mama, „es ist nichts passiert. Macht dir wegen Jenny keine Sorgen!"

    Papa arbeitet viel im Garten. Er hat Gemüsebeete angelegt und es gibt einen Komposthaufen, auf dem große Kartoffeln zum Vorschein kommen, nur weil dort die Kartoffelschalen aus dem Küchenabfall hin gekippt worden sind. Papa arbeitet auch viel am Haus. Jetzt arbeitet er daran, viereckige große Steine zu machen, denn es soll ein Anbau gemauert werden, dort wo der Hühnerstall gestanden hat. Hühner zu züchten ist nicht rentabel, meint Papa. Steine zu machen ist nicht schwer. Dazu hat Papa mehrere Formen aus Holz gefertigt. Da gießt er groben Zement hinein und lässt ihn in der Sonne trocknen. Danach werden die Holzteile entfernt. Die Steine zum Bauen sind innen hohl. So wie dieser Anbau, ist unser ganzes Häuschen entstanden. Mama und Jenny sind in die Stadt gefahren und zur Abwechslung muss Papa mit mir Verstecken spielen. Das finde ich lustig! Erst versteckte ich mich und wenn Papa mich gefunden hat, muss ich den Papa suchen gehen. Es ist ganz leicht ihn zu finden. Ich finde immer alles, sogar Papas Brille, die er einmal im Gurkenbeet gelassen hat. Darüber hat er sich riesig gefreut, weil er lange überall herumsuchte und sie einfach nicht finden konnte. Aber jetzt ist der Papa verschwunden. Ich schaue hierhin und schaue dorthin, kann ihn aber nirgendwo finden. Immer wieder renne ich ums Haus herum, aber der Papa ist nicht da. Hier nicht und dort nicht. Ich rufe: „Papa, wo bist du?", aber er gibt keine Antwort. Ich rufe noch mal und noch mal, aber der Papa zeigt sich nicht. Ich renne um das Haus herum, immer wieder und immer wieder. Aber Papa bleibt verschwunden. Ich hetze und hetze immer wieder ums Haus und bekomme kaum noch Luft – da steht der Papa plötzlich vor mir und lacht. „Was ist denn mit dir los? – „Papa, du bist auf einmal weg gewesen! „Quatsch, ich löse mich doch nicht einfach in Luft auf! – „Doch Papa, die Luft hat auf einmal gezittert und alles wurde schwarz! Ich bin froh, dass Papa mich in den Arm nimmt und mich tröstet. Er wischt mir die Tränen fort und putzt mir mit seinem großen Taschentuch die Nase. „Nun beruhige dich doch! – „Papa! So -hhhhhh- einen riesigen Schreck -hhhhh- darfst du mir nicht noch einmal einjagen! – „Du bist ein Dummerchen!" Papa lacht immerzu darüber, dass ich gedacht habe, der Papa ist wie ein Luftballon davongeflogen.

    Der Anbau ist fertig geworden. Auf dem Anbau hat Papa eine Zisterne gebaut. So haben wir im Bad schönes warmes Wasser zum duschen. Einmal beim Duschen ist Mamas goldener Ehering durch den Abfluss gerutscht, aber Mama ist gar nicht traurig darüber. „Es ist nur ein kleines Stückchen Metall. Diesen Verlust kann ich verkraften."

    Auf dem Dach der Zisterne können wir an heißen Sommertagen herrlich schön baden. Und unser Haus hat nun einen schönen weißen Anstrich bekommen.

    Aber jetzt muss Papa von Dijon immer nach Lyon zur Arbeit fahren und kommt deswegen immer sehr spät nach Hause, manchmal nur übers Wochenende. Papas alter Arbeitgeber, auf dessen Firmengelände er das schöne kleine Häuschen bauen durfte, hat keine Arbeit mehr für ihn.

    An der Brücke

    1957

    (Die Erzählerin ist 4 Jahre)

    Von unserem Häuschen geht durch die Prärie ein von uns getrampelter Pfad, der bis zum Kanal führt. Dort gibt es eine Eisenbahnbrücke, die über den Kanal geht. Darunter wohnen Clochards.

    Mama verbietet mir mit ihnen zu reden, denn sie stinken nach Rotwein und sind so schmutzig, weil sie immer draußen auf der harten Erde schlafen. Mama scheint etwas gegen diese Vagabunden zu haben, wahrscheinlich deswegen, weil es ein paar Mal vorgekommen ist, dass in die gelieferten Milchflaschen, die für uns in der Nähe der Brücke abgestellt werden, hinein gepinkelt worden ist. So eine Sauerei ist geschehen wegen dem bösen Hitler aus Deutschland. Mama möchte nicht, dass ich diesen Namen ausspreche und erklärt mir, dass viele Menschen in Frankreich denken, dass alle Menschen aus Deutschland böse sind, wie der Hitler. Dabei war es so, dass Mama und Papa aus Deutschland geflohen sind, weil die Menschen, die zu Hitler gehalten haben, hinter Papa her waren und ihn fangen wollten.

    Das Zugunglück

    1957

    (Die Erzählerin ist 4 Jahre)

    Mein Weg zum Kindergarten führt an der Eisenbahnbrücke vorbei, dann am Kanal entlang bis zur Écluse (Schleuse), wo die nette Frau wohnt mit den vielen Schäfchen. Rechts ab geht es die Straße entlang bis zum Bahnübergang. Wenn die Schranke unten ist, warte ich auf dem Fußweg bis der Zug vorbeigefahren ist. Von hier kann ich die Schulgebäude aus rotem Backstein sehen. Neben dran ist auch der Pavillon in dem der Kindergarten untergebracht ist. Wir basteln dort und arbeiten viel mit Knete. Am liebsten wäre es mir, ich könnte wie die großen Kinder schon zur Schule gehen. Einmal war ich nachmittags in so einer Schulklasse, wo die Kinder rechnen und schreiben lernen. Das finde ich ganz toll und sage, dass ich rumkneten blöd finde. Aber in die 1. Klasse darf ich leider nicht.

    Auf dem Nachhauseweg komme ich wieder an der Écluse vorbei. Da sehe ich, wie 2 Kühe ihre Köpfe aus dem Wasser im Kanal heben. Irgendwie sind sie da hinein geplumpst. Männer in blauen Uniformen mit schwarzen Gürteln um den Bauch, versuchen die Köpfe der Kühe mit dicken Stricken, welche ihnen um den Hals gebunden sind, über Wasser zu halten. Immer wieder versuchen die Männer die Kühe aus dem Wasser zu ziehen. Aber die Kühe sind doch viel zu schwer, um die steile gepflasterte Kanalwand hinauf zu kommen! Das schaffen sie doch nie und nimmer! Mir tun die armen Kühe leid, die ständig am Strick gezerrt werden. Immer wieder tauchen die riesigen Köpfe unter Wasser und wenn sie wieder hoch kommen schauen sie mich mit ihren großen dunklen Augen an. Vielleicht kann man die Kühe irgendwie anders aus dem Wasser bekommen, überlege ich. Aber die Männer zerren und zerren an den riesigen Köpfen und ich schaue in ihre traurigen Augen, stehe wie angewurzelt da und schaue immerzu in diese traurigen Augen. Plötzlich steht die Frau von der Écluse neben mir, fasst mich an die Hand und sagt, ich soll mit ihr ins Haus gehen. Sie packt mich in so ein Bett an der Wand mit dunkelroten Vorhängen davor. Ich bekomme eine Wärmflasche auf den Bauch und ich soll schlafen. Die Mama wird mich dann schon abholen. So liege ich nun, starre in die wohlige Dunkelheit, weil auch an den kleinen Fenstern die Vorhänge zugezogenen sind und warte auf Mama.

    Später erzählt mir Papa auf meine Frage, ob die Kühe gerettet werden konnten, dass in dem Güterzug, in dem die Kühe transportiert wurden, sich eine Türverriegelung gelöst hatte. Deswegen sind die 2 Kühe in den Kanal gestürzt. Dabei haben sie sich schwer verletzt. Die Polizei hat sie erschießen müssen.

    Bei den Pflegeeltern

    1957

    (Die Erzählerin ist 4 Jahre)

    Nun bin ich mit meinem Schwesterchen zu den Pflegeeltern gekommen, bei denen Jenny schon als kleines Baby war. Mama ist noch einmal ins Krankenhaus gekommen und ich bin froh, dass ich bei Jenny bleiben darf, denn sonst müsste ich wieder alleine ins Heim. Aber ich habe starke Halsschmerzen und Fieber und habe schon grässliche Medizin schlucken müssen. Ich werde sofort ins Bett gesteckt. Da liege ich nun und starre an die Decke und kann nicht schlafen. In dem kleinen kahlen Raum, in dem nur Platz für 2 kleine Bettchen ist, fühle ich mich sehr einsam. Es ist draußen dunkel geworden. Von weitem höre ich leises Gemurmel und der Geruch von Essen steigt mir in die Nase. Sicher wird jetzt zu Abend gegessen. Ich beschließe all meinen Mut zusammen zu nehmen und aufzustehen, gehe durch den dunklen Flur zur Tür, durch die es hell durch das Schlüsselloch blinkt. Als ich den Raum betrete, sehe ich einen langen reich gedeckten Tisch, an dem bei Kerzenschein viele Leute sitzen. Es riecht stark nach geräuchertem Schinken und rotem Wein.

    Als die Leute mich erblicken, sagt keiner ein Wort. So stehe ich einfach nur da und fange an zu frieren in meinem Nachthemd. „Du bist krank und musst ins Bett!", sagt jemand barsch. „Ich habe kein Fieber mehr.", sage ich. „Frederic", sagt eine Frau am Tisch, „gibt der Kleinen etwas von deinem Teller!" „Von meinem Schinken bekommt sie aber nichts!", brummt der bärtige Alte. „Gib ihr etwas Gelbes vom Ei, das kann sie sicher schon vertragen", antwortet eine stämmige Bauersfrau. „Komm her, nur nicht so schüchtern! An uns raue Gesellen wirst du dich noch gewöhnen! Wir tun dir aber nichts, wirst schon sehen." Zaghaft trete ich etwas näher. Weil kein weiterer Platz an dem großen Tisch ist, werde ich von dem Alten auf seinen Schoß gehoben und mit einem kleinen Löffel darf ich mir das noch warme cremigflüssige Gelbe vom Ei herauslöffeln.

    Wie die mir endlos vorgekommenen Tage hier vergangen sind, weiß ich nicht. Immer habe ich gewartet und gehofft, dass die Mama wieder gesund wird und wir abgeholt werden. Jetzt endlich ist es soweit. Wir sollen abgeholt werden, sagt man uns. Vor lauter Aufregung kribbelt es mir im Bauch. Wir gehen vor die Tür. Von weitem sehe ich 2 schrecklich dünne Gestalten um das große Stallgebäude herum auf uns zu gehen.

    Jenny ist vor lauter Freude ganz aus dem Häuschen. Sie ruft: „Da kommt Mama Ele Moller! Da kommt Mama Ele Moller! Mama Ele Moller ist da!" Sie stolpert los, wackelt auf ihren kleinen Beinen unseren Eltern entgegen und wird von dem langen dürren Papa aufgefangen.

    Nach ein paar Tagen zuhause, wage ich am Abendbrottisch zu fragen, wie es Mama im Krankenhaus ergangen ist. Sie wirkt auf mich genauso wackelig auf den Beinen, wie die kleine Jenny. „Frage nicht Püpperling!" gibt Mama zur Antwort. „Darüber kann ich nicht sprechen, aber du kannst mir glauben: ihr beiden kleinen süßen Fröschlein habt mir sehr, sehr gefehlt!" Ich spüre, dass etwas Schlimmes vorgefallen sein muss und nehme mir vor, gut auf Mama aufzupassen.

    Anmerkung: Meine Mutter erzählte später, dass mein Vater zu dieser Zeit einen Magendurchbruch hatte und dabei beinahe „hopps" gegangen wäre. Er war mit Tatütata ins Krankenhaus gekommen. Danach musste sie in die Nervenheilanstalt. Das war ein schwarzes Loch, wie sie sagte, in der Ratten herumliefen.

    Beim Onkel Doktor Petite Vérole

    1957

    (Die Erzählerin ist 4 Jahre)

    Mama sagt, dass sie mit mir zu einem Onkel Doktor fahren muss, der nur einen kleinen Piek an meinem Arm machen wird. Natürlich geht es mit Mamas Fahrrad dorthin, bei dem ich hinter dem Sattel in einem Korbgestell Platz habe. Mama hat heute ein dickes Kissen dort für mich bereit gelegt.

    „ Warum muss der Onkel Doktor bei mir einen Pieks machen? – „Damit du nicht eine gefährliche Krankheit bekommst. Alle Kinder bekommen diesen Pieks am Arm, damit sie nicht krank werden müssen.

    Also fahren wir los.

    Der böse Onkel hat diesen Pieks an meinem Arm gemacht. Mutti fährt mit dem Fahrrad und ich sitze wieder hinter ihr und es geht mir gar nicht gut und sage dauernd ganz leise, so dass Mama es nicht hört: „Auu-aaa – auu-aaa – Maa-maa – auu-aaa – ".

    Plötzlich hört Mama doch mein leises Aua-Lied und hält an, fühlt mit ihrer Hand meine heiße Stirn und stopft hinter mir das Kissen zurecht.

    „ Warum hast du das getan? Warum hast du mich zu diesem bösen Mann gebracht? – „ Sei still, Püpperling, dein Aua ist nur eine Reaktion auf den Pieks, es wird bestimmt schnell wieder gut.

    Mama steigt wieder aufs Fahrrad und es geht weiter und ich hoffe dass es stimmt, was Mama sagt.

    „Auu-aaa – auu-aaa – Maa-maa – bitte – bit-te auu-aaa – ".

    Es fühlt sich an, als wenn ich bald ganz, ganz weit weg müsste, ohne zu laufen. Aber ich darf doch nicht einfach weggehen, weil ich niemals meine liebe Mama allein lassen darf !! Ohne mich wird Mama sehr, sehr traurig sein.

    „Auu-aaa – auu-aaa – Maa-maa – auu-aaa – ".

    Ich friere so schrecklich.

    Ohne zu laufen ganz weit weg sein, ist nicht schlimm.

    Plötzlich sagt es in mir, dass ich nicht gehen darf und ich beschließe für mich, dass ich partout nicht gehen werde! Ich werde das böse Aua überstehen!

    Wie das böse Aua weggegangen ist, weiß ich nicht. Es hat sich ganz viel heiß in meinem Kopf, Bauch und meinen Beinen angefüllt.

    Die kleine Jenny darf niemals dieses böse Aua bekommen! Darauf müssen Mama und auch der Papa acht geben!

    Anmerkung: Bei der obligatorischen Nachimpf-Anktion in der Grundschule, wurde ich von zwei Ärzten an den Armen gezogen, die jedoch bei mir keine Pockennarben feststellen konnten. Aus Risikogründen wurde darauf verzichtet, mich ein zweites Mal zu impfen.

    Der Unfall

    1957

    (Die Erzählerin ist 4 Jahre)

    „Mama, Mama, Jenny hat mein Bilderbuch zerrissen! Warum hat sie das getan? Es war doch mein allerschönstes Buch! – „Sei nicht traurig darüber, die kleine Jenny weiß noch nicht, dass es dein schönstes Buch war, was du so sehr gemocht hast. Ja, das ist wirklich dumm von ihr gewesen. Es wird noch sehr lange dauern, fürchte ich, bis ich mit ihr richtig spielen kann.

    Obwohl ich heute nicht in den Kindergarten muss, sind wir alle ganz früh aufgestanden, weil Mama, ich und Papa verreisen wollen. Unsere liebe Oma aus Berlin ist ja bei uns und passt, so lange wie wir weg sind, auf die kleine dumme Jenny auf. Wir fahren mit dem Zug bis ans Meer. Um auf die Insel Île du Levant zu kommen, müssen wir weiter mit einer kleinen Fähre. Es ist heiß und es ist ein Unwetter über uns losgebrochen. Es regnet in Strömen und die Leute sitzen dicht gedrängt unter einem Dach. Das Schiff schaukelt mächtig. Mir ist schlecht und Mama schaut mich sorgenvoll an. Als wir an Land gehen, meint Mama zu mir: „Du bist ja seekrank geworden, kleiner Püpperling. Ganz grün warst du im Gesicht!" So eine schaukelige Schiffsreise möchte ich auch nicht noch einmal machen. Aber Papa kann es kaum erwarten auf der Insel sich von seinen Klamotten zu entledigen, um Nackedei rumlaufen zu können.

    Manchmal holt auch Papa mich vom Kindergarten ab, wenn er von der Arbeit kommt. Dann werde ich in dem Fahrradanhänger kutschiert. Papa ist viel mit dem Anhänger unterwegs, auch wenn es zum Einkaufen in die Stadt geht. Das ist besonders lustig. Manchmal fährt Mama mit und kauft uns dann ein kleines Baguette und versteckt im Inneren ein kleines Stückchen schwarze Schokolade. Aber heute ist Papa ohne Anhänger gekommen. Hinter ihm auf dem Fahrrad soll ich die Beine abspreizen und immer schön gerade halten, sagt er. Auf dem Gepäckträger ist es ganz schön hart für meinen Popo und so lasse ich auch mal die Beine baumeln. Papa merkt das und ruft: „Lass die Beine oben, sonst kommen sie in die Speichen!" Die Beine immer oben halten, finde ich ganz schön anstrengend.

    Zack, da ist es auch schon geschehen und Papa macht eine Vollbremsung, dass der Staub vom Weg aufwirbelt. Beinahe wäre ich über den Papa hinweg geschleudert worden, so schnellte das Hinterrad mit mir in die Höhe. „Himmel Arsch und Zwirn!", Papas Donnerstimme saust durch mich durch. Ich habe etwas Schlimmes angestellt, ja – aber Papas Wut ist schlimmer zu ertragen. Mein Fuß ist arg zugerichtet. Jetzt hat Papa große Mühe, ihn aus den Speichen zu bekommen mit all dem Groll in seinem Bauch. Außerdem steht das Fahrrad gefährlich nahe am Kanalrand. Die schräge Kanalwand ist nur einen Schritt entfernt und ich kann hinunter ins Wasser blicken. „Papa, schieb das Fahrrad vom Wasser weg!" rufe ich, denn ich befürchte samt Papa und Fahrrad da hinein zu rutschen. „Keine Angst, ich muss erst einmal deinen Fuß befreien! – „Nein Papa, hier ist es zu gefährlich! – „Sei endlich still!" Es gestaltet sich schwierig, meinen Fuß aus den Speichen zu bekommen, aber ich kann da nicht einfach still sein, denn das Fahrrad will schon rutschen. „Papa, Papa, Papa! Bitte schieb das Rad weg vom Wasser! – „Lass mich hier machen! Du sollst endlich ruhig sein! – „Nein Papa, ich weine auch nicht, bitte Papa! Je ne pleur pas! Je nepleur pas!", bettele ich weiter. „Bring das Fahrrad auf die andere Seite vom Weg!" Endlich wird der Papa vernünftig und hebt das Rad mit mir und meinem Fuß im Hinterrad auf die andere Wegseite, wo es im grünen Gras halt findet. Ich bin erleichtert, so kann der Papa sich besser um meinen Fuß kümmern. Es braucht einige Zeit, bis mein Fuß frei kommt. So schiebt Papa den Rest des Weges mit mir nach Hause.

    Das war ein hartes Stück Arbeit mit dem sturen und laut schimpfenden Papa! Da fängt es in mir leise an zu dämmern und ich sehe einer schweren Zeit entgegen mit der Mama und diesem Papa. „Ach, da kullern dir doch die Tränen", stellt Papa nun freundschaftlich fest. Wütend ist er jetzt nicht mehr. Leise wimmere ich vor mich hin, denn der Fuß an dem die blutigen Hautfetzen herunter hängen, schmerzt doch sehr. „Wird mein Fuß wieder gesund? – „Darauf kannst du dich verlassen! Es sind schon schlimmere Dinge wieder heil geworden! Zu Hause angekommen ist Mama entsetzt und zugleich schrecklich hilflos, wie sie da meinen kaputten Fuß erblickt. „Mama", höre ich mich sagen, „Es wird schon alles wieder gut werden! Der Fuß wird wieder gesund! Ganz bestimmt! Bitte Mama, glaub mir das!"

    Anmerkung: Von der Fußverletzung ist, bis auf den heutigen Tag, eine breite Narbe zurückgeblieben, vom Knöchel bis zur Fußmitte.

    Die Stadtwohnung

    1958

    (Die Erzählerin ist 5 Jahre)

    Papas Arbeitsstelle in Lyon wurde gekündigt und er hatte große Mühe eine neue Stelle in der Stadt zu finden. Auf dem Firmengelände, auf dem unser Häuschen steht, dürfen wir nicht mehr wohnen. Deutsche Ausländer sind extrem verachtet. In Frankreich ist eine große Arbeitslosigkeit eingetreten. Mama und Papa blicken wehmütig zurück, als wir den schmalen Trampelpfad zum Kanal ein letztes Mal gehen und wir unserem kleinen Häuschen für immer „Lebewohl" sagen.

    Die neue Wohnung hat ein großes Zimmer. Wir betreten einen kleinen Flur. Durch eine große Glasscheibe blicken wir links in eine rundum weiß geflieste Küche ohne Fenster, die auf Mama kühl und ungemütlich wirkt. Tageslicht kommt von einem Fenster rechts oben im Flur. Im Wohnzimmer ist es dunkel, weil das große schwarze Nachbarhaus nur wenige Schritte entfernt steht. Im angrenzenden schmalen Raum dürfen Jenny und ich schlafen. Jennys Bett steht rechts vom Eingang an der Wand zu einem dunklen Fenstern hin, mein Bett steht auf der linken Seite, wo das Tageslicht noch spärlicher hinkommt. „So schlecht ist die Stadtwohnung doch gar nicht!", tröste ich Mutti. „Mit elektrischem Licht ist es auch gar nicht mehr so dunkel hier. " „Elektrisches Licht ist nur für die Winterabende", sagt Mama.

    Mit Danielle, die direkt neben uns auf einer anderen Etage wohnt, habe ich mich schnell angefreundet. Sie geht auch mit mir in den Kindergarten. Sie hat eine kleine elektrische Nähmaschine. Darauf hat sie mich einmal nähen lassen. Die Schlingennaht an dem Puppenkleidchen lässt sich aber ganz leicht aufribbeln. Papa möchte mir aber bald eine große Nähmaschine kaufen, die mit Unterfaden nähen kann.

    Wir haben auch einen elektrischen Plattenspieler. Meine Eltern haben sich eine kleine Sammlung von Schallplatten mit klassischer Musik zugelegt. Kinder- und Weihnachtslieder sind auch dabei. Mama lässt mich die Peer Gynt Suite auflegen. Dazu muss ich ganz vorsichtig die kleine Nadel am Ende des Auflegers auf die sich drehende schwarze Platte setzen. Wenn das nicht gelingt, gibt es einen Kratzer über die feinen Rillen und dann hört man immerzu „Knack – Knack – Knack", wenn die schöne Musik spielt. „Voila – es geht", die Musik spielt und es klingt mächtig und schön und ich kann mir gut vorstellen, wie der Bergkönig durch seine Höhle stampft. Ich finde es lustig und geheimnisvoll zugleich, wie der kleine weiße Hund vor dem großen Trichter des Grammophons, auf dem runden Etikett in der Mitte der Schallplatte, sich um den kleinen silbernen Stift dreht.

    Wir waren auch schon ein paar mal im Kino. Kleine Kinder dürfen in Begleitung ihrer Eltern mit. An einen Film kann ich mich noch gut erinnern: „L’eau vive" (Wildwasser). Der Film handelte von einer Überschwemmungskatastrophe. Allein zurück geblieben und eingesperrt in einem Holzhaus hämmerte eine schöne Frau mit einem Besenstiel in panischer Angst auf dem hölzernen Boden herum. Das Wasser stieg und stieg. Dann stürzte sie sich in die Fluten. Sie konnte noch gerettet werden. Ich hatte fürchterliche Angst um sie gehabt!

    Der Kindergarten

    1958

    (Die Erzählerin ist 5 Jahre)

    Außer, dass wir immer sehr lange im Kindergarten sein müssen,

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