Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Mitteleuropa revisited: Warum Europas Zukunft in Mitteleuropa entschieden wird
Mitteleuropa revisited: Warum Europas Zukunft in Mitteleuropa entschieden wird
Mitteleuropa revisited: Warum Europas Zukunft in Mitteleuropa entschieden wird
eBook264 Seiten2 Stunden

Mitteleuropa revisited: Warum Europas Zukunft in Mitteleuropa entschieden wird

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Heute existieren zwei große Ansichten zu Mitteleuropa. Für die einen ist es die größte europäische Erfolgsgeschichte der letzten Jahrzehnte, weil eine friedliche, vollständige Transformation zu Demokratie und Marktwirtschaft und die Eingliederung in die westeuropäischen Wirtschafts- und Sicherheitsstrukturen gelungen sind. Für die anderen ist Mitteleuropa zu einer fragmentierten und teilweise marginalisierten Region geworden, aus der keine Vorschläge für Europas Zukunft kommen, die sich in der Migrationskrise unsolidarisch verhält und in der politische Stabilität nur um den Preis starker nationalpopulistischer Politik zu erreichen ist.
1986 veröffentlichten Erhard Busek und Emil Brix das Buch "Projekt Mitteleuropa", das eine verbindende, grenzüberschreitende Utopie in einer Welt der feindseligen Extremismen präsentierte. Für viele Dissidenten in Ostmitteleuropa war diese Idee eine Chiffre der Hoffnung gegen das von Moskau gelenkte System, bis 1989 der Eiserne Vorhang fiel. Es scheint, dass Europa heute ein neues Nachdenken über Mitteleuropa braucht, um zu sich und zur Vernunft zu kommen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum5. März 2018
ISBN9783218011198
Mitteleuropa revisited: Warum Europas Zukunft in Mitteleuropa entschieden wird
Autor

Erhard Busek

Geb. 1941, 1975-76 Generalsekretär der Österreichischen Volkspartei, 1976-1978 Stadtrat in Wien, 1976 - 1987 Landeshauptmann Stellvertreter und Vizebürgermeister von Wien, 1989-1994 Bundesminister für Wissenschaft und Forschung, 1991-1995 Vizekanzler der Republik Österreich und Bundesparteiobmann der Österreichischen Volkspartei, seit 1995 Vorsitzender des Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa, seit November 1996 Koordinator der Southeast European Cooperation Initiative, seit 2000 Regierungsbeauftragter der österreichischen Bundesregierung für EU-Erweiterungsfragen und Präsident des Europäischen Forum Alpbach, seit 2002 Sonderkoordinator des Stabilitätspaktes für Südosteuropa, Visiting Professor an der Duke University in North Carolina.

Mehr von Erhard Busek lesen

Ähnlich wie Mitteleuropa revisited

Ähnliche E-Books

Weltpolitik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Mitteleuropa revisited

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Mitteleuropa revisited - Erhard Busek

    1. KAPITEL

    Wo die Niederlage des Kalten Krieges begann

    Der Aufbruch und was daraus wurde

    Es gehört zum vernachlässigten europäischen Realitätssinn, Mitteilungen an die Zukunft mit einem Erinnern an die Geschichte zu beginnen. In den Zeiten des Kalten Krieges konnte man eigentlich nicht erwarten, dass die radikale politische Teilung Europas in Ost und West von einem abstrakten Begriff wie »Mitteleuropa« infrage gestellt würde. Und dennoch war es der intellektuelle Protest gegen die künstliche Teilung des mitteleuropäischen Kulturraumes, der die revolutionären Ereignisse von 1989 vorbereitet hat.

    1989 ist in Europa innerhalb von wenigen Monaten eine »Zweite Welt« untergegangen. Der reale Sozialismus des Ostens war bereits Jahrzehnte davor weder als Idee noch in seiner praktischen Umsetzung konkurrenzfähig mit dem Westen. Aber erst als selbst in der Hegemonialmacht Sowjetunion mit Perestroika und Glasnost anstelle von gesellschaftlicher Repression auf Reform gesetzt wurde, waren die bürgerlichen Revolutionen im bis dahin totalitär geführten Ostblock vorprogrammiert. Die Vorstellung einer den Eisernen Vorhang überschreitenden mitteleuropäischen Lebenswelt hat dabei den Dissidenten im Osten, ihrem Freiheitswillen und dem Wunsch nach liberalen Bürgerrechten ein gemeinsames Motto gegeben.

    Damals wurde ein neues Europa aus der Taufe gehoben und in Europa plötzlich wieder Weltgeschichte geschrieben. Teilnehmende Beobachter wie der britische Historiker Timothy Garton Ash sprachen vom Wehen des »Zeitgeistes« und von einem »magischen Jahr«. Es war ein Anfang voller Euphorie, der sogar manche vom Ende der Geschichte, also vom endgültigen Sieg von Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft, sprechen ließ.

    Als im Frühjahr 1989 an der österreichisch-ungarischen Grenze der Eiserne Vorhang durchschnitten wurde und im Herbst die Berliner Mauer fiel, schien die Weltgeschichte im Zeitraffer abzulaufen. Alles, was bis dahin im Kalten Krieg in eine westliche und eine östliche Wirklichkeit geteilt war, schien sich über Nacht aufzulösen. Diese intellektuelle Euphorie reichte für die Gründung neuer Staaten, für die rasche Etablierung liberal-demokratischer Institutionen und mit Verzögerung für die Integration weiter Teile des Ostens in europäische und transatlantische Strukturen. Tatsächlich sind aber heute, mehr als ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des Kalten Krieges und der ideologischen Teilung Europas, die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Folgen von Jahrzehnten erzwungener Trennung noch lange nicht überwunden. Die aktuellen europäischen Krisen der Solidarität, von der Flüchtlingsverteilung bis zu den klassischen Fragen der Umverteilung zwischen Arm und Reich, machen die Unterschiede wieder deutlich.

    Die Träume, Hoffnungen und Überraschungen von 1989 sind längst Geschichte. Wie lässt sich begreifen, dass sich vor dem friedlichen und fast lautlosen Verschwinden des Eisernen Vorhangs und der Berliner Mauer niemand vorstellen konnte, dass die Teilung Europas jemals überwunden würde, und dass sich heute fast niemand mehr vorstellen kann, dass die Mitte Europas beinahe 50 Jahre von einer unüberwindlichen Grenze zerschnitten war?

    Zumindest für die Staaten entlang dieser ehemaligen Teilungslinie Europas hängt dies wohl entscheidend damit zusammen, dass nach 1989 der Protestbegriff »Mitteleuropa« nicht in eine Strategie für langfristige Zusammenarbeit und gemeinsame Interessenvertretung innerhalb Europas verwandelt wurde. Die ehemaligen Ostblockstaaten waren mit ihrer nationalen Transformation, der Annäherung an Westeuropa und dem Aufbau eines neuen Selbstverständnisses beschäftigt. Deutschland konzentrierte sich auf die Wiedervereinigung, die nicht mitteleuropäisch, sondern mit der Idee der nationalen Einheit begründet wurde. Italien war politisch zu schwach, um mehr als eine eher symbolisch gemeinte »Zentraleuropäische Initiative« zu entwerfen. Und Finnland, Schweden und Österreich ging es in erster Linie um die Chance, nun zügig EU-Mitglied werden zu können, also um Westpolitik. 1989 ging in Europa nicht nur der Kommunismus als Alternativmodell, sondern auch die Nachkriegszeit zu Ende.

    Im Westen Europas schien sich wenig geändert zu haben, außer dass neue Märkte zugänglich wurden und Migranten aus dem Osten ein zusätzliches Arbeitskräftepotenzial bedeuteten. Im Osten musste alles neu erdacht werden. Transformation und der als Rückkehr nach Europa bezeichnete Wunsch nach Teilnahme an der europäischen Integration wurden zur Motivation für die erst im Entstehen begriffenen neuen Mittelschichten.

    Es wurde rasch klar, dass die großen Ideen und Namen des Jahres 1989 das Schicksal aller revolutionären Erneuerungen erfahren würden. Sie waren gut für die Revolution, aber weniger geeignet für die folgenden Mühen der Ebene. Selbst die zentralen Symbolfiguren wie Lech Wałęsa, Václav Havel und Michael Gorbatschow waren bereits zehn Jahre später nur mehr historische Personen oder erfüllten bestenfalls noch politische Repräsentationsfunktionen. Begriffe wie Perestroika, Mitteleuropa, Solidarität, Eiserner Vorhang oder Berliner Mauer wurden von konkreten Zielsetzungen wie EU-Beitritt und NATO-Mitgliedschaft abgelöst.

    Die handelnden Personen und die Interessenlagen sind heute ganz andere als im Wendejahr 1989 und es sieht längst nicht mehr die ganze Welt, ja selbst nicht einmal mehr ganz Europa, auf die heroischen Erfolge der Generation von 1989. Aber für Mitteleuropa lohnt sich der Blick auf die eigene Geschichte, weil er die Voraussetzung für vernünftiges politisches Handeln nach dem Ende der europäischen Nachkriegszeit und der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts darstellt.

    Definitionen des Begriffs Mitteleuropa

    »Mitteleuropa« wird seit der Mitte des 19. Jahrhunderts als politischer, kultureller und wirtschaftsgeografischer Begriff verwendet, der eine geografisch bestimmbare Region zwischen dem Westen und dem Osten Europas beschreibt. Seine Definition ist stets kontextbezogen und daher abhängig von den jeweils vorherrschenden kulturellen und politischen Vorstellungen über die innere Gliederung Europas. In historischer Perspektive konkurrieren dabei geopolitische Vorstellungen eines deutschen Einflussbereiches im östlichen Europa mit kulturellen Überlegungen einer historisch gewachsenen, gemeinsamen Interessenlage der kleineren Völker zwischen deutschen und russischen Hegemonialansprüchen. Von Krakau bis Temeswar und von Triest bis Lemberg wird der Begriff auch mit der kulturellen Vielfalt der Habsburgermonarchie vor dem Ersten Weltkrieg verbunden.

    Das bis heute überwiegende Begriffsverständnis orientiert sich aber nicht primär an den wirtschaftlichen, geografischen und historischen Dimensionen, sondern an der Verwendung des Begriffs als Metapher für den intellektuellen Protest gegen die ideologische Ost-West-Teilung Europas vor 1989. Das Stichwort »Mitteleuropa« stand vor 1989 für ein relativ klares intellektuelles Konzept, das Dissidenten hinter dem Eisernen Vorhang als Ausdruck des kulturell-politischen Protests gegen die »Sowjetisierung« der Gesellschaften östlich der ideologischen Teilungsgrenze Europas einsetzten und das in Staaten wie Österreich und Deutschland zu Diskussionen über die Zulässigkeit und die Konsequenzen des Zulassens von verdrängten »historischen Horizonten« führte. Besonders in Oberitalien und in Österreich bedeutete Mitteleuropa, auf den Verlust eines gemeinsamen historischen Bewusstseins, auf die Marginalisierung der Mitte durch nationale Grenzziehungen hinzuweisen. Seit dem Ende der ideologischen Teilung Europas wird Mitteleuropa im öffentlichen Diskurs und in der Politik in Österreich, Slowenien, Kroatien, Ungarn, der Slowakei, Tschechien und Polen zunehmend unbestritten als Merkmal des eigenen nationalen Selbstverständnisses und als außenpolitisches Prinzip verwendet.

    Die Charakterisierung Mitteleuropas als gemeinsamer Geschichtsraum enthält zahlreiche definitorische Unschärfen und Untiefen. Dabei wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass diese Schwierigkeiten für sich genommen schon zu den zentralen Charakteristika dieser historischen Mittler- und Übergangsregion zählen. Mitteleuropa lässt sich weder geografisch exakt abstecken noch überzeitlich als ein Kontinuum begreifen, sondern nur in bestimmte Epochen fassen und vornehmlich in kulturellen Prägungen nachweisen. Vom Prager Frühling 1968 bis zur Samtenen Revolution 1989 diente der Begriff vor allem als Metapher für den Protest gegen eine zunehmend als brüchig erscheinende, eindeutige weltanschauliche Teilung Europas in Ost und West.

    Geografisch ist Mitteleuropa der zentrale Teil Europas, dessen Abgrenzung durch die verschiedenen Ansätze – physisch-geografisch, historisch-politisch, kulturlandschaftlich – unterschiedlich und nicht immer in Übereinstimmung mit dem Selbstverständnis der betroffenen Staaten erfolgt. Als Kernregion gelten Österreich, Polen, die Tschechische Republik, die Slowakei, Ungarn, Slowenien und Kroatien. Weder die Abgrenzung gegen Westen (Deutschland, die Schweiz und Liechtenstein) noch gegen Osten und Südosten (Litauen, Belarus, Moldawien, Ukraine und alle südosteuropäischen Staaten) ist eindeutig festzulegen.

    Neben dem Terminus Mitteleuropa finden sich in der Fachliteratur auch Begriffe wie Zentraleuropa, Zwischeneuropa, Ostmitteleuropa und Donauraum. Grund dafür mag die wiederholte Politisierung des Begriffs Mitteleuropa sein: von der Gleichsetzung mit dem mittelalterlichen Heiligen Römischen Reich über Vorstellungen einer »deutschen Kulturmission« und später der deutschen »Lebensraumideologie« und dem Bild vom »Schlachtfeld der nationalen Chauvinismen« bis zum habsburgischen Vielvölkerstaat und nach dem Zweiten Weltkrieg der ideologischen Frontlinie des Kalten Krieges.

    Zum negativen politischen Schlagwort hat jedenfalls der liberale Denker Friedrich Naumann Mitteleuropa gemacht. Seine 1915 im Buch Mitteleuropa vorgestellten Ideen für eine föderale Vereinigung mit Deutschland und den deutschsprachigen Gebieten der Österreichisch-Ungarischen Monarchie im Zentrum waren wirtschaftspolitisch gedacht und sollten eine deutsche Dominanz in der Region sichern. Geografische Parameter nehmen in seinen Betrachtungen nur eine untergeordnete Stellung ein. Naumanns Konzept wurde nach Ende des Ersten Weltkriegs und dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie 1918 verworfen. In der Zwischenkriegszeit konkurrierten Ideen für ein »deutsches Mitteleuropa« mit Ideen einer Föderation der kleinen Staaten zwischen Deutschland und Russland.

    In der europäischen Neuordnung nach 1945 wurden sowohl Ideen einer deutschen Beteiligung an Mitteleuropa-Konzepten als auch Vorstellungen einer Föderation der mitteleuropäischen Kleinstaaten von der politischen Ost-West-Teilung Europas (getrennt durch den Eisernen Vorhang) abgelöst. Erst mit dem wachsenden intellektuellen Widerstand im geografischen Osten Europas gegen eine »Veröstlichung« der Gesellschaft wurden mitteleuropäische Konzepte einer auf Geschichtsbewusstsein und kreativer kultureller Vielfalt beruhenden Region wieder attraktiv. Auch die Beschreibung der multinationalen Habsburgermonarchie als »Völkerkerker« verschwand östlich des »Eisernen Vorhangs« zunehmend aus dem Argumentationsrepertoire, ja, die Donaumonarchie wurde im Protest gegen die realsozialistischen Regime teilweise so weit idealisiert, dass sie Oppositionellen als Argument für ihre Forderungen nach liberalen Freiheitsrechten dienen konnte. Zwischen dem Prager Frühling von 1968 und dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime im östlichen Teil Europas brachte der Begriff »Mitteleuropa« den intellektuellen Protest gegen die Teilung Europas in einen scheinbar eindeutigen Westen und eindeutigen Osten zum Ausdruck. Mitte der 1980er-Jahre schrieb der tschechische Schriftsteller Milan Kundera von der »Tragödie Mitteleuropas« als von den Sowjets gekidnapptem Teil des Westens, Václav Havel forderte das »Leben in der Wahrheit« und György Konrád schlug als Rezept gegen den realen Sozialismus eine liberal-bürgerliche »Antipolitik« vor, heute würden wir von einer aktiven Zivilgesellschaft sprechen.

    Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs entstanden zahlreiche grenzüberschreitende Projekte, Initiativen und Organisationen, die die Öffnung der ehemals kommunistischen Staaten zum Westen und deren Orientierung an diesem förderten, aber auch die Mitteleuropa-Idee aufgriffen. Politisch relevant wurde darunter nur die »Visegrád-Kooperation« (V4) von Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn, aber dies auch erst nach dem EU-Beitritt dieser Staaten. Heute dient der Begriff Mitteleuropa überwiegend als Begründung für einen engen Kulturaustausch, für grenzüberschreitende wirtschaftliche Zusammenarbeit möglichst unter Einschluss der Balkanstaaten und für die Idee eines politischen Bemühens um eine gemeinsame Vertretung der nationalen Interessen der EU-Staaten der Region. Gleichzeitig wird er immer wieder als kulturelle Argumentation für die europäischen Integrationsbemühungen von Staaten wie Serbien und der Ukraine herangezogen. Mitteleuropa bleibt ein Thema, wenngleich nicht als politische Formation, aber zweifellos als Inhalt europäischer Identität.

    Der schwierige Umgang mit den Nachbarn

    Für Europa sind die historischen mitteleuropäischen Erfahrungen des Widerstandes gegen Totalitarismus von aktueller realpolitischer Relevanz. Wie können Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft in Zeiten der Globalisierung gesichert werden, ohne dass dies gleichzeitig in neuen und alten Demokratien zu einer Entsolidarisierung in der Gesellschaft und zu nationalstaatlichem Populismus in der Politik führt? Offene Gesellschaften brauchen eine politische Ethik, die es möglich macht, Pluralität als Wert anzuerkennen und »Vertrauenskapital« in einer Gesellschaft und besonders zwischen Nachbarstaaten aufzubauen.

    Die Erinnerung an die ideologische Teilung des Kontinents und die im kommunistischen Teil Europas damit verbundene Leugnung von Traditionen einer offenen Gesellschaft ist heute nicht überholt. Für eine gute Nachbarschaft in diesem nun »postheroischen« Teil des Kontinents ist der Begriff Mitteleuropa wertvoll. Nach bereits mehreren Jahrzehnten der Transformation sehen wir, dass innenpolitischer Populismus und Nachbarschaftsprobleme kein »Privileg« der Kommunisten waren, sondern Ausdruck der komplizierten mitteleuropäischen Lage sind, die es in jeder Zeit nahelegen, in diesem Raum in grenzüberschreitendes Vertrauen zu investieren.

    Als Protestbegriff scheint »Mitteleuropa« seine Funktion erfüllt zu haben und seine Untersuchung kann den Zeithistorikern und Feuilletonisten überlassen werden. Heute sind die Kernregionen Mitteleuropas und fast der gesamte Donauraum Teil der Europäischen Union. Gerade deshalb brauchen wir aber Initiativen für gemeinsame mitteleuropäische Projekte und für gemeinsame Perspektiven, weil die Chancen der einzelnen Staaten im wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben von der Fähigkeit zur Zusammenarbeit in der Region und nicht von einem Rückzug auf die liberal-nationalen Politikvorstellungen der Zeit vor der ideologischen Teilung Europas 1945 abhängig sind. Die deutlichste Antwort ergibt sich aus der Sicht der anderen auf diese Region und aus den merkwürdigen Kontinuitäten der Zuordnung. Zumindest seit dem Mittelalter besteht die Tradition und Vorstellung, dass Mitteleuropa eine »Peripherie des Westens« sei. Von 1945 bis 1989 galt Mitteleuropa (mit Ausnahme Österreichs) als Teil des »Ostens«. Kommt jetzt wieder eine lange Phase, in der die Mitteleuropäer zum Rand Westeuropas werden und dabei – wie Péter Esterházy schrieb – höchstens die Rolle als »Störenfriede« zugewiesen bekommen, die am Wohlstand partizipieren wollen? Die Städte und Staaten dieser Region besitzen Traditionen, sich gleichzeitig als Zentrum und als Peripherie fühlen zu können. Schließlich besteht Mitteleuropa vor allem aus Peripherie, und immer wieder verschobene Grenzen haben jedem Ort eine Erinnerung als Peripherie gegeben. Es geht um das Akzeptieren der realpolitischen Erfahrung, dass die Identität und Position der mitteleuropäischen Staaten immer ein Ergebnis ihres Verhältnisses zu den Nachbarn ist, weil dieses einen wesentlichen Teil der »eigenen« Geschichte ausmacht. Die lange Liste der historisch bedingten Nachbarschaftsprobleme betrifft praktisch alle Staaten dieser Region und reicht vom Verhältnis zwischen Ungarn, der Slowakei und Rumänien, zwischen Rumänien und Bulgarien bis zum Verhältnis zwischen Polen und der Ukraine. Aber offenbar mental noch langfristiger wirkt die Trennung entlang des ehemaligen Eisernen Vorhangs. Wenn Politiker in Deutschland oder Österreich bei Diskussionen über innenpolitische Reformideen auf positive ausländische Modelle verweisen, sind dies weiterhin praktisch ausschließlich Verweise auf Modelle in westeuropäischen Staaten. Dies hängt wohl ganz zentral damit zusammen, dass erstens zu wenig Interesse an den strukturellen Entwicklungen im »Osten« besteht und dass zweitens diese Politiker keine positiven Beispiele aus dem ehemals kommunistischen Osten heranziehen wollen, um nicht von den Medien und den parteipolitischen Konkurrenten reflexartig sofort dafür kritisiert zu werden.

    Das Aufeinanderzugehen braucht aber politische Unterstützung. Václav Havel hielt 1993 an der Universität Wien einen Vortrag über das historische und gegenwärtige Verhältnis der Tschechischen Republik und Österreich. Der Vortrag begann mit dem bemerkenswerten Satz: »Die Geschichte unseres mitteleuropäischen Raumes ist voll von Paradoxen.« Konkret meinte er die paradoxe Situation, dass Österreicher und Tschechen durch historische, kulturelle und menschliche Beziehungen eng verbunden sind und dennoch im 20. Jahrhundert kein Verhältnis entwickelt haben, das diese innere Verwandtschaft wenigstens teilweise ausdrückt.

    Der slowenische Schriftsteller Drago Jančar wendet sich daher in seinen politischen Essays gegen eine ausschließlich pragmatische Politik, die sich nur als »Service für das Ordnen gemeinsamer Angelegenheiten« versteht: »Allein die Kreativität, ja, auch die künstlerische, bietet eine Zuflucht vor den absurden Ideen der Flachköpfe. Vor ihrer analytischen

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1