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Die neuen Asiaten: Ein Generationenwechsel und seine Folgen
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Die neuen Asiaten: Ein Generationenwechsel und seine Folgen
eBook496 Seiten5 Stunden

Die neuen Asiaten: Ein Generationenwechsel und seine Folgen

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Über dieses E-Book

Der Generationenwechsel, der aktuell in Asien vonstattengeht, betrifft uns alle. Der langjährige Asienkenner Urs Schoettli wirft einen neuen Blick auf die Veränderungen und Konstanten, die s ich im Übergang der politischen und wirtschaftlichen Macht von der 68erGeneration auf deren Kinder und Enkel ergeben sowie die daraus resultierenden kulturellen und sozialen Folgen. Es handelt sich um die drei Generationen der zwischen 1930 und 1945, zwischen 1946 und 1970 und nach 1971 Geborenen. Gegliedert wird das Thema in die Vorgeschichte von China, Korea, Japan, Südostasien, Indien, Pakistan u. a., dann in die Zeitgeschichte der drei Generationen, in die wirtschaftlichen, sozialen, geopolitischen und demografischen Rahmenbedingungen sowie in die Konsequenzen, die der Generationenwechsel in Asien für Europa und die Welt haben wird.
SpracheDeutsch
HerausgeberNZZ Libro
Erscheinungsdatum1. März 2013
ISBN9783038239734
Die neuen Asiaten: Ein Generationenwechsel und seine Folgen

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    Buchvorschau

    Die neuen Asiaten - Urs Schoettli

    Urs Schoettli

    Die neuen Asiaten

    Ein Generationenwechsel und seine Folgen

    Verlag Neue Zürcher Zeitung

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

    in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

    sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    © 2013 Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich

    Der Text des E-Books folgt der gedruckten 1. Auflage 2013 (ISBN 978-3-03823-826-3).

    Titelgestaltung: GYSIN [Konzept+Gestaltung], Chur

    unter Verwendung der Abbildungen «Businessman and businesswoman having discussion» © ispstock2, Fotolia.com und «Hong Kong Victoria Harbour» © rabbit75_fot, Fotolia.com

    Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

    Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts.

    ISBN E-Book 978-3-03823-973-4

    www.nzz-libro.ch

    NZZ Libro ist ein Imprint der Neuen Zürcher Zeitung

    Mit Dank an Thomas Schmidheiny, dessen grosszügige Unterstützung dieses Buch ermöglicht hat.

    In memoriam Hans-Ulrich Doerig

    Vorwort

    Der Generationenwechsel gehört seit Urzeiten zu den wichtigsten Zäsuren einer jeden Gesellschaft. Dabei pflegen Nostalgie und Pessimismus ebenso wie Zukunftsverheissungen und Hoffnungen für den Anbruch eines neuen Zeitalters eine grosse Rolle zu spielen. Seit der griechischen Antike kennen wir Klagen über die Unbotmässigkeit der Jugend. Im 20. Jahrhundert haben wir mehrere Katastrophen erleben müssen, weil weltfremde Ideologien eine total neue Gesellschaft schaffen wollten.

    Seit einigen Jahren sind wir von den rasanten Entwicklungen in Asien fasziniert. Mit Erstaunen, Begeisterung und zuweilen auch Furcht wird vor allem der Wiederaufstieg des Reichs der Mitte verfolgt. Es sind für uns fremde Welten und ferne Zivilisationen, die in unser Blickfeld gerückt sind. Umso wichtiger ist es, dass wir unsere Kenntnis über das, was die Menschen auf dem ausserordentlich vielfältigen asiatischen Kontinent antreibt, erweitern. Nur so können wir adäquat die Chancen, aber auch die Risiken ermessen, die sich für die Menschheit im asiatischen Zeitalter präsentieren.

    Wichtige Einblicke in asiatische Mentalitäten kann uns der Generationenwechsel vermitteln, der derzeit in den meisten asiatischen Gesellschaften im Gange ist. Auch heute besitzen in Asien die Familie, der Clan einen sehr hohen Stellenwert. Allerdings beobachten wir wichtige Veränderungen bei den Lebenszielen und Werten der neuen asiatischen Mittelschichten, die auch aus demografischen Entwicklungen, Urbanisierung und Verwestlichung erwachsen. Noch ahnen wir erst in Ansätzen, welche Folgen die chinesische Ein-Kind-Politik haben wird.

    Wenn in diesem Buch über die neuen Asiaten philosophiert wird, so handelt es sich natürlich bei etlichen Aussagen um Vereinfachungen. Die Komplexität einer Gesellschaft lässt sich nie ausreichend erfassen. Angestrebt wird eine Übersicht über das, was sich bei der wichtigen Abfolge der Generationen unter den Eliten in Wirtschaft, Politik und Kultur abspielt oder abspielen könnte. Wir sehen dabei eine Entwicklung, die für den Westen den Umgang mit Asien sowohl schwieriger als auch bereichernder werden lässt.

    Mit dem neuen Asien, das im Entstehen begriffen ist, werden sich in der Zukunft vor allem die jüngeren Generationen, die vor der Übernahme von hoher und höchster Verantwortung in unserer Gesellschaft stehen, zu befassen haben. Sie haben den Umgang mit asiatischen Eliten zu lernen. Die jungen Asiaten sind Menschen, die sich nicht mehr mit den Verwundungen herumschlagen, die ihnen von den westlichen Kolonialmächten in den letzten zwei Jahrhunderten beigefügt wurden. Auch sind die Zeiten vorbei, da aufstrebende asiatische Länder begierig auf Anerkennung und Lob aus dem Westen waren. Heute begegnen sich Europäer und Asiaten auf Augenhöhe. Der im Gang befindliche Generationenwechsel wird diese Entwicklung noch beschleunigen. Eine faszinierende Zeit erwartet uns alle, und ich hoffe, dass möglichst viele junge Europäer mit offenem Visier und positiv gestimmt auf Asien zugehen werden.

    Thomas Schmidheiny

    Einleitung

    Das vorliegende Buch befasst sich mit dem Generationenwechsel, der im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts in Asien über die Bühne geht. Im Fokus stehen primär die Veränderungen und die Konstanten, die sich im Zusammenhang mit dem Übergang der politischen und wirtschaftlichen Macht von der Generation der 68er auf deren Kinder und Enkel ergeben. Darüber hinaus werden die kulturellen und sozialen Veränderungen beziehungsweise Konstanten beleuchtet, die aus diesem Generationenwechsel resultieren können. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um die drei Generationen der zwischen 1930 und 1945 Geborenen, der zwischen 1946 und 1970 Geborenen und der nach 1971 Geborenen.

    Die Begegnung des Westens, will heissen Europas und der USA mit Asien ist eine sehr komplexe Angelegenheit. Im Verlauf der vergangenen 500 Jahre wurden schwere Wunden verursacht, wobei in der Regel die westlichen Mächte die Täter und die Asiaten die Opfer waren. Vor allem vom 18. Jahrhundert an rückten mehrere europäische Mächte immer weiter nach Asien vor. Die schwersten Verletzungen fügten die Europäer und Amerikaner den Asiaten im 19. und im 20. Jahrhundert zu. Erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts und vor allem mit dem Einsetzen des 21. Jahrhunderts begannen sich die Verhältnisse grundlegend zu ändern.

    Begegnungen mit fremden Zivilisationen hinterlassen in der Regel bei den betroffenen Menschen Spuren, insbesondere dann, wenn es sich um keine friedlichen, sondern um gewaltsame Begegnungen, gar um Eroberungen gehandelt hat. Ein Beispiel ist die Begegnung von Christentum und Islam: Hier wirft der Ballast einer bis ins Mittelalter zurückreichenden Geschichte noch heute dunkle Schatten.

    Eine erfolgreiche Aufarbeitung des vergangenen Geschehens ist äusserst selten. In der jüngeren Geschichte stechen die deutsch-französische Versöhnung und der europäische Einigungsprozess als herausragende Beispiele einer erfolgreichen Abkehr von tief verankerten, jahrhundertealten Feindschaften hervor. Die von langen Jahren des äusseren Friedens, der inneren Stabilität und der wirtschaftlichen Prosperität verwöhnten Westeuropäer sollten im schwierigen 21. Jahrhundert den grossen Wert dieser Errungenschaften besser nicht vergessen.

    Ganz anders sehen die Dinge in Asien aus. Hier steht an mehreren akuten Krisenherden eine Aufarbeitung der Geschichte an. Dies gilt für die koreanische Halbinsel, wo noch immer kein den Koreakrieg endgültig beilegender Friedensvertrag abgeschlossen worden ist; es gilt für das japanisch-chinesische Verhältnis, auf dem nach wie vor die japanischen Kriegsverbrechen lasten; es gilt für das chinesisch-taiwanische Verhältnis, wo die Frage einer Wiedervereinigung nach wie vor ungelöst im Raum steht; und es gilt ganz besonders auch für die indisch-pakistanische Rivalität, die ungeachtet mehrerer Kriegsgänge noch immer einen der gefährlichsten Konflikte der Erde am Kochen hält.

    Die Vorgeschichte zur heutigen asiatischen Renaissance hat markante Spuren im kollektiven Gedächtnis der betroffenen Menschen hinterlassen. Aus unserer europäischen Erfahrung wissen wir, dass es einen entscheidenden Unterschied macht, ob jemand eine historische Zäsur selbst miterlebt hat oder ob er sie nur vom Hörensagen kennt. Man denke an die Weltkriegsgenerationen in Europa. In Asien finden sich durch verheerende Grossereignisse direkt geprägte Erfahrungen und Perzeptionen bei den beiden Generationen, die vor 1945 und vor 1970 geboren sind. Daneben wirken natürlich auch die über Dritte vermittelten Erfahrungen aus früheren Zeiten nach, bei denen sowohl Mythen als auch Geschichtsklitterungen zu verzerrten Wahrnehmungen führen können.

    Für den asiatischen Kontext sind fünf prägende Ereignisse auszumachen: Chinas Dekadenz und Erniedrigung; Indiens Dekadenz und Erniedrigung; Koreas Erniedrigung; Südostasiens koloniale Unterwerfung und schliesslich Japans Aufstieg zur modernen Industriemacht. All diese Entwicklungen haben tiefreichende Spuren hinterlassen und prägen die asiatische Wahrnehmung des Westens bis in unsere Tage hinein. Man denke etwa an die irritierte Reaktion von führenden Asiaten wie Malaysias ehemaligem Ministerpräsidenten Mohamad Mahathir oder Singapurs Elder Statesman Lee Kuan Yew auf westliche Kritik an den von ihnen propagierten asiatischen Werten. Die erwähnten fünf Entwicklungen haben aber auch entscheidend die Vorstellungen geprägt, welche die westliche Welt während der vergangenen zwei Jahrhunderte zu den wichtigen asiatischen Kulturen und Zivilisationen gehegt und gepflegt hat.

    Der Generationenwechsel, der in den kommenden Jahren Gestalt annehmen wird, verlangt vom Westen auch einen neuen Blick auf die Geschichte Asiens, vor allem auch in die Zeiten, als Asien noch nicht von den westlichen Kolonialmächten entdeckt, überfallen und ausgebeutet wurde. Die sogenannte «Weltgeschichte», die von den Schulen und Universitäten in Europa und in den USA seit Langem vermittelt wird, ist nicht wirklich eine Weltgeschichte. Zwar wird in der Regel das Geschehen jenseits der westlichen Welt behandelt, sogar in Spezialdisziplinen wie Sinologie, Japanologie und Indologie, die an den angesehenen europäischen, amerikanischen und australischen Universitäten mit gebührendem Stolz auf den damit verbundenen vorgeblichen Kosmopolitismus gelehrt werden. Doch im Wesentlichen reiht man noch immer das dortige Geschehen in eurozentristischer Manier nach den eigenen Kategorien ein. Dies gilt für die Epochen, beginnend bei der westlichen Zeitrechnung, ebenso wie für die Gegenstände und Ereignisse, die in der relevanten Forschung aufgegriffen werden.

    Natürlich ist es von zentraler Bedeutung, dass die asiatischen Sprachen gelehrt und studiert werden, doch muss bewusst sein, dass damit keine umfassende Asienkompetenz vermittelt wird und dass es jenseits linguistischer Besonderheiten weitere asiatische Spezifika gibt. Wir müssen im Westen endlich zur Kenntnis nehmen, dass es eine asiatische Geschichtsschreibung, eine asiatische Politologie, eine asiatische Geopolitik und eine asiatische Soziologie gibt. Alle diese Disziplinen mögen zwar die Instrumente nutzen, die in den vergangenen drei Jahrhunderten in Europa und in den USA entwickelt worden sind. Damit können aber auch Erkenntnisse gewonnen werden, die spezifisch asiatischer Natur sind und deshalb andere Akzente setzen, als wir dies mit unserem eurozentrischen Weltbild gewohnt sind.

    China

    Chinas verlorenes Jahrhundert

    Die Dekadenz der letzten chinesischen Kaiserdynastie, der mandschurischen Ch’ing-Dynastie, hatte bereits kurz vor dem Ende des 18. Jahrhunderts nach dem Abtritt des grossen Kaisers Qianlong eingesetzt. Als ersten Wendepunkt in Richtung Abstieg Chinas können wir den Ersten Opiumkrieg von 1839 bis 1842 bezeichnen. Die externe Erniedrigung des Reichs der Mitte, die mit der rund hundert Jahre später erfolgenden Besetzung grosser Teile Chinas durch die Japaner ihren Höhepunkt erreichen sollte, kam erst mit der bedingungslosen Kapitulation Japans im Sommer 1945 zu ihrem Ende. Sicher hat die 1949 gegründete Volksrepublik unter der Diktatur Mao Zedongs aus eigenem Antrieb und in eigener Verantwortung grosse Verheerungen über ihr Volk gebracht. Doch sind diese für die heute gängigen Geschichtsmythen, die mit Chinas Stellung in der Welt zu tun haben, kaum relevant, werden jedoch die chinesische Historiografie noch zu beschäftigen haben.

    China sieht sich seit alten Zeiten als Mitte der Welt. Je weiter ein fremdes Volk vom «Reich der Mitte» entfernt siedelte, desto geringer wurde sein zivilisatorischer Entwicklungsstand veranschlagt. Allerdings hat China nie die koloniale Expansion der europäischen Imperien mitgemacht. So sich Chinesen, wie zu den Zeiten von Admiral Zheng He (1371 bis ca. 1435), auf hohe See und an ferne Küsten begaben, nahmen sie keine kolonialen Besitzungen ein, sondern begnügten sich damit, dass die besuchten Völker dem Kaiser im fernen China als formale Oberhoheit huldigten.

    Die Kontakte Chinas mit dem Westen reichen in frühe Zeiten zurück. Davon zeugen die Geschichte der Seidenstrasse und der Austausch von Handelsgütern. Indien und vor allem Sri Lanka waren für den europäisch-chinesischen Handel wichtige Zwischenstationen. Die erste europäische Niederlassung auf chinesischer Erde erfolgte mit der Gründung des portugiesischen Aussenpostens Macau im Jahre 1516. Immerhin anerkannten die Portugiesen stets die chinesische Souveränität über das Territorium, das erst 1999 in Form einer Administrativen Sonderregion wieder an China zurückfallen sollte. Der portugiesische Nadelstich an der Südküste, der winzige Ableger einer schwachen Nation im fernen Europa am Rande des Reichs der Mitte, hat die Chinesen nie beunruhigt. Mit einem Handstreich hätten sie dem portugiesischen Spuk ein ruhmloses und rasches Ende bereiten können. Doch sollte sich Macau als Umschlagplatz für den chinesisch-japanischen Handel als nützlich erweisen.

    Erheblich weitreichendere Folgen hatte das Geschehen im 19. Jahrhundert. Die beiden Opiumkriege von 1839 bis 1842 beziehungsweise von 1856 bis 1860, die Nutzung von innerchinesischen Rivalitäten durch ausländische Mächte, beispielsweise während der Taiping-Rebellion von 1850 bis 1864, die chinesische Niederlage im Ersten Japanisch-Chinesischen Krieg von 1894 bis 1895, die Errichtung von sogenannten Konzessionen (extraterritoriale ausländische Präsenz) auf chinesischer Erde und die rege Missionstätigkeit christlicher Kirchen und Sekten untermauerten bei der chinesischen Intelligenz den Eindruck, dass sich die Ch’ing-Dynastie in einer terminalen Agonie befand und dass China durch auswärtige Mächte nach Belieben erniedrigt werden konnte.

    Es waren diese Erniedrigungen durch fremde Mächte, welche die Reformkräfte, die sich für ein neues China einsetzten, zu Anti-Konfuzianern und zu Nationalisten werden liessen. Konfuzius wurde von den reformbegierigen Kräften mit dem Ancien Régime gleichgesetzt, seine Lehre und seine Werte wurden als reaktionär verschrien. In der Tat hatte sich die Ch’ing-Dynastie, wie andere Dynastien zuvor, mit dem Konfuzianismus identifiziert, wobei sie jedoch nur das übernahm, was ihren Herrschaftszwecken diente. Nationalismus, kultureller Chauvinismus und Patriotismus waren unter den Erneuerern im Schwange, nicht nur weil auswärtige Mächte die Würde Chinas schwer verletzt hatten, sondern auch weil die die Ch’ing-Dynastie selbst eine verhasste Fremdherrschaft war. Die kleine Oberschicht der Mandschuren hatte für sich die exklusive Machtausübung beansprucht und gezielt die grosse Bevölkerungsmehrheit der Han-Chinesen erniedrigt. Ein klassischer Exponent der Verbindung von Antikonfuzianismus und Patriotismus war der spätere Gründer der Republik, Sun Yat-sen. Bei seinen wiederholten Versuchen, die Ch’ing-Dynastie zu stürzen, spielte nicht nur revolutionärer Eifer, sondern eben auch der Kampf gegen eine verhasste Fremdherrschaft eine zentrale Rolle.

    Mao Zedong war ebenfalls Anti-Konfuzianer, im Gegensatz zu Sun Yat-sen ermangelte es ihm aber an patriotischem Einsatz. So liess er den Kampf gegen die japanischen Besatzer primär vom Nationalistenführer Chiang Kai-shek und seinen Truppen führen. Die staatliche Neugründung nach dem Sieg der Kommunisten über die Nationalisten und deren anschliessende Vertreibung auf die Insel Taiwan, die von 1895 bis 1945 japanische Kolonie gewesen war, berief sich zunächst noch auf den kommunistischen Internationalismus. Doch schon bald nach dem Tod Stalins und der beginnenden Entstalinisierung in der Sowjetunion ging die wichtigste internationale Bindung der jungen Volksrepublik in die Brüche. In der Folge sollte Peking bis nach dem Tod Maos eine Politik der Isolation betreiben. Die wenige Jahre vor Maos Tod erfolgte Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Peking und Washington brachte zwar wichtige geopolitische Gewichtsverschiebungen in Gang, bedeutete jedoch keine umfassende Öffnung des Landes gegenüber der Aussenwelt.

    Tatsächlich interessierte sich Mao kaum für den Marxismus und den im westlichen Zivilisationskreis wurzelnden Kommunismus. Er fühlte sich dem Gründer der kurzzeitigen Qin-Dynastie (221 bis 206 v. Chr.), Kaiser Qin Shihuang, verwandt, der wiederum vielen Werten und Maximen der Legalisten die Treue hielt. Der Legalismus ist eine Staatsphilosophie aus der Zeit der streitenden Reiche, die von 475 v. Chr. bis zur Gründung der Qin-Dynastie, die das Reich unter einem Kaiser einte, anhielt. Diese Lehre setzte auf eine starke Führung und eine absolute, zuweilen auch grausame Herrschaft des Gesetzes. Nach Meinung der Legalisten sind die Menschen von Natur aus schlecht und nur mithilfe von strikten gesetzlichen Kodizes zu zivilisieren und vom Krieg aller gegen alle abzuhalten. Nur mit einer starken Obrigkeit, die ihre Macht auch mit brutalen Methoden ausübt, kann Frieden geschaffen werden.

    Nicht ohne Grund wurde der Legalismus während der Jahrhunderte der grossen Wirren, der sich bekämpfenden Reiche entwickelt. Mit der Verfolgung von Intellektuellen und mit Bücherverbrennungen waren seine Vertreter die frühen Vorläufer Mao Zedongs und der «Kulturrevolution». Auch Mao war schliesslich durch Zeiten grosser Wirren (Warlordismus, japanische Besetzung und Bürgerkrieg) hindurchgegangen und auch beim ihm hatte sich offensichtlich die Einsicht durchgesetzt, dass ein geeintes und souveränes China nur mit brutaler Unterdrückung zu schaffen und zu wahren sei.

    Geschichtsklitterung und Propaganda

    Chinas verlorenes 19. Jahrhundert bestärkte die dort lebenden Menschen, dass es die fremden Mächte waren, die das Land erniedrigen und auf alle Zeiten in der Rückständigkeit halten wollten. Um dieser Interpretation der Geschichte Glaubwürdigkeit zu verleihen, brauchte man nicht lange nach Beweisen zu suchen. Man musste nur an die von Briten und Franzosen betriebene Plünderung und Zerstörung des alten Sommerpalasts in Peking im Zweiten Opiumkrieg denken, an die rassistischen Diskriminierungen in den fremden Konzessionen, an die Interventionen ausländischer Mächte während der Taiping-Rebellion, während des Boxeraufstands und während des Bürgerkriegs, an die ungleichen Verträge, durch die China von den Briten um Hongkong und vom russischen Zarenreich um immense Flächen in Sibirien gebracht worden ist, an die japanischen Kriegsverbrechen, an den Plan der europäischen Kolonialmächte, China wie Afrika untereinander aufzuteilen – all dies eignet sich sehr gut zur Bildung von Mythen und Legenden.

    Die patriotische Aufarbeitung dieser Verwundungen wird auf immer in der chinesischen Geschichtsschreibung haften bleiben, auch wenn dereinst die aktuelle kommunistische Version ihre offizielle Allgemeinverbindlichkeit eingebüsst haben wird. Auch in der europäischen Historiografie konnten sich für den nationalen Zusammenhalt nützliche Mythen über Jahrhunderte hinweg trotz aller Zeitströmungen halten. Ein Beispiel ist der eidgenössische Mythos von Wilhelm Tell. Die wesentliche Frage lautet, was mit der praktischen Verwertung solcher Mythen geschieht, wenn die Generationen, die noch einen direkten Bezug zu ihnen haben, abgetreten sind. Im Falle der Volksrepublik betrifft dies alle Menschen, welche die Herrschaft Mao Zedongs selbst nicht direkt erlebt haben, will heissen all diejenigen Chinesen, die nach 1971 geboren sind.

    Das verlorene Jahrhundert wird also in der kollektiven Wahrnehmung von Chinas Schicksal weiter wirken, aber nicht mehr denselben emotionalen Stellenwert haben. Propagandisten werden sich sicherlich auch in Zukunft immer wieder der Mythen der Erniedrigung und Bedrohung Chinas durch ausländische Kräfte bedienen. Sie werden dies tun, wenn die Bevölkerung für die aussen- und sicherheitspolitischen Absichten Pekings mobilisiert werden soll oder wenn innen- und machtpolitische Motive im Spiel sind. Die sporadischen Spannungen mit Japan zeigen, wie dies in der Praxis aussehen kann: Man mobilisiert die öffentliche Empörung über ein tatsächliches oder vorgebliches Fehlverhalten der Japaner und dämonisiert sie als ein Volk, das aus der Geschichte nichts gelernt hat. Zuweilen mag man sogar Studenten grünes Licht für öffentliche Kundgebungen und Proteste geben, die Bewilligung aber rechtzeitig wieder entziehen, damit die KPC-Herrschaft nicht selbst ins Visier der Protestler gerät.

    Nach dieser Vorgeschichte, die wertvolles Material zum historiografischen Drama geliefert hat, geht es im Folgenden um die zeitgeschichtlichen Erfahrungen der heute in der Volksrepublik China lebenden Generationen. Dabei wird sich herausstellen, dass mit den althergebrachten Mythen einfacher umzugehen ist als mit dem zeitgenössischen Erfahrungshorizont. Dies betrifft insbesondere die kritische Aufarbeitung der Zeit von Mao Zedong und der Person des Grossen Vorsitzenden selbst. Hier sind handfeste Machtinteressen der KPC im Spiel und damit lässt sich nicht spassen.

    Zunächst ist eine grundsätzliche Anmerkung zum Geschichtsverständnis der heutigen chinesischen Führung anzubringen. Die KPC hat im Unterschied zur KPdSU nie dieselbe totale Verdammnis der vorrevolutionären Staatsgeschichte betrieben und sie einfach nach einem kommunistischen Propagandaschema abgehandelt. Die Menschen haben ein ziemlich ausgewogenes Verhältnis zur letzten Kaiserdynastie, sie kennen vorrevolutionäre Reformer wie die «Bewegung des 4. Mai», den Vater der chinesischen Republik, Sun Yat-sen, oder auch Reformer aus der Spätzeit der Ch’ing-Dynastie.

    Nach der Gründung der Volksrepublik hatten die Chinesen zunächst ein viel entspannteres Verhältnis zu ihrer Geschichte und ihrer uralten Kultur, als dies in der Sowjetunion gegenüber dem zaristischen Russland der Fall gewesen war. Dies hängt mit dem traditionellen Staats- und Kulturverständnis im Reich der Mitte zusammen, an dem auch die kommunistische Revolution letztlich nur wenig zu ändern vermocht hat.

    Bei allen dramatischen Brüchen, die China im 19. und 20. Jahrhundert zu bewältigen hatte, hat das Land einen bemerkenswerten Ausweis an kultureller Kontinuität aufzuweisen, was auch auf die grosse ethnische und sprachliche Kohäsion des chinesischen Staatsvolkes zurückzuführen ist. Ein besonders eindrückliches Beispiel für diese Kontinuität ist die Renaissance des Konfuzianismus seit Beginn des 21. Jahrhunderts. Die aussergewöhnliche Überlebenskraft des Konfuzianismus hat auch damit zu tun, dass es sich dabei eben nicht um eine Religion, sondern um eine tief in den Werten des chinesischen Kosmos verankerte Weisheitslehre handelt. Die simple Pflichtenlehre, die im Zentrum des konfuzianischen Weltbildes steht, benötigt keine aufwendige Dogmatik, keine Priesterschaft und keine heiligen Schriften. Sie beruht auf dem Fundament des Clans, der Grossfamilie.

    Wie bereits erwähnt ist mit der Zeit und vor allem mit dem machtvollen Wiederaufstieg Chinas die Last der Geschichte geringer geworden und zumindest gegenüber den westlichen Ausländern sind Groll und Verbitterung über geschehenes Unrecht in den Hintergrund getreten. Auch der Bürgerkrieg, dessen bis heute fortbestehendes Erbe die Sezession der Insel Taiwan vom Festland ist, ist inzwischen in den Hintergrund gerückt. Im Gästebuch der Geburtsstätte des Nationalistenführers Chiang Kai-shek, der 1949 nach der Niederlage mit seinen Getreuen vor Maos Kommunisten auf die Insel geflüchtet war, sind auch die Namen etlicher prominenter KPC-Vertreter aufgeführt. Chiang Kai-shek war der Hauptgegner von Mao Zedong und strebte auch, nachdem er den Bürgerkrieg auf dem Festland verloren hatte, weiterhin die Rückeroberung Chinas an. Zeitlebens bezeichnete sich Chiang als Präsident der Republik China. Aus der Sicht Pekings war und ist Taiwan eine «abtrünnige Provinz», welche die Verwirklichung des alten Traums eines geeinten Chinas verhindert. Immerhin besitzt aus chinesischer Sicht die einst von Chiang Kai-shek geführte Kuomintang (KMT), die mit Präsident Ma Ying-jeou seit 2008 in Taipeh wieder die Macht innehat, den Vorteil, dass sie wie die KPC ein geeintes China anstrebt. Demgegenüber erregen die Protagonisten einer unabhängigen Republik Taiwan, die sich vor allem in der Demokratischen Progressiven Partei (DPP), die mit Chen Shui-bian von 2000 bis 2008 den taiwanischen Präsidenten gestellt hatte, den besonderen Argwohn der Festlandchinesen.

    Der wirtschaftliche Aufstieg der urbanen Mittelschichten in der Volksrepublik hat für die meisten Menschen das Taiwan-Problem in den Hintergrund treten lassen. Ebenso scheint auf taiwanischer Seite der Enthusiasmus für eine nicht nur faktische, sondern auch formale und international anerkannte nationalstaatliche Eigenständigkeit verblichen zu sein. Die Taiwaner haben die wohl erfolgreichste demokratische Transition in Asien zustande gebracht und sich im Wohlstand und in der Kleinstaatlichkeit gemütlich eingerichtet. Taiwan gehört inzwischen zu den grössten und vor allem zu den erfolgreichsten Überseeinvestoren in der Volksrepublik. In China sind taiwanische Unternehmer gar beliebter als Hongkonger, die man allgemein als arrogant empfindet.

    Vorderhand bewegt sich in der Frage einer Wiedervereinigung der Insel mit dem Festland nichts Wesentliches. Aus Sicht der Falken in Peking sind bis zur Rückkehr Taiwans unter chinesische Souveränität das Erbe der ungleichen Verträge aus dem 19. Jahrhundert, das Erbe des Zweiten Weltkriegs und das Erbe des chinesischen Bürgerkriegs nicht bewältigt. Taiwan war nach dem japanischen Sieg im Ersten Japanisch-Chinesischen Krieg von 1894/95 japanische Kolonie geworden und erst nach der japanischen Kapitulation im August 1945 unter die Hoheit der Nationalisten von Chiang Kai-shek, der beim Ende des Zweiten Weltkriegs als Partner der Alliierten die Republik China geführt hatte, gelangt. Als der grosse chinesische Reformer Deng Xiaoping für Hongkong und Macau die Formel des «ein Land, zwei Systeme» entwickelte, hatte er natürlich auch Taiwan im Visier. Mit Blick auf den unterschiedlichen Status Taiwans, das im Gegensatz zu Hongkong und Macau keine Kolonie ist und über eine eigene Streitmacht verfügt, war Deng gegenüber Taipeh zu grösseren Konzessionen bereit, deren Realisierung wohl zur Formel «ein Land, drei Systeme» geführt hätte.

    Natürlich spielt sich auch in Taiwan ein Generationenwechsel ab, der ähnlich weitreichende Dimensionen hat wie in Festlandchina. In den vergangenen Jahren haben sich diejenigen Jahrgänge, die den Bürgerkrieg und die Zeiten, als sich die Insel unter akuter Bedrohung vom Festland befand und nahe der chinesischen Küste gelegene Inselchen unter anhaltenden rotchinesischen Artilleriebeschuss gerieten, noch selbst erlebt haben, aus Führungspositionen in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik zurückgezogen. Dasselbe gilt für Taiwaner, die als Erwachsene hinnehmen mussten, dass die Amerikaner ihre diplomatischen Beziehungen von Taipeh auf Peking (1979) verlagerten. Wichtiger als institutionelle und politische Veränderungen im Verhältnis zwischen China und Taiwan ist der Wandel in den persönlichen Beziehungen vieler, vor allem jüngerer Taiwaner. Die persönlichen, die emotionalen Verbindungen zum Land der Ahnen sind lockerer geworden, da diejenigen, die noch das gemeinsame Familienleben auf dem Festland vor der Flucht nach Taiwan im Kopf hatten, gestorben sind. Immer häufiger kommt sogar Misstrauen gegenüber gierigen festlandchinesischen Verwandten zum Vorschein, die sich zuweilen die emotionalen Bindungen handfest vergelten lassen.

    Taiwaner, die für eine Wiedervereinigung mit China sind, pflegen hervorzuheben, dass dies erst möglich sein werde, wenn es wie in Taiwan auch auf dem Festland eine funktionierende Demokratie und einen funktionierenden Rechtsstaat gibt. Man bedient sich dabei nicht mehr der Rhetorik des Kalten Krieges und manche sind auch bereit anzuerkennen, dass im neuen China nicht nur wirtschaftliche, sondern auch soziale und rechtliche Fortschritte gemacht worden sind. Gleichzeitig gilt es aber auch zu berücksichtigen, dass viele Taiwaner selbst unter demokratischen Bedingungen nicht mehr unter Pekings Kuratel zurückkehren wollen. Sie haben sich im Kleinstaat Taiwan gut eingerichtet. Sollte Taiwan in den nationalstaatlichen Verband der Volksrepublik zurückkehren, so wären die 23 Millionen Taiwaner in der chinesischen Riesenbevölkerung von 1,3 Milliarden Menschen eine kleine, verlorene Minderheit. Ob Demokratie oder nicht, es würde den Menschen der heutigen Inselrepublik schwerfallen, in Peking Gehör zu finden.

    Kehren wir zum Thema der offiziellen Geschichtsklitterung zurück, von der auch die zeitgenössischen Generationen nicht verschont werden. Hier haben wir es nicht mit Unrecht zu tun, das China von fremden Mächten zugefügt worden ist, sondern mit hausgemachten, selbst verursachten Verletzungen. Im Zentrum steht die Schicksalsfigur Mao Zedong. Eines steht fest und die Fakten sprechen eine überdeutliche Sprache: Mao gehört zu den grössten Verbrechern der Menschheitsgeschichte, auf Augenhöhe mit Hitler und Stalin! Wie diese hat er Dutzende von Millionen Menschenleben auf dem Gewissen. Im Unterschied zu Hitler und Stalin befindet sich Mao Zedong aber nach wie vor im Pantheon und an eine offene Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Grossen Vorsitzenden ist auch auf absehbare Zeit hinaus wohl kaum zu denken.

    Junge Chinesen und Menschen mittleren Alters können zu Mao Zedong selbstverständlich nicht die emotional geprägte Beziehung haben wie seine Zeitgenossen. Mao ist seit 1976 tot und der Konsumfetischismus der letzten eineinhalb Jahrzehnte hat vor allem unter den neuen urbanen Mittelschichten die Gedanken und Wertvorstellungen des Gründers der Volksrepublik in den Hintergrund gedrängt. Natürlich berufen sich Politiker in Grundsatzreden und Grundsatzpapieren weiterhin auf den Grossen Vorsitzenden als die wegweisende Referenzfigur, die nach wie vor auch über dem bedeutenden Reformer Deng Xiaoping thront. Immerhin anerkennt die offizielle Propaganda mittlerweile, dass Mao Zedong nicht fehlerfrei gewesen ist. Dessen ungeachtet gibt es innerhalb der Partei wie in der weiteren Bevölkerung viele, die nichts auf ihn kommen lassen wollen. Nicht jedermann will sich mit der Öffnung des Landes, mit den sozialen Veränderungen oder auch mit dem wachsenden Reichtumsgefälle zwischen einzelnen Bevölkerungsschichten und einzelnen Regionen des Landes oppositionslos zufriedengeben. Selbst in der KPC gibt es starke konservative Kräfte, die ein mässigeres Tempo bei der Modernisierung des Landes anmahnen und sich dabei auf Mao Zedong berufen. Eine Verschlechterung der Wirtschaftslage oder ein kräftiger Inflationsschub wären Wasser auf die Mühlen der maoistischen Systemkonservativen.

    Eine Beseitigung des Grossen Vorsitzenden aus dem Pantheon, wie dies unter Nikita Chruschtschow mit Stalin geschehen ist, ist aus einem gewichtigen Grund nicht möglich. Im Gegensatz zu Stalin war Mao Zedong ein Staatsgründer. Am 1. Oktober 1949 rief er in Peking auf dem Platz des Himmlischen Friedens die neue Volksrepublik aus. Mit einem Sturz Maos wäre eine ernsthafte historische Legitimitätskrise der Volksrepublik China verbunden. Natürlich könnte man sich auch auf den Republikgründer Sun Yat-sen berufen, doch im historischen Verständnis der Chinesen wäre dies gleichbedeutend mit einem Schlussstrich unter der «Dynastie der KPC».

    Somit muss davon ausgegangen werden, dass, sofern es nicht zu einer schweren Systemkrise kommt, was angesichts der hoch entwickelten Managementqualitäten der KPC eher unwahrscheinlich ist, Mao den Chinesen als Referenzgrösse, als Vaterfigur noch auf lange Zeit hinaus erhalten bleiben wird. Mit fortschreitender Zeit wird die Distanz zum Grossen Vorsitzenden jedoch zunehmen. Die Menschen werden von ihren ökonomischen Aspirationen so weitreichend absorbiert, dass sich politische und ideologische Apathie breitmacht. Der traditionelle Pragmatismus der Chinesen fördert diesen Trend noch zusätzlich. Der chinesische Politologe Wang Hui spricht in diesem Zusammenhang von politischem Desinteresse und von politischer Abstinenz im Einparteienstaat.

    Eine ganz andere Frage stellt sich indes bei der Aufarbeitung der sogenannten Kulturrevolution. Die schrecklichen Ereignisse der Jahre 1966 bis 1976 liegen erst eine halbe Generation zurück und sind somit vielen Chinesen noch präsent. Auch sollten die jüngeren Generationen, die das Privileg hatten, nach dem Ende des von Mao Zedong und seiner Frau losgetretenen Wahnsinns geboren worden zu sein, von ihren Eltern und Grosseltern noch genügend über diese turbulente Zeit erfahren. Allerdings steht dabei auch stets die Frage im Raum: «Wo warst du und was hast du getan während der ‹Kulturrevolution›?» Nicht ohne Grund hatte der Chefredakteur der «Beijing Review» aus Anlass des vierzigsten Jahrestags des Beginns der Kulturrevolution (1966 bis 1976) zu bedenken gegeben, dass Mao dieses Projekt nicht ohne die willige Kollaboration von Millionen von Chinesen hätte durchführen können. Bevor die Frage nach den Gründen, weshalb Menschen zu solchen Grausamkeiten gebracht werden konnten, nicht glaubhaft geklärt ist, kann von keiner wirklichen Aufarbeitung des schlimmen Geschehens während der Kulturrevolution gesprochen werden.

    Patriotismus und Nationalismus

    China sieht sich seit alten Zeiten als das Reich der Mitte, als Zentrum der Welt. Dieses Verständnis rückt es in die Nähe des Römischen Reiches, das sich ebenfalls als Zentrum der Zivilisation in der damaligen Welt betrachtete. Ob man römischer Bürger oder Untertan des «Sohns des Himmels» war, beides hob einen von den Barbaren ohne diesen Status ab. Während die moderne Idee des Nationalstaats in Europa zu ihrer Blüte kam, aber auch zum tragischen Verhängnis wurde und im Japan der Meiji-Restauration ihren Niederschlag fand, verpasste China im 19. und frühen 20. Jahrhundert zunächst den Anschluss an die moderne Nationalstaatlichkeit. Mit der Gründung der Volksrepublik China wurde dieses Versäumnis rund ein Jahrhundert nach den liberalen Revolutionen in Europa von 1848 zumindest der Form nach nachgeholt. Natürlich hatte die Volksrepublik als eine kommunistische Staatsgründung einen herausragenden internationalistischen Anspruch, doch spätestens nach dem Bruch mit der Sowjetunion sollte der traditionelle Sinozentrismus des neuen Staatsgebildes offenkundig werden. Diese Entwicklung ist der Hauptgrund dafür, weshalb wir auch heute China nicht als Nation im europäischen Sinne verstehen dürfen.

    Was bedeutet dies für das Selbstverständnis der Bewohner der Volksrepublik? Wie nationalistisch sind die heutigen Chinesen und lassen sich in dieser Hinsicht Unterschiede zwischen den einzelnen Generationen feststellen? Aufgrund der vorangegangenen Bemerkungen zur neueren Geschichte Chinas liegt es nahe, das Reich der Mitte als ein Land mit einer «verletzten Seele» zu bezeichnen. Wir kennen diesen Zustand, den der indischstämmige Schriftsteller V. S. Naipaul in mehreren Büchern nach Reisen in Drittweltstaaten eindrücklich beschrieben hat, von zahlreichen anderen Fällen. Auch die Indische Union wurde wegen der vorangehenden langjährigen Erniedrigung durch die britische Fremdherrschaft mit einer verletzten Seele geboren.

    Die verletzte Seele des nationalstaatlichen Kollektivs hinterlässt natürlich auch im Befinden der einzelnen Menschen ihre Spuren. Ein Nationalstolz, wie er in den europäischen Staaten und insbesondere in Frankreich und Deutschland entwickelt, ja herangezüchtet wurde, fehlt in China. Die geistige Haltung der Chinesen lässt sich eher mit Begriffen wie Patriotismus oder auch Chauvinismus, ja zuweilen gar Xenophobie umschreiben. Blicken wir auf die Ereignisse im 19. Jahrhundert zurück, so finden wir bei allen Generationen vor allem gegenüber dem Westen und Europa eine von Patriotismus geprägte Einstellung.

    Diese Haltung wird natürlich durch den Geschichtsunterricht untermauert. Die Ch’ing-Dynastie kommt, wenn ihre Fähigkeit, fremde Eindringlinge von China fernzuhalten, beurteilt wird, nicht gut weg. Doch inzwischen ist Chinas offizielle Geschichtsschreibung, wenn es generell um das Thema der Erniedrigung Chinas durch auswärtige, primär westliche Mächte geht, weniger ideologisch geprägt, sondern bezieht sich vermehrt auf historische Fakten. Diese Haltung ändert sich, wenn es um die Verletzungen im 20. Jahrhundert geht. Zunächst erfuhr China 1919 nochmals eine «klassische» Erniedrigung in Form der von der Versailler Friedenskonferenz sanktionierten Übernahme der einst deutschen Besitzungen in der ostchinesischen Provinz Schandong durch die Japaner. Daraus resultierte die patriotische,

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