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Frag nicht nach Zucker
Frag nicht nach Zucker
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eBook780 Seiten9 Stunden

Frag nicht nach Zucker

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Über dieses E-Book

LERNE AUS DEN FEHLTRITTEN EINES GLOBETROTTERS in der australischen Wüste und von seinen abenteuerlichen Asienreisen - durch Sri Lanka, Thailand, Indien und Nepal. Lass dich auf deiner persönlichen Reise von seinen teuer bezahlten Erfahrungen inspirieren. Glaube an dich, behüte deine Gedanken, bewahre deinen Humor, finde die große Liebe und lass dein Glück nicht mehr los!

 

FRAG NICHT NACH ZUCKER ist ein fesselnder Liebesroman, wie ihn nur das wahre Leben niederzuschreiben vermag. Der Leser begleitet solange den jungen Europäer Christoph bei dessen waghalsigen Unternehmungen, bis er nach einer Zwischenlandung in Moskau sein Bewusstsein in einer ostdeutschen Gefängniszelle zurückerlangt.

 

ZUNÄCHST jedoch schreiben wir das Jahr 1985. Christoph ist in Bangkok und verliebt sich gerade unsterblich in eine bildhübsche Neuseeländerin, die seit Jahren schon durch die Weltgeschichte tingelt. In Westaustralien haben die beiden ein glückliches Leben. Christoph, der sich mangels Arbeitserlaubnis als Gartenhelfer durchschlägt, bewundert die erfahrene Suzanne, die in Perth's Universität als gut bezahltes Modell arbeitet. An einem Wochenende wird den beiden die Zukunft vorhergesagt. Suzanne soll sehr bald schon weit im Süden leben, meint die Wahrsagerin in der kleinen Kapelle, doch als sie Christoph's Hand hält, zittert die Seherin auf einmal und sieht dunkle Mächte und finstere Dämonen. Kurz darauf wird Suzanne ein außerordentlich günstiges Flugticket nach Neuseeland angeboten, und da sie schon sehr lange nicht mehr zu Hause war, entscheidet sie sich spontan, woraufhin für Christoph die Welt zusammen bricht, da er die Liebe seines Lebens verliert.

 

EINIGE TAGE SPÄTER reißt Christoph sich zusammen, verkauft seinen Wagen und trampt mitten durch die australische Wüste, um durch neue Eindrücke auf frische Gedanken zu kommen. Nach drei Wochen in New South Wales angekommen, trifft er den Australier Dave und den Schotten Bryce, die einen Autounfall hatten. Den Kotflügel wieder herausgezogen, beschließen die drei jungen Männer, zwei Tage Richtung Norden zu fahren, weil die kleine Küstenstadt Cairns am Great Barrier Reef sich zum Jahresende in eine Partyhochburg verwandelt, wenn Taucher aus aller Welt mit Quallen zusammen an ihre Strände gespült werden. Doch kann Christoph seine Suzanne einfach so vergessen?

SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum10. März 2024
ISBN9781738612383
Frag nicht nach Zucker
Autor

Christoph Bernhard Lichtinger

Bernhard Christoph Lichtinger was born into a family of doctors in Stuttgart (southern Germany) on July 21, 1961, the fifth of six sons. The author, family man, craftsman, autodidact, inventor, entrepreneur and attended a kindergarten, 10 schools, countless their countries and 2 East German prisons. Released to Baden-Württemberg after 341 days of miserable food (on Friday, November 13, 1987), Christoph taught himself computer-aided drawing. He first freelanced for the IBM chip factory and then for the sports car fanatic architect Bernd Frank. After he managed to finance his parents' property, Christoph founded his own residential construction company in 1995, which was hit hard by the global financial crisis 13 years later (2008), whereupon he lost everything except the old villa that belonged to him and his second great love Dorothee. After his divorce, Christoph found his first great love Suzanne on the internet and flew to New Zealand to meet her in August 2015. And yes, it is true love! Six months later, he begins to write down his story ...

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    Buchvorschau

    Frag nicht nach Zucker - Christoph Bernhard Lichtinger

    Kapitel 1

    Frag nicht nach Zucker

    Wasser tropft von der Decke. Meine Gelenke schmerzen. Es ist dunkel und kalt. Das Fenster ist vergittert und draußen bellen die Hunde. Plötzlich ein Pfiff, jemand schreit, dann kracht eine Tür laut ins Schloss und ein Blitz zerreißt die Nacht!

    Erschrocken reiße ich die Augen auf, sehe jedoch keine Gefängniszelle, sondern die aufgehende Sonne, weil der verschnupfte Fensterplatz eins weiter vorn sein Verdunkelungsrollo nach oben schnappen ließ. Seit Dubai hat er schon die Finger dran, doch jetzt heftig einsetzende Turbulenzen. Das Flugzeug fällt in ein Luftloch. Gepäckstücke fallen aus den Fächern. Weitere Rollos schnappen, Warnschilder blinken auf, Mütter und Stewardessen beruhigen heulende Babys, überforderte Familienväter geraten in einen Tumult und Ungläubige sprechen ihr letztes Gebet. Links, rechts, vorne und hinten. Auf einmal herrscht ein einziges Chaos!

    „Liebe Passagiere jetzt die Durchsage des Kapitäns. „Bitte bleiben Sie auf ihren Sitzplätzen! Stellen Sie ihre Lehnen gerade und schnallen Sie sich an! Wir fliegen durch ein Schlechtwettergebiet! Wohl war, die ganze Maschine wackelt! Hartnäckig verteidige ich meine Lehne, währenddessen unsere beiden Flugbegleiterinnen zu den hinteren Toiletten flüchten, um sich dort an die Notsitze zu schnallen.

    Mein Puls rast! Letzter Versuch gescheitert? Ich schaue auf meine Uhr. Tick, tack, tick, tack, tick, tack. Alle zwölf Stunden dasselbe Bild, und doch besitzt ein mechanisches Uhrwerk keinerlei Erinnerungen. Mein Leben aber schon! Das letzte Mal, als wir uns küssten, ist genau dreißig Jahre her.

    DREISSIG JAHRE!

    Wie schnell doch die Zeit verrinnt! Hinterher! Kennen gelernt hatte ich meine Suzanne Mitte der 80er-Jahre in Bangkok, Thailand’s Hauptstadt, wo ich mich auch unsterblich in sie verliebte. In eine Kiwi, eine bildhübsche Neuseeländerin. Vier Monate später lebten wir in Westaustralien. Fremantle muss jetzt irgendwo da unten sein. Was waren wir glücklich! In diesem idyllischen Küstenort in der Nähe von Perth hatten wir das perfekte Leben, dennoch verschwand Suzanne von heute auf morgen.

    Anschließend passierten eine Menge Dinge, von denen sie bis heute nichts weiß, doch jetzt sind es nur noch wenige Stunden bis zu ihr auf die Südinsel. Doch wie lange bleibt uns beiden noch?

    Um keine weitere Zeit zu vergeuden, schlage ich mein kleines, schwarzes Notizbuch auf, teleportiere mich mit den Airlines Kopfhörern aus der sich zerreißenden Maschine und schreibe den ersten Satz.

    Kapitel 2

    Die Familie

    Mitte der fünfziger Jahre nahm das Schicksal seinen Lauf, als sich meine zukünftigen Eltern in Süddeutschland in einem Stuttgarter Krankenhaus kennenlernten. Sie, eine attraktive Zwanzigjährige aus Chemnitz, die als Kind mit der Familie vor der Roten Armee in den Westen floh und er, fünfzehn Jahre älter, zurück aus russischer Gefangenschaft und inzwischen engagierter Assistenzarzt. Klassischer Fall: Arzt verliebt sich in Krankenschwester, Krankenschwester heiratet Arzt.

    In der Villa unseres verstorbenen Großvaters Ludwig, dem bayrischen Bierbrauer, der einst ein großzügiges Angebot aus den Vereinigten Staaten ausschlug, um seinen Gerstensaft lieber im Schwabenland zu brauen, gab es reichlich Potential für eine gemeinsame Zukunft. Im Erdgeschoss ihre eigene Kinderarztpraxis eröffnet, kamen in den folgenden Jahren Michael, Martin, Stefan, Ralf, Christoph und Nesthäkchen Matthias zur Welt. Sechs Söhne, obwohl unsere Mutter sich so sehr eine Tochter wünschte! Anstatt sich nun über die gesunden Buben, den lieben Mann, das repräsentative Haus und den großen Garten zu freuen, verstrickte sich unsere Mutter zunehmend in negative Gedanken und hatte bald überall etwas auszusetzen. Vor allem an unserem Vater, der die alleinige Schuld an ihrem Unglück trug, schließlich hätte er als Kinderarzt es ja wissen müssen, wie man eine Tochter zusammenbastelt. Der wiederum störte sich nicht am großen Männerhaushalt. Frieden vor ihren Gängeleien fand unser Vater in seiner Lieblingsapotheke am Schillerplatz oder in seinen Praxisräumen im Erdgeschoss, in denen er auch reichlich zu tun hatte, schließlich war er der einzige Kinderarzt im Ort. Doch selbst wenn das Wartezimmer bis zum Bersten voll war, in den aufstrebenden Nachkriegsjahren folgte ein geburtenstarker Jahrgang auf den nächsten, hatte er stets ein offenes Ohr für seine kleinen Patienten und auch für die vielen Sorgen ihrer Mütter. Um nicht jedes Mal zum Rezeptblock oder in die eigene Apotheke greifen zu müssen, empfahl er bei Durchfall Salzstängel mit Cola und wenn Säuglinge Blähungen hatten und mit dem Schreien nicht mehr aufhörten, drückte er ihre Beinchen sanft zum Bauch und ließen sie dann einen fahren und kullerten lustig mit den Augen, verordnete er den Müttern ein Kirschkernkissen. Aufgrund seiner ruhigen, emphatischen Art und seiner unkonventionellen Heilmethoden war unser Vater äußerst beliebt im Ort, doch ein Stockwerk darüber regierte eisern sein Weib.

    Alles musste perfekt sein!

    Von ihren perfektionistischen Ansprüchen getrieben, putzte unsere Mutter wie besessen, weshalb nirgends ein Stäubchen zu finden war, nichtmal oben auf den Türrahmen oder den Schränken. Sie wienerte, bohnerte, saugte, schrubbte, kochte, flickte, hängte die Wäsche auf, mähte den Rasen, schnitt die Hecke, schleppte alle Einkäufe alleine nach Hause, ließ sich selbst beim Müll raus tragen kaum mal helfen, beschwerte sich aber, im selbst erwählten Unglück vereinsamt, bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Da war es nicht weiter verwunderlich, dass wir unseren Vater bei den Mahlzeiten oft nicht sahen, doch wenn unsere Mutter früh schlafen ging oder mal wieder alleine vor dem Fernseher hockte, schlichen wir klammheimlich die alte Holztreppe hinunter, vermieden dabei tunlichst die knirschenden Stufen, und war das Wartezimmer leer, dann hörte unser Vater aus seinen selbst gebauten Lautsprechern Klassische Musik und James Last, goß seine Pflanzen oder saß noch im weißen Arztkittel vorm Schreibtisch, um die Micky Maus Hefte seiner jungen Klientel zu verschlingen.

    Unsere mehrfach belastete Mutter eins weiter oben wurde aufgrund ihrer Gedankenwelt, dem großen Haushalt und den Stall tobender Jungs indessen immer depressiver und da die Schränke in der Praxis voll waren mit Pillen aller Art, es gab selbstverständlich auch solche für kurze Beine, abstehende Ohren, Stilaugen oder krumme Hälse, konsumierte sie Schlaftabletten und Antidepressiva wie andere Leute Pfefferminzbonbons. Regelrechte Vorräte legte sie sich davon an und wenn sie sich dann nachmittags in ihrem Schlafzimmer verbarrikadierte, stand ich als kleiner Junge oft stundenlang vor der Tür und heulte Rotz und Wasser, weil ich mich für ihre enormen Stimmungsschwankungen verantwortlich fühlte und Angst hatte, dass sie sich etwas antat.

    Kaum sechs Jahre alt, war die Österfeldschule in der Katzenbachstraße meine erste Schule, doch kam ich wenige Wochen später schon in meine Zweite, das war die winzige Grundschule am Liasweg, weil wir auf der anderen Seite der Eisenbahnbrücke wohnten. Vier Jahre später wurde ich mit der einen Klassenhälfte ins Fanny-Leicht-Gymnasium abgeschoben, wobei das erste Halbjahr in meiner dritten Schule noch Probezeit war. Mein neuer Nebensitzer dort war ein äußerst talentierter Zeichner von Asterix und Obelix-Figuren. Anstatt nun dem Unterricht zu folgen, kopierte ich emsig seine Striche, was den Englischlehrer nicht weiter kümmerte und war ich dann zu Hause, stand zwar das Mittagessen auf dem Tisch, es gab aber niemanden, der Hausaufgaben kontrollierte oder Vokabeln abfragte. Uns Brüdern konnte das nur recht sein, schließlich bereitete die selbst gewählte Einsamkeit unserer Mutter gewissermassen unseren Weg in die Freiheit. Ein halbes Dutzend Jungs, sofern man Kleinste mitzählt, waren schon eine richtige Bande und waren wir erst mal aus dem Haus, galt es eine Menge Abenteuer zu bestehen. Beispielsweise wenn wir in der Stuttgarter Wilhelma, dem städtischen Zoo, wieder das ganze Taschengeld für Eiscreme und Kaugummis verplempert hatten und dann mit Magneten die Glücksversprechenden Münzen aus dem Goldfischbecken angelten, damit der Straßenbahnschaffner uns nicht schon wieder beim Schwarzfahren erwischte. Oder die Steinschlacht auf dem Baumarkt-Gelände, bei der ich ums Haar das linke Auge verlor. Gut, dass ich da schnell zur väterlichen Praxis rennen konnte, weil in solchen Notfällen die anderen Patienten warten mussten. Dafür hatten sie schließlich ihr Wartezimmer! Oder als wir mal wieder die Brücke am Nesenbachviadukt überquerten und der Sog der Züge uns fast in die Wagons riss. Oder als wir im Fanny-Leicht-Park die gerade erst angelieferten Asphaltplatten für die neuen Wege in Brand steckten, um anschließend vorm Hausmeister auf die höchsten Bäume zu flüchten. Oder als wir nachts über den Zaun vom Freibad Rosental kletterten, um als Mutprobe vom drei Meter hohen Sprungbrett in die stockfinstere Nacht zu hechten. Oder als wir am Wochenende übers Förderband der Vaihinger Universität in die Mensa-Küche robbten und den riesigen Schinken im Kühlschrank klauten.

    Oder, oder, oder…

    Die Liste unserer Streiche war lang, fies und manchmal auch gefährlich. Dem elterlichen Wohnhaus entkommen, waren wir aber frei und konnten Dampf ablassen, doch nun bekamen wir die Halbjahreszeugnisse und ich, der zehnjährige Arztsohn, konnte jetzt zwar gut den Asterix und den Obelix zeichnen, aber nicht meine englischen Vokabeln, und hatte es auch sonst überall gründlich vermasselt.

    Kapitel 3

    Ein katholisches Knabeninternat

    Das ich die Probezeit nicht bestand, hatte ich meiner Mutter noch nicht gebeichtet, die ohnehin gerade in Eile war, für den drittältesten Bruder Stefan, ihr auserkorenes schwarzes Schaf, einen Internatsplatz zu finden. Um ihr mein Versagen möglichst schonend beizubringen, begleitete ich meine Mutter in ihrem goldenen VW Käfer zum bischöflichen Martinihaus in Rottenburg am Neckar, einer dörflichen Kleinstadt. Mit einer Stunde Fahrzeit war das katholische Knabeninternat weit genug von den heimischen Streitereien entfernt, hatte ich erkannt und jetzt war Termin. Ein großer Mann im dunklen Anzug begrüßte uns.

    „Da haben wir ja das kleine Sorgenkind" meinte der von oben herabtätschelnde Herr Paris.

    „Aber nein, Sie irren! sagte daraufhin Mutter, weil sie nicht ahnen konnte, wie recht er hatte. „Das ist der Christoph, mein Zweitjüngster.

    „Und der Stefan?" runzelte Herr Paris die Stirn. Der Rektor machte furchtbar große Schritte.

    „Bin noch nicht sicher sagte meine Mutter, die mit ihren langen Beinen keine Mühe hatte, ihm hinterher zu laufen. „Von Rottweil hat er schon eine Zusage.

    „Ach so" meinte da der Herr Rektor.

    „Darf ich dann ins Internat?" fragte ich und beichtete den beiden meine Noten. Es war keine Überraschung. Der Kleine durfte, weil das Martinihaus dank bischöflicher Unterstützung äußerst preiswert war. Damals wusste ich noch nicht, das sie uns alle zu Pfaffen machen wollten, weil die katholischen Priester sich untereinander nicht vermehren. Vorher musste ich noch in die Büsnauer Hauptschule, meine Vierte, in der auch andere Problemfälle übergangsweise geparkt wurden, doch nun die Weihnachts-Streitereien überstanden und die Winterferien auch vorüber, war ich das neue Mitglied der Christlichen Bruderschaft.

    Hier bei uns Gesalbten war alles bis ins aller kleinste Detail geregelt. Selbst morgens schon in den Schlafsälen, wenn wir gleich nach dem Aufstehen unsere Betten glatt strichen, um anschließend zur hauseigenen Kapelle zu rennen, weil bei Verspätung das Frühstück gestrichen wurde.

    St. Klara war dann meine fünfte Schule. Ausschließlich von katholischen Nonnen geführt, herrschte auch hier Zucht und Ordnung. In diesem Halbjahr wurden erstmals Jungs aufgenommen, das waren mein neuer Kumpel Heiler und ich, sonst gab’s nur kichernde Mädchen. Überall hingen Kruzifixe an den Wänden, die aufpassenden Nonnen sahen aber nicht aus, wie man es sich möglicherweise vorstellt. Zwar alle sehr streng, waren einige von ihnen, trotz der bescheidenen, schwarzen Tracht, sogar ausgesprochen hübsch. Um ihre schlanken Hälse trugen sie jedoch nur ein schlichtes Kreuz, ihr langes, glänzendes Haar versteckten sie mit einem weißem Schleier und ihre Füße mit schwarzen, glänzenden Lederschuhen. Ständig mussten die armen Nonnen beten, doch war Pause und liefen Heiler und ich über den Schulhof, waren wir einzigen Jungs natürlich die große Attraktion für die frechen Gören und falls der frühreifen Rädelsführerin, die eine Riesin war, wieder etwas nicht in den Kram passte, hatten wir nicht die geringste Chance, wenn sie uns in den Schwitzkasten nahm und ihre Freundinnen uns mit ihren spitzen Fingernägeln übers Gesicht kratzten oder ganze Haarbüschel rausrissen. Da halfen auch die vielen Kruzifixe nichts!

    War der Unterricht endlich vorbei, marschierten wir beide schnurstracks zum einen Kilometer entfernten Knabeninternat, wuschen wie befohlen unsere Hände, schnappten uns im großen Speisesaal ein Tablet vom Stapel und stellten uns brav in die Reihe, weil der Rektor mit seinen Argusaugen und seinen Präfekten und hauseigenen Nonnen darüber wachte, das bei der Essensausgabe weder geredet, gedrängelt noch gemogelt wurde. Tanzte dennoch einer aus der Reihe, wollte Nachschlag oder fiel sonstwie frech auf, gab es von den Nonnen, anstatt ihrem obligatorischen Schöpfer, eine gepfefferte Kopfnuss. Am Tisch dann ein für alles dankendes Gebet, heute bereits das Dritte, und eine Millisekunde nach dem bekreuzigten Amen das hundertfach klappernde Besteck. Unter solchen Bedingungen waren neue Freunde schnell gefunden und zehn gleichaltrige Jungs im Schlafsaal boten genügend Potential für großartigen Blödsinn, denn hatte man erstmal Vertrauen zueinander gewonnen, dann mochte natürlich keiner mehr die strengen Regeln.

    Andererseits taten sich täglich wiederholende Rituale gut und so kam es, das ich ein halbes Jahr später in das Eugen-Bolz-Gymnasium, meine sechste Schule, versetzt wurde. Von nun an begleitete ich wie alle Pennäler eine feste Aufgabe. Meine war Ministrant, das waren die meisten von uns, ich aber durfte das heilige Weihrauchfass schwenken und davon gab’s nur ein unserem bischöflichen Knabenseminar.

    Monatelang der Wolke hinterhergelaufen, wurde ich ganz grün im Gesicht und weil das alberne Getue auch sonst gewaltig nervte, meldete ich mich lieber freiwillig zum unbeliebten Geschirrspülen, weil man dort meistens seine Ruhe hatte. Dabei erfand ich eine Spülmaschine, die von außen aussah wie ein gewöhnlicher Küchenschrank und tüftelte auch an einer Formel für Deutsch-Englisch Übersetzungen, um zukünftig nie wieder Vokabeln mehr pauken zu müssen, musste dann aber nach dem Gläser Polieren ins Studierzimmer rennen, weil der Präfekt bereits auf seine Nachzügler wartete, um endlich sein wohl verdientes Nickerchen halten zu können.

    Jeder von uns Kommilitonen hatte dort seinen eigenen Sekretär, hinter dem wir volle drei Stunden über unseren Hausaufgaben ausharren mussten, weshalb es, ausgenommen vom raschelnden Papier und gelegentlichem Räuspern, mucksmäuschenstill war. Fing unser Aufpasser endlich zu Schnarchen an, tauschten wir flugs die Ergebnisse aus oder spannten unsere Gummibänder, um uns mit zusammengefalteten Papierkrampen zu beschiessen. Wer beim Aufschreien den Präfekten aufweckte, bekam Kopfnüsse und lang gezogene Ohren. Das waren sehr beliebte Strafen.

    Fünf Jahre später waren wir schlaksige Teenager. Nun im Internat einer von den Älteren, hatte ich fabelhafte Schulnoten, im Kopf aber immer noch die selben Flausen. Alle Streiche kann ich unmöglich aufzählen, daher nur der vielleicht Brillanteste, auf jeden Fall jedoch der Letzte, welcher alle drei Schlafsäle auf unserem Stockwerk betraf. Um diesen in die Tat umzusetzen, brauchte ich die tatkräftige Unterstützung meiner treuesten Gefährten im Schlafsaal, das waren der allzeit bereite Heiler aus der Nonnenschule St. Klara, der schmächtige Daniel aus Rottenburg und der zwielichtige Thomas aus meinem Heimatort. Vorher musste ich ihnen aber noch die Löffelsprache beibringen, die Geheimsprache meiner älteren Brüder, bei der Vokale mit LE ergänzt werden, was für nicht Eingeweihte schwer verständlich ist, weshalb die Löffelsprache für unsere finale Besprechung ein immens wichtiges Hilfsmittel war, da wir keine Zeugen im Schlafsaal gebrauchen konnten. Da mein Streich mitten in der Nacht ausgeführt werden musste, kippte ich unmittelbar vor dem Schlafen zehn randvolle Zahnbecher Wasser hinunter, weshalb ich kurz nach Mitternacht vor dem Urinal stand, um meine Verbündeten anschließend aus den Federn zu kitzeln.

    „Oh Mann! Echt jetzt? beschwerte sich der zwielichtige Thomas, der schmächtige Daniel gähnte: „ich bin so müde und der allzeit bereite Heiler drehte sich vorsichtshalber nochmal auf die andere Seite.

    „Pst! Ihr müsst leise sein! flüsterte ich. Barfüßig schlichen wir in den Waschraum. „Zuerst die Stöpsel!

    Handtücher, Waschbeutel, Zahnbürsten und Kämme. Einfach alles, was im gemeinsamen Bad herumstand, natürlich auch die eigenen Sachen, musste in die Fußbecken. Anschließend ließen wir die Becken voll laufen und rührten die Suppe ordentlich um. Was für ein Spaß!

    „Ab jetzt nur noch Zeichensprache!"

    Die konnten wir nämlich auch.

    Drei Schlafsäle gab es in unserem ersten Stockwerk mit jeweils fünf Stockbetten, vor denen die Pantoffeln und gewienerten Schuhe unserer schlummernden Klassenkameraden ordentlich nebeneinander aufgereiht waren. Die eigenen Schuhe auch mit eingesammelt und alles auf Zehenspitzen zum Gang befördert, stopften wir die Beute in unsere Bettbezüge, schleppten sie zwei Stockwerke hoch ins Dritte, mischten auf dem Podest nochmal gründlich durch, verknoteten die Schnürsenkel fest miteinander, befestigten die letzten Bändel mit dem Geländer und seilten die Schuhe durchs Treppenauge ab. Von oben sahen die ellenlangen Schlangen ausgesprochen lustig aus. Jetzt bloß nicht lachen! Schnell rutschten wir auf dem Handlauf ins Erdgeschoss und hielten das knapp über dem Boden pendelnde Kunstwerk fest, damit es nicht mehr gegen’s Geländer schlug.

    „Jetzt die Schlafsäle!" verkündete ich den vorletzten Akt, dem triumphalen Aushängen der schweren Türen. Eine überaus riskante Operation! Zwangsläufig immer einen nackten Fuß darunter, durfte das jeweilige Opfer sich trotz Widrigkeiten nicht dem Schmerz ergeben. Als alle drei Schlafraum-Türen in der letzten Kabine der Toilettenanlage standen, schloss ich von innen zu und sprang oben drüber. Nun folgte das Finale. Die große Lüftung! Aus den Schlafsälen immer noch dasselbe eintönige Gesäusel und wir vier natürlich auf den Zehenspitzen, als wir die Fensterflügel ganz auf schwenkten und die Vorhänge dazwischen klemmten, um ein zuklatschen zu vermeiden.

    „Das gibt mächtig Ärger" predigte Heiler.

    „Dann sind wir am Arsch" flüsterte Daniel.

    „Hoffentlich kommt das nie raus" stöhnte Thomas.

    „Wir waren’s nicht" fand ich schlau. Wieder in unseren Betten, pfiff ein scharfer Wind durch die Schlafsäle, der uns stürmische Träume bescherte.

    Am nächsten Morgen lief unser Rektor mit seinen Präfekten durch unser Stockwerk. Alle mussten sofort zum Appell in den Waschraum. Dreißig Kommilitonen waren verschnupft und der Rektor war es auch, wenn auch in anderem Sinne.

    „So etwas hat es bei mir noch nie gegeben! schimpfte Herr Paris, unser Rektor, dei dessen Ansprache ich mir das Lachen kaum verkneifen konnte. „Na wartet! Besser die Übeltäter melden sich freiwillig, bevor ich euch allen die Hammelohren lang ziehe. Wer von euch hat da mitgemacht?

    Niemand meldete sich. Unschuldige wurden ins Dritte geschickt, um dort die Schnürsenkel zu kapern und andere mussten im Bad die Stöpsel ziehen. Während es lustig aus den Fußbecken gurgelte, ratterten die Schuhe im Treppenhaus wie eine Maschinengewehr-Salve auf den Boden. Vor dem Entknoten mussten wir zuerst zum Beten. Zwangsläufig barfuß, standen wir auf dem kalten Steinboden der hauseigenen Kapelle, währenddessen der Rektor sich vor unseren Augen in einen Priester verwandelte.

    „Gott sieht alles und hört alles und deshalb entgeht ein Sünder niemals seiner göttlichen Bestrafung! predigte er von seiner Kanzel herab, nachdem er sich die Worte zurecht gelegt hatte. „Zum allerletzten Mal: Wer von euch hat das verbrochen?

    Keiner regte sich.

    Da niemand Reue zeigte, lief am selben Nachmittag ein älterer Mann durch die Stockwerke, der mit einem dunklen Anzug und einem schwarzen Hut bekleidet war. Wir tippten entweder auf Detektiv oder Geheimagent, wenigstens aber einen pensionierten Polizisten. Irgendwann war er bei uns angelangt und stellte schon sehr eigenartige Fragen. Ob wir gerne zur Schule gingen, was wir später mal werden wollten und ob wir vielleicht etwas gehört hätten. Da wurde uns Angst und Bange. Der allzeit bereite Heiler leugnete hartnäckig, ich hatte geschlafen und der schmächtige Daniel wollte mir ein Alibi verschaffen, doch der zwielichtige Thomas verriet uns gleich bei seinem ersten Verhör und da alles Leugnen nun zwecklos war, wurden wir dem Herr Paris auf dem Silbertablett präsentiert.

    „Ich hab’s doch gleich gewusst! sagte der Rektor zu dem pensionierten Privatdetektiv, den er sich beim Bischof ausgeliehen hatte. „Daniel, Heiler, Thomas und natürlich Ketchup, ihr Häuptling.

    Ketchup, mein erster Spitzname, wurde mir im Schlafraum verliehen, weil der fette Winfried sich nach dem Catchen nicht runterrollen wollte. Für den Häuptling gab es ein paar extra Kopfnüsse, die mir als Rädelsführer aber auch zustanden. Selbstverständlich war der Rektor enttäuscht, da er mich aufgrund seiner langjährigen Vorbereitungen als Bischof vorgesehen hatte. Ich war nicht mal eines Priesters würdig, doch nun war Schluss mit diesem Affentanz und Paris wollte mich auch nicht mehr haben.

    Nach fünf Jahren bischöflichem Knabenseminar zum jungen Mann gereift, packte ich mächtig stolz meine Sachen und freute mich nun auf all die wunderbaren Dinge, die mir bisher entgangen waren.

    Kapitel 4

    Das Freibad im Tal der Rosen

    Kaum zurück im Elternhaus, übernahm meine Mutter die Regie. Bereits beim Aufstehen war der Antrag fürs nächste Schuljahr ausgefüllt und die eben erst eingetragene Jeans drehte sich grundlos in der Waschmaschine. Das zwei Kilometer entfernte Hegel Gymnasium sollte meine siebte Schule werden. Für einen Fünfzehnjährigen war das keine schlechte Bilanz, doch bevor es los ging, waren zuallererst mal große Sommerferien. Mein eineinhalb Jahre älterer Bruder Ralf, der inzwischen im dritten Lehrjahr bei der AEG war, hatte keine sechs Wochen Ferien, konnte sich als Energieanlagenelektroniker dafür aber ein Kleinkraftrad leisten. Das war so eine hochdrehende Fünfziger mit sechseinhalb Pferdestärken, die über hundert Sachen lief. Selbst die Versicherung war irrsinnig teuer und ich hatte nicht mal genügend Geld für ein Fahrrad, geschweige denn für ein Mofa, weshalb ich Arbeit suchte.

    „Concordia Fluid sucht Sommer-Vertretungen. Interessenten melden sich bei Fräulein Altenstetter" stand in der Zeitung. Gleich morgens angerufen und mich noch vor dem Mittagessen im Stuttgarter Osten in der kleinen Fabrik vorgestellt, bekam ich den Job und sechs Mark und zehn Pfennige, eine Menge Geld für eine Stunde Arbeit. Dort legte ich den lieben langen Tag Matchbox-Auto große, pneumatische Ventile in eine Stempelvorrichtung, um anschließend einen Fußschalter zu betätigen. Mehr war nicht. Gleichaltrige vergnügten sich zur selben Zeit bei hochsommerlichen Temperaturen im Freibad, doch war die Arbeit nicht schwer und meine erste Woche bald geschafft. Zweimal die Bahn wechseln und dann noch ein gutes Stück zu Fuß, war die Strecke unter einer Stunde kaum zu bewältigen, aber jetzt waren es nur noch zwei Wochen und dann wollte ich auch nach den hübschen Mädchen schauen.

    An diesem Wochenende traf ich mich mit meinem zwanzigjährigen Bruder Michael, dem Ältesten von uns sechs Buben, der als Galvaniseur bei Mercedes Benz schon richtig Asche machte und deshalb eine scharfe Karre fuhr. Keinen Mercedes oder einen Porsche, aber so einen coolen Mini Cooper. Sein altes Mofa, das nur noch rum stand, fand ich auch cool. Das war eine rote Garelli mit kleinen Rädern und mit einer kurzen Sitzbank anstatt mit einem Sattel.

    „Läuft sie noch?" fragte ich Michael.

    „Springt auf den ersten Meter an!"

    „Aber wo sind die Rückspiegel?"

    „Brauch ich nicht!"

    „Verstehe. Würdest du mir deine Garelli trotzdem für die restlichen Sommerferien ausleihen?"

    „Nur wenn du sie an einem Stück zurückbringst!" Das konnte und wollte ich nicht versprechen, schließlich fehlten beide Spiegel und außerdem war die Italienerin mein erster motorisierter Untersatz. Bekommen hab ich sie dennoch, doch was für ein großartiges Gefühl es doch war, diesen Motor zu spüren! Man musste sich einfach nur auf sie oben drauf setzen und brauchte dann überhaupt nichts mehr tun! Die Garelli fuhr von ganz alleine!

    An den folgenden Arbeitstagen raste ich, - mit angelegten Knien und die Füße sportlich in der Mitte - , in den Stuttgarter Talkessel, um die Straßenbahn in der Kurve oder wenigstens noch vor der nächsten Haltestelle zu überholen. Ohne Helm, aber mit irrsinnig schnell rotierenden Tretpedalen und mit über vierzig Sachen! Logisch, dass ich mich über die gewonnene Unabhängigkeit freute. Nach Feierabend war die Rückfahrt jedoch etwas beschwerlicher. Beständig ging es den Berg hinauf und dann auch noch die steile S-Kurve im Vaihinger Viadukt, wo der kleine Zweitakter kaum mehr als Schrittgeschwindigkeit schaffte. Wie immer trat ich nach den Pedalen, um den Motor zu unterstützen, der linke Fuß stocherte jedoch in der Luft, weshalb ich, nur rechts tretend, durch die letzte Linkskurve eierte.

    Mist, ich hatte ein Pedal verloren!

    PENG!

    Das war laut. Als ich am Fahrbahnrand ausrollte, stand eine Autolänge hinter mir ein Lastwagen von Schwaben Bräu, unserer örtlichen Brauerei, welcher wegen einem überholenden Pkw nicht mehr ausweichen konnte und gleich hinter dem Bierlastwagen stand ein Möbeltransporter, der ihm deshalb voll ins Heck gekracht war.

    „Welcher Idiot bremst denn an solch einer Stelle?" schimpfte der Möbelfahrer mit dem Bierkutscher.

    „Junge, kannst du nicht besser aufpassen? schimpfte der Bierkutscher mit mir. „Mein Lastwagen ist nagelneu!

    Und was für ein Bild! Aus allen Ritzen floss das Bier und die Front des Möbellasters sah auch nicht gut aus. Doch da kam einer eilig zu Fuß daher. Es war der letzte Bewohner des einzigen Hauses unter der alten Zugbrücke.

    „Reicht’s noch für eine Kiste?"

    „Das will ich doch schwer hoffen" meinte der optimistische Bierkutscher, kletterte gleich dienstbeflissen auf seine Ladefläche, fischte noch unbeschädigte Flaschen aus dem Bruch und stellte so eine gemischte Kiste zusammen. Inzwischen stank aufgrund des sommerlichen Wetters die ganze Straße nach Hefe. Ein Streifenwagen traf ein. Sie sicherten die Unfallstelle ab und verhörten uns getrennt. Der materielle Schaden war immens, zum Glück aber waren die Lastwagen gut versichert. Der Schock jedoch saß tief in den Knochen und da Michael jetzt sein Mofa wieder zurück haben wollte, fuhr ich die dritte und letzte Woche eben wieder mit der Bahn zur Arbeit.

    In der zweiten Hälfte der Sommerferien konnte ich mir dafür ein eigenes Mofa leisten, eine betagte Herkules mit einer Dreigang-Handschaltung, mit der ich mächtig stolz zu unserem Freibad Rosental kurvte, wo ich so ziemlich jede Ecke kannte, weil wir Brüder in den großen Ferien immer hinter den Pfandflaschen her waren. Die größte Party fand immer beim rotummantelten Stahlseil statt, welches quer durchs hundert Meter lange Schwimmbecken gespannt, die Schwimmer von den Nichtschwimmern trennte. Weil pubertierende Teenager sich beim gegenseitigen Tunken leicht kennenlernen, tobte dort ein steter Kampf, weshalb das Seil für die Jungen und Mädchen eine magische Anziehungskraft besaß. War es richtig heiß wie heute und außerdem auch noch Ferien, rüttelten die frühreifen Jungs besonders gerne daran, worauf die auf dem Seil sitzenden Mädchen wie reife Kirschen vom Baum fielen. Aus diesem Grunde wachte der Bademeister auf seinem Kontrollturm am Beckenrand, einer geschweißten Konstruktion aus rot angestrichenen, waagrechten Streben und senkrechten Rohren, die bis zum Grund hinab reichten. Atmete man vollständig aus und war der Brustkorb ganz flach, konnten Schlanke sich in eineinhalb Meter Tiefe unter der letzten Strebe hindurchquetschen. Wurde man dabei erwischt, dann blies sogleich der darüber sitzende Bademeister nach Leibeskräften in seine Trillerpfeife. Hängen bleiben und in Panik geraten war auch nicht zu empfehlen. Bauchklatscher und Hechtsprünge vom Beckenrand waren ebenso verboten und zweimal verwarnt, wurde man des Bades verwiesen, was jedoch nur marginal die Aktivitäten minderte, weil Verbote grundsätzlich den Reiz steigern. Dank gemeinsamer Interessen hatte ich so schnell neue Freunde gefunden und waren wir vor Badeschluss nicht rausgeflogen, verdrehten manche der Mädchen die Augen, wenn wir Kumpels lässig durchs Schiebetor schlenderten. Helmpflicht gab es noch keine, wir hatten aber dichtes Haar, und wenn ich dann meine Dreigang Herkules an kickte, wollten nicht wenige der Mädchen sich auf den ungepolsterten Gepäckträger setzen.

    Nachdem ich alle nach Hause chauffiert hatte, waren die großen Sommerferien vorbei, mein Vater war in seiner Kinderarztpraxis, meine Mutter war in ihrem Krankenhaus und ich stand auf dem Schulhof-Parkplatz, um mein Mofa anzukicken. Im Internat hatten die Präfekten noch mit Argusaugen darüber gewacht, falls sie währenddessen nicht einschliefen, dass wir noch dem Mittagessen in der dreistündigen Studienzeit unsere Hausaufgaben erledigten. Doch nun wurden keine Anwesenheitslisten mehr geführt und weil man Vokabeln genauso gut auch später pauken kann, knatterte ich von nun an immer gleich nach dem aufgewärmten Mittagessen mit meiner Dreigang Herkules zum Jugendhaus, wo man den ganzen Nachmittag Karten und Billard spielen konnte, - und etwas später dann auch zum selbstverwalteten Rohrer Club, dem alternativen Treff, in dem jedes Wochenende gefeiert wurde. Die machten auch alle keine Hausaufgaben!

    Kapitel 5

    Tod oder Lebendig?

    An diesem schulfreien Samstag wurde ich von prasselndem Regen geweckt, doch als ich das Fenster aufmachte, riss der Himmel auf und dann sah ich einen Regenbogen. Ockerfarbenes Herbstlaub glitzerte von den Bäumen, die letzten Pfützen lösten sich auf, es roch nach frisch gemähtem Rasen und unten im Hof putzte mein bald siebzehn Jahre alter Bruder Ralf sein Kleinkraftrad.

    „Hast du was vor?" rief ich zu ihm hinunter.

    „Hol den Niko ab. Kleine Runde auf der Solitude."

    „Bleibst du nicht zum Frühstück?"

    „Keine Zeit, Chris" rief der Ralf, trat auf den Kickstarter und kreischte den Gartenweg hinauf. Fort war er zum Niko und weil auch alle anderen weg waren, holte ich endlich mal die Englisch- und Französischbücher raus, wäre aber viel lieber mit dem eigenen Moped hinterher gefahren. Die Solitude am Glemseck, zu der die beiden jetzt wollten, ist die ehemalige Rennstrecke und lag quasi vor der Haustür. Mitten im Grünen, hat sie lange Geraden und zahlreiche Kurven. Für Jugendliche mit Kleinkraftrad war die Rennstrecke eine echte Herausforderung, schließlich konnten Motorradfahrer hier beweisen, wie schräg und schnell sie fahren konnten, weshalb man damals noch keine Schutzbekleidung brauchte. Ohne Helm, nur in Jeans und T-Shirt, war Ehrensache.

    Die Polizei erreichte unsere Mutter in der Frühschicht. Ob einer ihrer Söhne Ralf hieß, fragte der Beamte am Telefon, weil seine Papiere bei einem verunglückten Motorradfahrer gefunden wurden. Natürlich setzte sich unsere Mutter sofort ins Auto und weil wir auf halber Strecke zur ehemaligen Rennstrecke wohnten, saß nur ich im Wagen, weil ja sonst niemand zu Hause war. Nach einer schlecht einsehbaren Kurve, hinter welcher man für einen Restaurantbesuch die Straße kreuzen musste, pulsierte das Blaulicht eines quergestellten Streifenwagens und gleich dahinter blinkte ein weißer Wagen, dessen Heckscheibe implodiert war. Überall war Kreide auf der Straße und Ralf’s Kleinkraftrad, sein ganzer Stolz, lag zerschmettert im Graben. Der Rettungswagen bereits weggefahren und die Polizisten schon eingestiegen, hatten sich ein paar Neugierige vor dem Häuflein Schrott versammelt.

    „Wo ist mein Sohn?" kreischte unsere Mutter.

    „Einer flog oben drüber!"

    „Und der andere krachte durch die Scheibe!"

    „Die rasen aber auch wie auf einer Rennstrecke!"

    „Kein Wunder, das hier sowas mal passiert!"

    Die beiden Polizisten stiegen wieder aus.

    „Sind Sie Frau Lichtinger?"

    „Wie geht es meinem Sohn?" heulte sie.

    „Ihr Sohn wurde ins Leonberger Krankenhaus transportiert."

    „Lebt Ralf noch?"

    „Das können wir Ihnen leider nicht sagen."

    Es gab keine Bremsspuren! Laut Polizei gehörte der weiße Wagen einem Mann, der in dem Restaurant kellnerte.

    „Sie müssen sich nicht mehr beeilen! ergänzte ein Herumstehender ohne einen Funken Pietät. „Der junge Fahrer, der durch die Heckscheibe krachte, ist auf der Rückbank verstorben.

    Mein Bruder ist tot? Das kann und darf nicht wahr sein! Vor zwei Stunden erst hatten wir miteinander gesprochen. Und jetzt nicht mehr am Leben? Unsere Mutter wollte das auch nicht glauben. Sofort machten wir uns auf zum Krankenhaus nach Leonberg und da wir mit dem Allerschlimmsten rechnen mussten, zitterte unsere Mutter am ganzen Körper.

    Ich half ihr deshalb beim Lenken.

    Doch wie kam es zu dem Unfall? Die letzten Sekunden vor dem Aufschlag konnte ich mir jedenfalls lebhaft vorstellen. Zweiter Gang, Dritter, Vierter, Fünfter, alle voll ausgedreht, dann runterschalten, schräg in die schnelle Kurve und wieder voll rausbeschleunigen. Aber warum hatte Ralf nicht gebremst? Hatte er sich zu Niko umgedreht? Währenddessen ich in meinem Zimmer kleine Kärtchen aus einem Stück Karton schnipselte, die ich später mit Vokabeln beschriften wollte, krachte Ralf mit achtzig Stundenkilometer durch die Heckscheibe eines Kellners. In Jeans und T-Shirt, aber ohne Helm. Das war Ehrensache.

    Wir waren jetzt im Krankenhaus und liefen zum Empfang.

    „Wurde mein Sohn Ralf hier eingeliefert?" fragte unsere atemlose Mutter. Sie konnte kaum noch stehen.

    „Der Motorradunfall?" fragte die Schwester.

    „Ja. Ralf Lichtinger sagte ich und sie schaute gleich nach. „Lebt er noch?

    Und dann, man mag es kaum glauben.

    „Ralf lebt!"

    Es war ein wahres Wunder! Und Niko, der übers Auto segelte und kaum eine Schramme abbekam, durfte sogar schon wieder nach Hause. Ralf’s Kopf war jedoch dick in Mullbinde verpackt und die wenigen nicht eingewickelten Stellen, die man noch sehen konnte, waren übel rot und blau angeschwollen.

    „Er wird wieder ganz hübsch lachte die attraktive Krankenschwester frohgemut. „Gell, Ralfi?

    Ralfi’s Zeit war noch nicht gekommen. Er hatte weder entstellende Schnitte noch lebensbedrohliche Verletzungen, seine Hüfte jedoch war mehrfach gebrochen. In eine Fachklinik verlegt, bekam Ralf aufgrund seines jungen Alters ein High-Tech-Hüftgelenk aus einem neuartigen Verbundstoff, welcher fünfzehn Jahre oder länger halten sollte. Mehr ging damals nicht.

    Nach zwei Monaten Krankengymnastik konnte Ralf, der zähe Hund, schon wieder ohne Krücken laufen und bestand seine Gesellenprüfung, als ich den Bußgeldbescheid für die beiden Lastwagen bekam, die ich mit Michael’s roter Garelli zerlegt hatte. Für UNKONZENTRIERTES FAHRVERHALTEN. Fünfundfünfzig Mark Strafe waren angesichts des verlustig gegangenen Bieres und enormen Schadens jedoch ein Pappenstiel.

    Im Hegelgymnasium lief es weniger gut. Fünf in englisch und fünf in französisch. Nicht versetzt, setzen! Daraufhin in die benachbarte Robert-Koch-Realschule abgeschoben, meine Achte, träumte Ralf, der jetzt als Geselle bezahlt wurde, schon vom fernen Indien. Wegen seiner künstlichen Hüfte hatte die Bundeswehr kein Interesse an ihm und als ich ein Jahr später die Mittlere Reife bestand und einen Lehrvertrag als Fotolaborant unterschrieb, obwohl ich viel lieber Fotograf werden wollte, war Ralf schon längst auf Reisen.

    Kapitel 6

    Halbautomatischer Handbetrieb

    Zu meinem ersten Ausbildungsbetrieb, der Foto Annemie, schickten Fotogeschäfte aus ganz Deutschland palettenweise Dias und Negative, welche als Papierschlaufen auf Rollen gewickelt, halbautomatische Belichtungsmaschinen speisten. Wir Lehrlinge saßen den lieben langen Tag vor bunten Knöpfen und tippten Filterwerte ein, die jemand anders darauf geschrieben hatte. Es war ein äußerst einfältiger Job, den selbst Branchenfremde innerhalb weniger Sekunden erlernen konnten. Es gab aber auch ein Handlabor, in dem individueller Service für professionelle Fotografen angeboten wurde und natürlich wollten alle dort hin, doch waren die Lehrplätze limitiert und eher nur pro Forma, um nach außen hin den Anforderungen eines modernen Ausbildungsbetriebs zu entsprechen. Doch wie schön, dass alle paar Wochen Berufsschule war. Endlich mal in richtige Gesichter sehen und etwas lernen, anstatt immer nur auf verkorkste Dias und Fotos zu glotzen. Irgendwann wird’s mit dem Handlabor schon klappen, dachte ich, schließlich machte ich in der Fotofabrik die verlangte Arbeit und hatte in der Johannes-Gutenberg-Schule, meiner Neunten, ausgezeichnete Noten.

    Inzwischen war es in der alten, herrschaftlichen Villa, die unser Großvater, der ruhmreiche Bierbrauer, einst gebaut hatte, ruhig geworden. Stefan, Martin und Michael hatten ihre eigene Bleibe gefunden, selbst Nesthäkchen Matthias zog zur Freundin Gabi und Ralf war immer noch, oder schon wieder, in Indien. Michael’s altes Zimmer war jedoch erheblich größer als mein bisheriges und hatte sogar zwei Fenster in verschiedene Himmelsrichtungen. Im Süden sah ich die Patienten auf unserem langen Gartenweg und im Osten die Passagiere auf der Straßenbahnhaltestelle. Die standen auch alle an. Von mir aus hätte es ewig so bleiben dürfen, doch anstatt sich über ein bisschen Frieden und den Platz zu freuen, hatte Mutter in zwei Kilometer Luftlinie für uns eine neue Bleibe auserkoren, weil ihr das alte Haus zu groß und die Straße nach Stuttgart sowieso schon immer zu laut war. Letztlich knickte unser Vater ein und verramschte die alte Villa mitsamt den Antiquitäten, behielt jedoch die eine Grundstückshälfte zur Haeberlinstraße für sein Fertighaus, das er für seine neue Kinderarztpraxis brauchte.

    Zugegeben, unser Penthouse in der Waldburgstraße war echt spitze! Sechster Stock, direkt am Waldrand und mit genialem Blick ins Stuttgarter Tal. Vier Schlafzimmer, zwei Bäder, offene Küche, offener Kamin, weiche Ledergarnitur, bequeme Sessel, große Glotze, Fußbodenheizung und eine riesige, außen herumgeschwungene Dachterrasse. Ins kleine Fertighaus wäre ich dennoch lieber gezogen, mich hatte nur leider niemand gefragt. Die Kinderarztpraxis natürlich wieder im Erdgeschoss, die kleinen Patienten unseres Vaters klingelten von nun an eins weiter vorn, bewohnten Michael und Ralf das Dachgeschoss und weil Ralf sich so oft in Indien rumtrieb, bekam Michael das Zimmer mit dem vier Meter langen Südbalkon, auf den jedoch kaum ein Möbelstück passte, weil er nur einen Meter breit war. Weil hier jedoch so wunderbar die Sonne schien, durfte Ralf die Töpfe mit seinem Marihuana daraufstellen, so hatten sie sich geeinigt, und wenn Michael, der sich ausschließlich von filterlosen Gauloises und Rotwein ernährte, in Ralf’s Abwesenheit dann die Stauden goss, stutzte er sie auf die selbe Höhe wie das tiefbraune Holzgeländer des Balkons, damit die vorbeischlenderten Schüler vom nahen Fanny-Leicht-Gymnasium das viele Gras nicht sehen konnten. Da die beiden so gut wie keine Miete zahlten, flog Ralf jetzt noch öfter nach Indien, zwei bis dreimal jährlich, was Michael, dem Pächter der Gaststätte Grüner Baum in Birkach, sehr gelegen kam, weil er mit seiner Freundin Gags, die Stewardess bei der Lufthansa war, dann alles für sich alleine hatte. Schlafzimmer, Balkon, Küche, Bad und die Holztreppe hinunter bis zur Schiebetür und im Untergeschoss den großen Abstellraum für seine gastronomischen Artikel wie Biergläser, Fässer, Klapptische und so weiter und so fort. Kam Ralf aus Indien zurück, um schnell Asche zu machen, nutzte er den kleineren Abstellraum als Werkstatt, in dem er seit vielen Monaten an seiner revolutionären Erfindung bastelte, einem elektrischen Fahrrad mit Satteltaschen voller Batterien und oben drauf eine fette Solarzelle. Das war Anfang der Achtziger Jahre, da gab es noch keine E-Bikes. Das Design war typisch Ralf. Auf dem Lenker thronte der handgeschnitzte Kopf eines indischen Gottes und die Satteltaschen waren vollgeklebt mit seinen indischen Heiligenbildchen, doch weil Ralf sich mal wieder für eine unbestimmte Zeit nach Indien verabschiedet hatte, lag sein sündhaft schweres Projekt vorerst auf Eis.

    Als ich ins zweite Lehrjahr kam, fand ich nach Feierabend eine Postkarte von Ralf im Briefkasten, auf die er einen Sonnenuntergang und einen qualmenden Joint gemalt hatte.

    „Hi, lieber Baba schrieb Ralf aus dem fernen Bombay. „Wir sind gerade auf dem Weg nach Kerala und schwitzen mächtig. 42C! Alle gesund und very happy. Good luck, Sahib.

    Hahaha, der hatte es gut. Während Sahib sein Leben in vollen Zügen genoss, hatte Baba keinen einzigen Tag in der Fotofabrik gefehlt und aufgrund meiner guten Schulnoten auch fest mit dem Handlabor gerechnet. Und wieder war ich nicht dabei! Frustriert drückte ich auf den Fußschalter, Pressluft blies Staub vom Dia, dann ein Lichtblitz und das Nächste bitte. Wir waren nichts als billige Arbeitskräfte, mehr nicht, und für die verbleibende Ausbildungszeit waren wir viel zu viele fürs Handlabor, soviel war gewiss. Ständig rauschten farbige Urlaubsbilder vorbei, die an Ralf’s abenteuerliches Leben erinnerten und ich hockte wie festgenagelt vor diesem dämlichen Kasten, drückte auf bunte Knöpfe und konnte und wollte die Auswahlkriterien nicht begreifen, warum sie mich an diesem Automaten wie einen Hilfsarbeiter versauern ließen.

    Ein Lichtblitz genügte, vielleicht war es auch ein schlechtes Bild, jedenfalls stand ich eines Tages auf, um mich endlich mal zu beschweren, was natürlich sofort auffiel, weil noch keine Pause war und Zeit bekanntlich Geld ist, was letztlich die Welt bedeutet. Nachdem ich die Treppe zur Firmenleitung hochgerannt war, brüllte ich die wie immer übertrieben stark geschminkte Chefin so laut an, dass ich selbst davon erschrak.

    „Du hast gekündigt?" fragte meine Mutter ganz entgeistert.

    „Das ist ein ganz übler Saftladen! schimpfte ich. „Da lernst du gar nichts, die nutzen dich nur aus!

    Ich war völlig desillusioniert.

    Es war ein verlorenes Jahr.

    „Und was jetzt?" seufzte Mutter schon im Mantel, weil es ihr zur Schicht ins Krankenhaus pressierte. Ja, was jetzt?

    Kapitel 7

    Wasser, Hopfen und Malz

    Jetzt nur faul in der Sonne herumliegen, kam natürlich nicht in Frage und so kam es sehr gelegen, dass die örtliche Brauerei für die Sommerferien noch Vertretungen suchte. Das war die Bierfabrik mit dem kaputten Lastwagen. Da eine Absage mehr als wahrscheinlich war, betrat ich ohne Termin das Personalbüro.

    „Guten Tag. Ich heiße Christoph Lichtinger und würde gerne eine zeitlang bei Ihnen arbeiten."

    „Sagten Sie eben Lichtinger?" fragte die Schwaben-Bräu Empfangsdame erstaunt.

    „Ja, Christoph Lichtinger."

    „Sind Sie etwa einer der sechs Lausbuben vom Doktor Lichtinger?"

    „Ja, das stimmt. Ich bin sein Zweitjüngster." Mist, sie hatte mich! So schnell schon! Das war’s dann wohl.

    „Ach du liebe Güte! sagte sie dann aber. „Ihr Vater ist seit vielen Jahren unser Kinderarzt und hat uns immer so sehr geholfen. Wäre er damals nicht noch nachts gekommen, hätten wir unsere Tochter verloren. Dann müssten Sie eigentlich ein Enkel vom Braumeister Ludwig Lichtinger sein?

    „Ja, das stimmt auch, der Ludwig war mein Opa" sagte ich erleichtert.

    „Mein lieber Herr Lichtinger, nehmen Sie doch einen Moment Platz."

    Sie verschwand im Nebenraum. Zehn Sekunden später kam ein Herr im Anzug heraus und ich natürlich gleich wieder aufgestanden. Voller Freude schüttelte er meine Hand.

    „Na, das ist ja eine tolle Überraschung! Ein Enkel vom alten Lichtinger. Schauen Sie mal die vielen Bilder! rief er ganz aufgeregt und zeigte zur Wand. „Wussten Sie, das Schwaben-Bräu bereits 1878 von Robert Leicht gegründet wurde?

    Die Wand hing voller Bilderrahmen mit historischen Aufnahmen, schwarzweiß natürlich und viele sicherlich an die hundert Jahre alt. Mit muskelbepackten Pferden und Kutschen mit kräftigen, bemützten Männern im langen Lederschurz, die Holzfässer stapelten oder beim Kunden abluden.

    „Ganz nach alter Väter Sitte haben sie mit solchen Kaltblütern das Bier in der ganzen Region ausgeliefert. Doch schauen Sie mal hier!"

    Auf dem Foto ein gewölbter Keller mit riesigen Biertanks, davor der schnauzbärtige Gründer und Eigentümer Robert Leicht und Seite an Seite Opa Ludwig, der aussah, als wäre unser zweitältester Bruder Martin um dreißig Jahre gealtert. Wir anderen Kinder waren alle blond.

    „Der Bierkeller war sein ganzes Reich" sagte der Personalchef zu dem Foto, auf dem Opa Ludwig gerade an einem Reagenzglas schnüffelte. Lange vor meiner Geburt gestorben, hatte ich leider nicht die Ehre gehabt, den Vater meines Vater’s kennenzulernen. Opa Ludwig’s Handschrift kannte ich aber sehr wohl. Sie war voller zart geschwungener Serifen und sah den Rezepten unseres Vaters, die er für seine junge Klientel stets mit einem Füllfederhalter ausfüllte, zum Verwechseln ähnlich.

    „Wann haben Sie Zeit, Herr Lichtinger?" fragte der freundliche Personalchef, der mit keinem Wort den Unfall erwähnte.

    „Wie wär’s mit morgen?" fragte ich.

    Anstatt in einer Bilderfabrik auf bunte Knöpfe zu drücken, war mein neuer Arbeitsplatz nun ein riesiger Kühlschrank, der sich zehn Meter unter der Vaihinger Hauptstraße befand. Die Autofahrer da oben ahnten ja nicht, dass sie gerade über gigantische Tanks fuhren, in denen Millionen Liter Gerstensaft gärte. Wasser, Hopfen und Malz. Bei wenigen Grad über null. Mehr nicht! So steht es im Deutschen Reinheitsgebot seit 1516 geschrieben. Die Hefe kam erst später rein. Nach sechs Wochen Garzeit, sobald das Bier trinkreif ist, wurde der Sud aus den Tanks gepumpt, gefiltert, in Flaschen gefüllt und kam in den Verkauf. Die abgesetzte Hefe war noch im Tank. Mein Job war, die zwanzig Meter langen Edelstahltanks nun von innen zu reinigen. Dazu öffnete ich an der Stirnseite eine schmale Luke, schob den Gummischieber und eine langstielige Bürste hinein, kletterte mit Lampe und Gummistiefeln hinterher und watete in gebückter Haltung zum anderen Ende durch den Zentimeter hohen Hefematsch, den sie später getrocknet als Mastfutter an die Landwirte verkauften. Ein Schwein mit Schwips, sozusagen.

    „Hast du’s bald?"

    „Fang gleich an. Voll rutschig heute."

    „War es gestern auch schon."

    „Lass bloß das Licht an!"

    Sobald die Pumpe lief, schob ich mit dem Gummischieber den Hefematsch nach vorne, bürstete in rotierender Bewegung die Wände, spritzte alles gründlich ab, stellte einen angezündeten Formaldehyd Würfel für die Desinfektion in die Mitte, zwängte mich mit Lampe durch die Öffnung nach draußen, verschloss mit angehaltenem Atem die Luke und kletterte in den nächsten Tank. Das machte ich den lieben langen Tag. Oben war Sommer und unten war Winter, es war jedoch ein gut bezahlter Job und wenn man sich fleißig bewegte, dann hielt er auch warm. Dennoch war der Temperaturunterschied nach Feierabend enorm und wenn ich mit dem Eingang-Damenrad meiner Mutter den steilen Berg zur Wohnung hinaufgestrampelt war, lief natürlich der Schweiß.

    Heute war nur Vater da, Mutter hatte Schicht. Mit aufgeschlagener Zeitung und übereinander gelegten Beinen saß er auf unserer hellbraunen Ledergarnitur.

    „Christoph, wie schmeckt dein Bier heute?" fragte er gutgelaunt.

    „Kann es bald nicht mehr riechen."

    „Dann interessiert dich das hier bestimmt meinte er. „In der Vaihinger Universität ist eine Stelle zu vergeben.

    „Dafür braucht man aber Abitur."

    „Christoph, es ist eine Lehrstelle." Er reichte die entsprechende Seite herüber. Die Anzeige war von der Fraunhofer Gesellschaft, die einen Maschinenbau-Mechaniker ausbilden wollten. Logisch, dass ich gleich am nächsten Morgen anrief und weil die abnehmende Dame überaus entgegenkommend war, half sie in ihrer Mittagspause beim Fragebogen.

    Kapitel 8

    Ein halbes Kilo Haschisch auf der Fußbodenheizung

    So wurde ich im Jahr 1982 der erste Lehrling der TEG, der Technologischen Entwicklungsgruppe der Fraunhofer Gesellschaft. Meine zweite Lehrstelle. Anstatt jedoch auf bunte Knöpfe zu drücken oder durch matschige Hefe zu waten, stand ich nun in einer hochmodern ausgestatteten Werkstatt vor einem Schraubstock, um einen handwerklichen Beruf zu erlernen. Die TEG, bald mein zweites Zuhause, war die einmalige Chance, mit netten Kollegen und einer interessanten Tätigkeit es doch noch zu etwas zu bringen. So schnell kann’s manchmal gehen!

    Nachdem ich auch diese Woche wieder U-Stahl gesägt, gefeilt, geschmirgelt, entgratet, Löcher gebohrt und Gewinde geschnitten hatte, strampelte ich mit dem Damenrad wieder den Berg hinauf. Fünf Minuten später kam mein vollbärtiger Bruder Ralf aus Indien zurück, weshalb er natürlich gleich ins Bad musste.

    „Michael und seine Freundin Gags haben sich einfach mein Zimmer unter den Nagel gerissen! schimpfte Ralf durch die geschlossene Tür. „Michael meinte aber, das ich eventuell das Zimmer von Matthias haben kann?

    „Stimmt, Ralf! Der ist vor drei Monaten zur Freundin Gabi gezogen sagte ich. „You are very welcome, brother!

    Ralf duschte, doch wie schön, wir Brüder nach so langer Zeit mal wieder vereint unter einem Dach!

    „Mein Gras war nicht mehr auf dem Balkon!" rief Ralf noch im Bad.

    „Wieso das denn?"

    „Michael meinte, er hätte den Wulle nachts auf dem Balkon erwischt."

    „Wulle, das Arschgesicht, hat dein ganzes Marihuana geklaut?"

    „Hahaha."

    Da mussten wir beide lachen.

    „Und wie war dein Trip, Ralf?"

    „Fantastisch!" Rasieren wollte er sich trotzdem nicht, doch mein Gott, was war der Ralf mager geworden! Obwohl er in etwa meine Statur hatte, ich war einhundertvierundachtzig Zentimeter groß und um die zweiundachtzig Kilo schwer, brachte Ralf kaum noch sechzig Kilo auf die Waage und seit er in Rajasthan aus einer Rikscha gefallen war, wackelte sein Hightech-Hüftgelenk, das wenigstens fünfzehn Jahre halten sollte. So leicht ließ mein Bruder sich aber nicht unterkriegen! Ralf war zäh, sogar verflucht zäh und wenn er etwas wollte, dann hatte er es auch durchgezogen! Einen Fuß über den anderen gelegt, drückte er trotz fieser Schmerzen dreißig Liegestütze und nun seine Fitness bewiesen, leerte Ralf vor mir seinen Rucksack aus. Auf den warmen Fliesenplatten lagen nun lauter Hippie-Sachen. Bunte Tücher, Räucherstäbchen, handgeschnitzte Amulette, fluoreszierende Heiligenbildchen, und - in schmuddelige Wäsche gewickelt - wenigstens ein halbes Kilo erntefrisches Haschisch.

    „Bist du wahnsinnig, Ralf?"

    „Ich weiß, Chris. Baust du einen?"

    „Ja klar, Mann, die Gelegenheit ist günstig!"

    Einige Wochen später bekam Ralf, der seit Jaipur einen Gehstock brauchte, seine zweite Hüfte und wir bekamen in der TEG zwei neue Lehrlinge. Das waren die U-Stahl feilenden Abiturienten Markus und Till. Beide ein Jahr älter, durften sie zwei Wochen später ihr U-Stahl sogar schon in dünne Scheibchen sägen, als ich wieder Berufsschule hatte.

    Die Max-Eyth war dann meine zehnte und letzte Schule. Meine Klassenkameraden, die alle aus der Industrie kamen, standen den lieben langen Tag vor lärmenden Bohrmaschinen, Drehbänken und Fräsmaschinen, welche ihre Väter und Großväter auch schon bedient hatten, weil renommierte Firmen wie Mercedes-Benz, Porsche und Robert Bosch schon das ganze Jahrhundert lang in Stuttgart’s Speckgürtel ihren Sitz hatten. Terminierte Serienproduktion für anspruchsvolle Kunden. Eine nimmer endende Nachfrage! Kein Wunder, dass die erschöpften Mitschüler lieber die Schulbank drückten. Für sie war das Max-Eyth-Gymnasium ein Ort der Erholung.

    Wie Urlaub!

    Ich hingegen kam schon entspannt an. Bei der Fraunhofer Gesellschaft gab es keine Serienproduktion. Wir stellten Prototypen her für die Industrie und für Forschungsaufträge braucht man Gleitzeit, Auszeit und die modernsten Maschinen. Stress war für mich deshalb ein Fremdwort. Was für ein Glück ich doch hatte!

    Ein halbes Jahr nach seiner zweiten Hüftoperation, ich war im dritten und letzten Lehrjahr, war Ralf drauf und dran, wieder nach Indien zu fliegen. Zum ersten Mal mit Gehstock und heute Abend ging sein Flug. Gerade von der Berufsschule zurück, war Ralf bereits am Packen.

    „Und, Chris? Gibt’s schon irgendwelche Neuigkeiten von der Bundeswehr?"

    „Psst, Ralf! Nicht so laut!"

    „Du willst aber schon noch nach Asien?"

    „Ja, klar. Gleich nach der Gesellenprüfung!"

    „Und wohin?" fragte er.

    „Dahin, wo du steckst! Soll ich dich zum Bahnhof bringen?"

    „Danke, Chris. Sabine kommt gleich."

    Kaum ausgesprochen, bimmelte sie schon. Ich trug seinen Rucksack und er seinen Stock.

    „Im Dezember, Chris, bin ich wahrscheinlich noch in Kerala, aber im Januar könnten wir uns in Ceylon treffen."

    „Und wo dort? Hast du eine Adresse?"

    „Im Norden ist Krieg, aber keine Sorge, Chris meinte Ralf bereits aus der Wohnung. „Ich hol dich in Colombo am Flughafen ab und von dort nehmen wir den Zug in den Süden und wohnen in Hikkaduwa im Lions. Jetzt war der Aufzug da und Sabine nervte schon wieder mit der Klingel. „Versprochen, Chris! Ich ruf dich an" sagte Ralf, dann war er fort.

    Solch eine Fernreise kostet Geld und weil Auszubildende gemeinhin keine Reichtümer anhäufen, musste ich auf andere Art und Weise das nötige Kleingeld beschaffen, weshalb ich mich auch an diesem Wochenende wieder mit meinem drei Jahre älteren Bruder Stefan in seinem Lieblingsitaliener traf. Seit Ralf’s Abreise hatten wir bestimmt ein halbes Dutzend rostiger Autos aufgemotzt und den Gewinn fair untereinander aufgeteilt. Stefan war schon immer gut in solchen Geschäften, doch heute wollten wir uns einen 1750er Alfa Romeo Spider ansehen, für den ich mich persönlich sehr interessierte.

    „Alles Gute zum Dreiundzwanzigsten" gratulierte mein Bruder.

    „Danke, Stefan, der ist erst

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