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Geflüchtete Menschen psychosozial unterstützen und begleiten: Ein Handbuch
Geflüchtete Menschen psychosozial unterstützen und begleiten: Ein Handbuch
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eBook384 Seiten4 Stunden

Geflüchtete Menschen psychosozial unterstützen und begleiten: Ein Handbuch

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Über dieses E-Book

Das Handbuch bündelt alle wichtigen aktuellen Themen- und Arbeitsfelder in der psychosozialen Versorgung geflüchteter Menschen: von stationären Behandlungskonzepten über diagnostisches Fallverstehen bis zu Social Trauma. Fundiert und verständlich aufbereitet rüstet die kompakte Handreichung professionell und freiwillig Tätige für ihre vielfältigen Aufgaben umfassend aus und nimmt insbesondere die psychosozialen Bedarfe in den Blick. Die Autor:innen verknüpfen theoretisches Hintergrund- und nützliches Praxiswissen und geben Orientierung, welche Unterstützung Geflüchtete und Fachkräfte von wem in welchem Rahmen erhalten (können). Beiträge aus der Forschung schlagen den Bogen von der Theorie in die Praxis. Neue Anregungen für die praktische Tätigkeit in der Geflüchtetenhilfe sind garantiert.
Mit Beiträgen von Birgit Behrensen, Maximiliane Brandmaier, Barbara Bräutigam, Conny Bredereck, Silke Birgitta Gahleitner, Oliver Göbel, Lisa Große, Elvira Hadzic, Bernd Hanewald, Laura Hertner, Ljiljana Joksimovic, Mohammed Jouni, Sladjana Kosijer-Kappenberg, Eben Louw, Matthias Müller, Marie Ortmann, Luise Reddemann, Regina Saile, Stefan Schmid, Ulrike Schneck, Markus Stingl, Natalia Tilton, Astrid Utler, Dorothea Zimmermann und Dima Zito.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum15. Mai 2023
ISBN9783647993478
Geflüchtete Menschen psychosozial unterstützen und begleiten: Ein Handbuch

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    Buchvorschau

    Geflüchtete Menschen psychosozial unterstützen und begleiten - Maximiliane Brandmaier

    Teil 1 Hintergründe

    Birgit Behrensen

    Was bedeutet Fluchtmigration?

    Trendwende in der deutschen und europäischen Flüchtlingspolitik?

    Dieser Aufsatz war Mitte Februar 2022 fertig. Die Entwicklungen nach dem Kriegsbeginn in der Ukraine am 24.02.2022 verlangen jedoch eine Überarbeitung. Durch die im März 2022 beschlossene europäische »Richtlinie über den vorübergehenden Schutz« (Richtlinie 2001/55/EG) wurde erstmalig eine schnelle Aufenthaltssicherung auf Zeit bei freier Wohnortwahl innerhalb Europas für mehrere Millionen Schutzsuchende möglich.

    Die Umsetzung der EU-Richtlinie erfolgt in Deutschland nach § 24 Aufenthaltsgesetz (AufenthG), wobei politische Aushandlungsprozesse in Richtung zügiger Arbeitsmarkt- und Bildungsintegration, eines gleichberechtigten Zugangs zu Sozialleistungen sowie eher schwacher Wohnsitzauflagen für ukrainische Staatsangehörige zu beobachten sind. Die Lage für Drittstaatsangehörige aus der Ukraine ist dagegen zu diesem Zeitpunkt politisch, verwaltungsrechtlich und verwaltungspraktisch deutlich eingeschränkter. Flüchtlingslobbyorganisationen wie Pro Asyl (2022) weisen sowohl auf die Gefahren einer ungleichen Rechtspraxis als auch auf Potenziale der aktuellen Öffnungen hin. Aus soziologischer Sicht kann gesagt werden, dass in der Gestaltung der Aufnahme ukrainischer Staatsangehöriger sichtbar wird, wie sich im Zusammenspiel von politischen Entscheidungen, verwaltungsrechtlicher und verwaltungspraktischer Umsetzung im Verbund mit zivilgesellschaftlichem Engagement die »Lebenschancen« (Weber, 1922) von Schutzsuchenden verbessern. Um diese Verbesserungen auf andere Gruppen Schutzsuchender auszuweiten, ist es notwendig, die Hierarchisierung von Fluchtursachen zu dekonstruieren.

    Fallstricke bei der Zuordnung von Fluchtursachen

    Bis heute ist die Genfer Flüchtlingskonvention, die 1951 als »Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge« (GFK) verabschiedet wurde, das wichtigste internationale Dokument für den Flüchtlingsschutz. Festgelegt wurde hier das Recht unter anderem auf

    –Schutz vor Diskriminierung aus hier definierten Gründen (Artikel 3 GFK),

    –Zugang zu den Rechtsinstitutionen (Artikel 16 GFK),

    –Straffreiheit nach irregulärer Einreise, sofern die betreffende Person unmittelbar eingereist ist und sich bei den Behörden gemeldet hat (Artikel 31, Abs. 1 GFK),

    –Ausweisungsschutz (Artikel 32 und 33 GFK).

    Anfangs standen europäische Schutzsuchende im Fokus. Der Wirkungsbereich wurde aber aufgrund der globalen Entwicklung mit dem »Protokoll über die Rechtsstellung von Flüchtlingen« 1967 erweitert. Bis heute haben 149 Staaten eines oder beide Dokumente unterzeichnet (UNO-Flüchtlingshilfe, 2023).

    Mit diesen Regelungen sollen Schutzsuchende – so sie denn in der Lage sind, ihre Verfolgung zu begründen – auf die staatliche Selbstverpflichtung bauen können. Es ging und geht hierbei nicht um Barmherzigkeit, sondern um ein international vereinbartes Recht. Auch geht es nicht darum, ob Schutzsuchende ein für den Arbeitsmarkt interessantes Humankapital mitbringen. Weil das universalistische Prinzip des Menschenrechts über nationalstaatliche Interessen gestellt wird, sehen Scherr und Inan (2017, S. 134 ff.) in der Kategorie des Flüchtlings eine moderne Kategorie.

    Perspektiven auf ökonomische Dimensionen von Flucht sind in Rechtsprechung, Verwaltung, Politik und öffentlicher Diskussion jedoch widersprüchlich. Einerseits dienen Unterscheidungen zwischen ökonomischen und nicht ökonomischen Fluchtursachen aufseiten der Schutzsuchenden der Legitimierung staatlicher Aufnahmeverweigerung (Nassehi, 2015, S. 3). Andererseits zeigen Bestrebungen um einen schnellen Arbeitsmarktzugang für ukrainische Schutzsuchende im März und April 2022 ökonomische Verwertungsinteressen der aufnehmenden Staaten.

    Deshalb ist es wichtig, die ökonomischen Dimensionen von Fluchtursachen genauer einzuordnen. Die Verwobenheit von Fluchtursachen wird beispielhaft deutlich an den ökonomischen Folgen extremer Wetterphänomene auf die Entwicklung von Bürgerkriegen. So lässt sich mit Blick nach Syrien sagen, dass bereits 2009 von den rund 22 Millionen Menschen, die die Bevölkerung Syriens damals bildeten, 1,5 Millionen von der fortschreitenden Wüstenbildung betroffen waren. Konsequenzen waren ein dramatischer Rückgang der Grundwasserreserven, Überweidung, Ausbeutung der natürlichen Rohstoffe und schließlich eine massive Landflucht. Dies ist anzusiedeln im Kanon der Ursachen für die dann zunehmenden sozialen Unruhen, die im sogenannten Bürgerkrieg mündeten (Sinai u. Sinai, 2015). Ähnliches gilt etwa für die Boko-Haram-Gebiete im westlichen Afrika. Hier lässt sich eine Verbindung herstellen zwischen religiös begründeter Gewalt und massiven klimatischen Veränderungen, die Dürre und ökologische Probleme verursachten und die Zerstörung ganzer Dörfer zur Folge hatten (Jäggi, 2016).

    Für die in Krisenregionen lebenden Menschen sind die Verflechtungen von einer schlechten Wirtschaftslage, Extremwetterphänomenen, bewaffneten Konflikten, Armut, Klimawandel sowie verschiedenen Formen von Diskriminierung und Gewalt alltägliche Realität. Wie die Zusammenhänge statistisch aussehen und welche Verbindungen sie zur Fluchtmigration aufweisen, ist ausführlich in Berichten etwa der International Organization for Migration (vgl. expl. IOM, 2021) oder des Internal Displacement Monitoring Centres (vgl. expl. IDMC, 2021) nachzulesen.

    Ein aktuelles Beispiel ist in den ökonomischen und sozialen Folgen der Covid-19-Pandemieschutzmaßnahmen für Kinder zu sehen, die von World Vision (2021) so zusammengefasst werden:

    »Die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen von COVID-19 drohen Jahrzehnte des Fortschritts im Kampf gegen Armut und Einkommensungleichheit in den ärmsten Regionen der Welt zunichtezumachen […]. World Vision warnt davor, dass über 19 Millionen Menschen, darunter zehn Millionen Kinder, allein in zwölf der fragilsten Länder der Welt von einer Hungersnot bedroht sind. Der Grund dafür ist eine tödliche Mischung aus Konflikten, den wirtschaftlichen Auswirkungen von COVID-19 sowie klimabedingten Naturkatastrophen.

    Indirekte Folgen der Krise führen dazu, dass durch lange Perioden von Schulschließungen und vermehrter häuslicher Gewalt weltweit mindestens 85 Millionen Kinder dem Risiko von Gewalt ausgesetzt sind. Millionen von Eltern sowie Betreuerinnen und Betreuern haben durch COVID-19 ihre Arbeitsstellen sowie Einkommen verloren, was allein in Asien acht Millionen Kinder zur Kinderarbeit zwingt. Die Schulschließungen und finanziellen Notlagen führen in Afrika südlich der Sahara eine Million Mädchen in Zwangsehen und Teenagerschwangerschaften. Damit einher geht der vollständige Abbruch des Bildungsweges« (Word Vision Deutschland e. V., 2021, S. 42).

    Die Beseitigung von Hunger ist heute – anders als etwa im vorindustriellen Europa – keine primär technologische Frage. Sie ist eine Menschenrechtsfrage, weil der Zugang zu Nahrung eng mit Diskriminierungen verbunden ist (Mark, Gamze Erdem, Markus u. Wouter, 2021). Bewohnerinnen und Bewohner im globalen Norden sind mit den Diskriminierungspraktiken im globalen Süden verwoben. Auch im globalen Norden findet sich ein sozial ungleicher Zugang zu Ressourcen. Arbeit, Bildung, Wohnen und Nahrung sind hier historisch immer ungleich verteilt gewesen und diese Ungleichheit nimmt seit Jahrzehnten wieder zu. Aber zugleich profitieren alle – in sehr unterschiedlichem Maße – von den Ausbeutungsbedingungen im globalen Süden. Die Abwehr der damit zusammenhängenden Fluchtmigrationsbewegungen lässt sich in einer zunehmenden Abschottung des globalen Nordens beobachten, deren Praktiken als immer stärker aufgerüstete Grenzregime zusammengefasst werden können.

    Zunehmende Brutalität der Grenzregime

    Der Begriff des Grenzregimes hat sich im vergangenen Jahrzehnt als Bezeichnung für die Gesamtheit aller institutionellen, administrativen, legislativen und technischen Maßnahmen und Einrichtungen der Grenzsicherung und Grenzkontrolle etabliert. Die Ausbreitung von Grenzregimen ist eine Gegenbewegung zur Globalisierung mit ihren immer schnelleren und umfassenderen grenzüberschreitenden Produktionsprozessen, Handelsbeziehungen, Arbeitsmigrationsbewegungen, Bildungsgelegenheiten, Informations- und Kommunikationsvernetzungen sowie Binnenöffnungen. Mau (2021) spricht von »Grenzmauern als Bollwerke der Globalisierung« (S. 51). Vernon und Zimmermann (2021) kommen bei ihrer Zählung von Grenzmauern auf eine Steigerung von unter 10 um 1970 auf über 70 um 2020.

    Während Waren und Informationen global ausgetauscht werden, stellen sich für Menschen je nach nationaler Zugehörigkeit und ökonomischen Handlungsmöglichkeiten sowie nach geopolitischen und nationalstaatlichen Interessen unterschiedliche Hürden. Die Folgen geopolitischer und nationalökonomischer Interessen sind seit dem Kriegsbeginn in der Ukraine an den europäischen Außengrenzen sehr genau zu beobachten. Während ukrainische Flüchtende eine menschenwürdige Aufnahme in Europa erleben, erfrieren Menschen an der belarussisch-polnischen Grenze, ertrinken im Mittelmeer, leben ohne Perspektive in griechischen Lagern beziehungsweise auf der Straße oder warten in Afghanistan auf die versprochene Rettung (Pro Asyl, 2022).

    Hier wird sichtbar, dass die Regeln, nach denen jemand diese Schwellen überschreitet, über den Zugang zu rechtlich regulierten Arbeitsmärkten, zu wohlfahrtsstaatlichen Leistungen sowie zur rechtsstaatlichen Gewährleistung bürgerlicher Freiheiten entscheiden. Die »Fähigkeit und Möglichkeit zur Grenzüberschreitung« (Beck, 2007, S. 32) stellt eine entscheidende Dimension sozialer Ungleichheit in der globalen Welt dar. Grenzen erweisen sich als »institutionalisierte Gleichheits- und Ungleichheitsschwellen« (Stichweh, 2000, S. 69). Da es keine Verpflichtung von Staaten gibt, Asylsuchenden einen legalen Zutritt zu ihren Ländern zu verschaffen, sind die Außengrenzen ein wichtiger Ort, an dem sich Paradoxien zwischen einer universalistischen Menschenrechtsorientierung und nationalstaatlichen Interessen zeigen.

    Auf der innereuropäischen Seite der Grenze werden für unerwünschte Schutzsuchende Lager eingerichtet, die zur Entmutigung beitragen sollen und zugleich Teil einer innereuropäischen Abwehrsymbolik sind. Der EU-Abgeordnete Erik Marquardt beschreibt, wie die Covid-19-Pandemieschutzmaßnahmen zur weiteren Entrechtung und Einschüchterung von Geflüchteten diesseits der europäischen Grenze genutzt wurden:

    »Anfang April 2020 wurde das Taschengeldprogramm auf Lesbos [in Griechenland, BB.] ausgesetzt, das Geflüchteten ermöglicht hatte, Essen und Hygieneartikel zu kaufen. Angeblich sei die Ansteckungsgefahr zu groß […]. Die ärztliche und humanitäre Versorgung wurde eingeschränkt, indem man einigen Hilfsorganisationen verbot, im Camp zu arbeiten – erneut wurde die Infektionsgefahr als Grund angeführt. Bei der Essensverteilung wurden die Rationen einfach in die Menge geworfen, und die Menschen mussten sich wie bei einer Tierfütterung darum prügeln. Moria und andere Lager durften nun von den Geflüchteten nicht mehr verlassen werden […]. Auch anderswo wurde die Pandemie instrumentalisiert […]. Malta und Italien schlossen ihre Häfen für Menschen, die aus Seenot gerettet wurden. Schiffe, die keine Seenotrettungsschiffe waren, konnten weiter ein- und ausfahren. Wochenlang fand die ›Alan Kuri‹ von Sea-Eye […] mit 150 Geretteten auf dem Mittelmeer keinen Hafen« (Marquardt, 2021, S. 144 f.).

    Darüber hinaus nehmen unrechtmäßige Vertreibungen derjenigen zu, die europäischen Boden betreten haben und denen damit eigentlich ein Zugang zu einem rechtsstaatlichen Asylverfahren zusteht. Der hierfür gängige Begriff des Pushbacks wurde 2021 zum Unwort des Jahres gewählt. Günter Burkhardt von der Geflüchtetenlobbyorganisation Pro Asyl sagte dazu in einem Radiointerview des Norddeutschen Rundfunks:

    »Es ist ein Alarmzeichen, dass an Europas Grenzen tausendfach Recht gebrochen wird, Menschen zurück in Boote geschickt werden, in Griechenland auf dem Meer ausgesetzt werden oder in Polen zurückgeprügelt werden […]. Ein Schutzsuchender, beispielsweise aus Afghanistan, hat das Recht, an Europas Grenze einen Asylantrag zu stellen und zu sagen: Ich brauche Schutz. Das garantiert die EU-Grundrechte-Charta, die Menschenrechtskonvention, das Flüchtlingsrecht. Das wird verletzt, wenn die Grenzpolizei den Auftrag erhält, die Grenze dichtzumachen und Menschen wieder über die Grenze zurück zu verfrachten. Das ist ein Rechtsbruch, der aber von den EU-Staaten im Zentrum Europas toleriert wird – also auch von Polen begannen, aber von Deutschland, Frankreich und anderen nicht angeprangert. Deswegen muss jetzt alles dafür getan werden, dass die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten der EU dieses Verhalten, etwa von Polen, Kroatien oder Griechenland, sanktionieren« (Norddeutscher Rundfunk, 2022).

    Um aus dieser Brutalitätsspirale herauszukommen, schlägt Marquardt (2021, S. 192) unter anderem die Abschaffung des sogenannten Dublin-Systems vor, nach dem eine einreisende Person in jenem Staat einen Asylantrag stellen muss, in dem sie erstmals europäischen Boden betreten hat. Dass dies gelingen kann, zeigt die Praxis im Umgang mit ukrainischen Schutzsuchenden seit Kriegsbeginn.

    Dynamiken von Kontrolle und Entmündigung

    In der Sozialen Arbeit ist Kontrolle eine zur Profession gehörende Herausforderung. Die Gleichzeitigkeit von Hilfe und Kontrolle wird entsprechend als »doppelte[s] Mandat« (Böhnisch u. Lösch, 1973, S. 27) gelesen. Einerseits sollen Adressaten und Adressatinnen in ihrer Autonomie und Handlungsfähigkeit gestärkt werden. Andererseits bedarf es insbesondere im Kontext von Gewaltschutz und Kindeswohl auch einer Kontrollausübung. Die professionelle Haltung verlangt, sich des Dilemmas einer Gleichzeitigkeit von Hilfe und Kontrolle immer wieder bewusst zu werden, dies zu reflektieren und auszuhalten.

    Im Feld der Fluchtmigration stellt sich der Kontrollauftrag aber anders dar. Kontrolle ist hier ein Instrument der Überwachung ausländerrechtlicher Regelungen, die den innenpolitischen Teil der Grenzregimelogiken bilden. Dies ist nicht Teil der eigentlichen Arbeit von Sozialarbeit, Ehrenamt und psychosozialer Versorgung, wirkt aber in sie hinein.

    Besonders deutlich sind entmündigende Kontrolldynamiken in Erstaufnahmeeinrichtungen sowie in vielen sogenannten Gemeinschaftsunterkünften, die deutliche Elemente Totaler Institutionen (Goffman, 1973) aufweisen. Hierzu gehören:

    –ein tendenziell allumfassender Versorgungsanspruch der Einrichtung,

    –Beschränkungen und Kontrolle der Außenkontakte,

    –Verschränkungen der Lebensbereiche Schlafen, Arbeiten, Freizeit an einem Ort und unter den gleichen Autoritäten,

    –Unfreiwilligkeit der Teilhabe,

    –zeitlich gleich bleibende Durchstrukturierung des Tagesablaufs durch Autoritäten und durch festgelegte Regeln,

    –Summierung aller Tätigkeiten zu einem gemeinsamen Plan, dessen Ziel von der Institution und nicht von den Bewohnerinnen und Bewohnern bestimmt ist.

    Je länger Menschen den Logiken einer Totalen Institution ausgeliefert sind, umso mehr wird ihre Lebensgestaltung von Fremdbestimmung beeinträchtigt. Dies gilt besonders für Schutz suchende Menschen, wenn sie aufgrund der Fluchtbedingungen sozial erschöpft sind (Lutz, 2014). Gerade für sie besteht die Gefahr, dass sie in eine Situation hineinwachsen, in der sie auf die angebotene Versorgung angewiesen sind. Dabei lassen sich folgende Dynamiken feststellen:

    –Die Unklarheit von Zuständigkeiten stärkt das Erleben von Willkür in einem undurchschaubaren System.

    –Die Vermischung von Versorgung, Kontrolle und Sanktionen führt zum Erleben von Machtlosigkeit.

    –Unzureichende Beratung im Spannungsfeld mehrdimensionaler und komplexer Problemlagen verstärkt das Gefühl von Unsicherheit (Behrensen u. Groß, 2004).

    Der durch das Entmündigungssystem produzierte Bedarf an Unterstützung kann von den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen nur unzureichend erfüllt werden. In der Folge erhält nur eine kleine Gruppe von Bewohnerinnen und Bewohnern ein hohes Maß an Fürsorge, während ein größerer Teil deutlich schlechter versorgt wird. Das Ergebnis ist ein Teufelskreis der Entmündigung (siehe Abbildung 1).

    Mit Beginn der Covid-19-Pandemie wurden Erstaufnahmeeinrichtungen und sogenannte Gemeinschaftsunterkünfte in Deutschland zu gefährlichen Orten. Huke (2021) geht in 16 qualitativen Interviews mit Geflüchteten der Frage nach, wie sich die Lebensumstände in dieser Zeit verschärft haben. Die von Huke (2021) dargestellten Innensichten wiederholen, was eine umfängliche gesundheitswissenschaftliche Analyse von evidenzbasierten Daten plus Literatursichtung durch Hintermeier et al. (2021) im selben Jahr ergab. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass sich die schon vorher schwierigen Bedingungen zu psychosozialen Problemen verschärft haben. Räumliche Enge sowie fehlende Desinfektionsmittel trugen vielerorts zur Ausbreitung von Covid-19 bei. Die daraufhin angeordneten mehrwöchigen Quarantänen wirkten psychisch sehr belastend. Darüber hinaus sind seit Beginn der Covid-19-Pandemieschutzmaßnahmen die Bewohnerinnen und Bewohner noch stärker von der Aufnahmegesellschaft abgeschnitten. Vielen zivilgesellschaftlichen Akteuren wurde und wird der Zugang mit Verweis auf den Covid-19-Pandemieschutz verweigert. Selbst der Zugang zu IuK-Technologien und kostenfreiem W-LAN ist eher die Ausnahme als die Regel.

    Abbildung 1: Teufelskreis der Entmündigung von Behrensen auf Grundlage des Modells von Behrensen und Gross (2004)

    Schluss und Ausblick

    Seit 2015 hat sich eine heterogene »Europäische Asylpolitik von unten« (Marquardt, 2021, S. 197) entwickelt. In der Internationalen Allianz der Sicheren Häfen haben sich Bürgermeister und Bürgermeisterinnen aus ganz Europa zusammengeschlossen, um sich öffentlich und verantwortlich für eine Aufnahme von Schutzsuchenden in ihren Kommunen einzusetzen (Internationale Allianz der Sicheren Häfen, 2021). Zivilgesellschaftliche Lokalgruppen weisen mit symbolträchtigen Aktionen auf das Leid an den europäischen Außengrenzen hin und fordern eine menschenwürdige Asylpolitik (Seebrücke, 2022). Ende 2021 verbreitete sich beispielsweise die aus dem polnisch-belarussischen Grenzgebiet stammende Aktion »Grünes Licht für Aufnahme« (Seebrücke, 2022). In der ursprünglich durch den Rechtsanwalt Kamil Syller initiierten Aktion ging es um mehr als um Symbolik. Er hatte an seine Nachbarn in der Grenzregion appelliert, mit einem grünen Licht in ihrem Haus ihre Bereitschaft zu signalisieren, Schutzsuchenden konkret mit Lebensmitteln, warmer Kleidung oder anderen Dingen zu helfen (Seebrücke, 2022).

    Während ich dies schreibe, lese ich von ganz konkreter zivilgesellschaftlicher Hilfe überall in Europa. Seit Kriegsbeginn in der Ukraine öffnen Tausende Menschen ihre Wohnungstüren, um Schutzsuchende vorübergehend oder längerfristig bei sich zu Hause aufzunehmen (vgl. exempl. Reinig, 2022). Zeitgleich erreicht mich die E-Mail einer in Griechenland lebenden Freundin, die als Lehrerin einige in Athen gestrandete Menschen aus Afghanistan und Syrien kennengelernt hat und sie bei ihrer Zukunftsplanung unterstützt. Der Verein »Merhaba&Mahlzeit« (2022) schickt im Rahmen einer Ramadan-Spendenaktion Lebensmittelpakete nach Afrin, Nord-Syrien, nachdem die letzten Lieferungen nach Pakistan und Deutschland gingen. Diese unvollständige Liste weist auf neue Kräfte transnationaler Solidarität hin. Vielleicht entwickeln sich hier tragfähige Potenziale für eine Metamorphose der Welt (Beck, 2016).

    Für die soziale und psychosoziale Arbeit ist es in diesem Zusammenhang wichtig, sich der vielen Dimensionen von Ungleichheit immer wieder bewusst zu werden, sie alle gleichermaßen ernst zu nehmen und nicht gegeneinander auszuspielen. Schließlich gilt es zu berücksichtigen, dass auch im globalen Norden »Lebenschancen« (Weber, 1922) wieder zunehmend ungleich verteilt sind, weil erkämpfte Arbeitnehmerrechte und wohlfahrtsstaatliche Instrumente seit Jahrzehnten abgebaut (Castel, 2000) werden. Auch weltweit haben ungleiche Vermögensverteilung und Armut wieder zugenommen (Piketty, 2020).

    Entsprechend notwendig ist es für Fachkräfte und Ehrenamtliche im Feld der Fluchtmigration, Zugänge zu Ressourcen, Macht und ökonomischen Möglichkeiten in ihrer Komplexität und in ihren gewaltförmigen Folgen zu reflektieren. Dies verlangt eine über die psychosoziale Arbeit hinausgehende Bereitschaft, Ungleichheit und Gewalt als politisches und gesellschaftliches Problem anzuerkennen, das in die eigene Arbeit hineinwirkt. Wo dies gelingt, kann die eigene Ohnmacht durch transnationale Solidarität in Stärke verwandelt werden.

    Literatur

    Beck, U. (2007). Weltrisikogesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

    Beck, U. (2016). Die Metamorphose der Welt. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

    Behrensen, B., Groß, V. (2004). Auf dem Weg in ein »normales Leben«? Eine Analyse der gesundheitlichen Situation von Asylsuchenden in der Region Osnabrück. Osnabrück: Eigenverlag.

    Böhnisch, L., Lösch, H. (1973). Das Handlungsverständnis des Sozialarbeiters und seine institutionelle Determination. In H.-U. Otto, S. Schneider (Hrsg.), Gesellschaftliche Perspektiven der Sozialarbeit, Band 2 (S. 21–40). Neuwied: Luchterhand.

    Castel, R. (2000). Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit. Konstanz: UVK.

    Goffman, E. (1973). Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

    Hintermeier, M., Jahn, R., Biddle, L., Gencer, H., Hövener, C., Kajikhina, K., Mohsenpour, A., Oertelt-Prigione, S., Razum, O., Spallek, J., Tallarek, M., Bozorgmehr, K. (2021). SARS-CoV-2 bei Migrant*innen und geflüchteten Menschen. Bremen: Kompetenznetz Public Health COVID-19. DOI: 10.4119/unibi/2952828

    Huke, N. (2021). »Bedeutet unser Leben nichts?« Erfahrungen von Asylsuchenden in Flüchtlingsunterkünften während der Corona-Pandemie in Deutschland. Frankfurt a. M.: Pro Asyl.

    IDMC (2021). Grid 2021. Internal displacement in a changing climate. Genf. https://www.internaldisplacement.org/sites/default/files/publications/documents/grid2021_idmc.pdf (Zugriff am 02.01.2023).

    Internationale Allianz der Sicheren Häfen (2021). Erklärung der Bürgermeister. https://staedtesicherer-haefen.de/wp-content/uploads/2021/06/IASH-Erklaerung_Internationale-Allianz-Sicherer-Hafen_DEU.pdf (Zugriff am 02.01.2023).

    IOM (2021). Word Migration Report 2022. Genf. https://publications.iom.int/books/world-migration-report-2022 (Zugriff am 02.01.2023).

    Jäggi, C. J. (2016). Migration und Flucht. Wirtschaftliche Aspekte – regionale Hot Spots – Dynamiken – Lösungsansätze. Wiesbaden: Springer Fachmedien.

    Lutz, R. (2014). Soziale Erschöpfung – Erschöpfte Familien. Wiesbaden: Springer VS.

    Mark, G., Gamze Erdem, T., Markus, K., Wouter, V. (Hrsg.) (2021). The Routledge handbook on extraterritorial human rights obligations. London: Routledge.

    Marquardt, E. (2021). Europa schafft sich ab. Wie die Werte der EU verraten werden und was wir dagegen tun können. Hamburg: Rowohlt.

    Mau, S. (2021). Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert. München: C. H. Beck.

    Mehrhaba&Mahlzeit (2022). Herzlich willkommen. https://www.merhaba-mahlzeit.de/ (Zugriff am 16.04.2022).

    Nassehi, A. (2015). Die letzte Stunde der Wahrheit. Hamburg: Kursbuch.

    Norddeutscher Rundfunk (2022). Unwort des Jahres: »Pushback« verschleiert die Wahrheit. https://www.ndr.de/kultur/Pushback-Wofuer-steht-Unwort-des-Jahres-2021,unwort132.html (Zugriff am 02.01.2023).

    Piketty, T. (2020). Kapital und Ideologie. München: C. H. Beck.

    Pro Asyl (2022). Eine andere Flüchtlingspolitik ist möglich. https://www.proasyl.de/news/eine-andere-fluechtlingspolitik-ist-moeglich/?vgo_ee=AFa81E0b0VnszoUb5ngsEIy%2BbV1QLckAyqu17r8fE7w%3D (Zugriff am 02.01.2023).

    Reinig, A. (2022). Pressemitteilung. #Unterkunft Ukraine verstärkt Zusammenführung von Schutzsuchenden mit angebotenen Unterkünften. https://unterkunft-ukraine.de/wp-content/uploads/2022/04/20220324-Pressemitteilung-UnterkunftUkraine.pdf (Zugriff am 02.01.2023).

    Scherr, A., Inan, C. (2017). Flüchtlinge als gesellschaftliche Kategorie und als Konfliktfeld. Ein soziologischer Zugang. In C. Ghaderi, T. Eppenstein (Hrsg.), Flüchtlinge (S. 130–146). Wiesbaden: Springer VS.

    Seebrücke (2022). Wir bauen eine Brücke zu sicheren Häfen. https://seebruecke.org/ (Zugriff am 02.01.2023).

    Sinai, A., Sinai, A. (2015). Verwüstung. Wie der Klimawandel Konflikte anheizt. https://monde-diplomatique.de/artikel/!5226453#anker1 (Zugriff am 02.01.2023).

    Stichweh, R. (2000). Die Weltgesellschaft. Soziologische Analysen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

    UNO_Flüchtlingshilfe (2022). Was ist die Genfer Flüchtlingskonvention? https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/hilfe-weltweit/fluechtlingsschutz/genfer-fluechtlingskonvention (Zugriff am 06.02.2023).

    Vernon, V., Zimmermann, K. F. (2021). Walls and Fences: A Journey Through History and Economics. In K. Kourtit, B. Newbold, P. Nijkamp, M. Partridge (Eds.), The Economic Geography of Cross-Border Migration (pp. 33–54). Heidelberg et al.: Springer.

    Weber, M. (1922). Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Tübingen: Mohr.

    World Vision Deutschland e. V. (2021). Jahresbericht 2020. https://www.worldvision.de/sites/world-vision.de/files/pdf/World-Vision-Jahresbericht-2020.pdf (Zugriff am 02.01.2023).

    Maximiliane Brandmaier/Eben Louw

    Rassismus – Trauma – Flucht: Grundlagen für eine rassismussensible Beratung und Therapie

    Rassismus – blinder Fleck trotz langer Geschichte?

    Rassismus hat seinen Ursprung im ausgehenden 16. und frühen 17. Jahrhundert, als pseudowissenschaftliche Theorien Auftrieb bekamen, welche Menschen durch eine hierarchische und unveränderbare Kategorisierung in biologische »Rassen« unterteilten. Diese Theorien trugen dazu bei, dass Weißen in der Folge Herrschafts- und Machtansprüche sowie Privilegien legitimiert und gesichert wurden, und bildeten ein zentrales Instrument des Kolonialismus. Hinter biologisch-wissenschaftlichen Begründungen standen somit im Grunde sozioökonomische Herrschaftsinteressen. Susan Arndt (2017) versteht Rassismus daher auch als »white supremacy, eine weiße Herrschaftsform« (S. 34). Obwohl die Unterteilung von Menschen in »Rassen« seit Langem auch wissenschaftlich widerlegt ist, wirken die Ideen unterschwellig hartnäckig in der Gesellschaft fort: »Mit der Konstruktion ›Rasse‹ wird zwischenmenschliche Differenz in den Körper eingeschrieben, unveränderlich, essentiell« (Tißberger, 2013, S. 9).

    Die Ausprägungen von gegenwärtigem Rassismus sind ohne ihren soziohistorischen Kontext schwer zu verstehen (zur weiterführenden Lektüre sind zu empfehlen: Arndt, 2021; Fredrickson, 2011). Die ideologische Besonderheit von Rassismus in Deutschland ist die historisch bedingte Verstrickung mit Massenvernichtung und Völkermord. Es ist bezeichnend, dass in Deutschland das starke Bedürfnis, sich von der nationalsozialistischen Vergangenheit zu distanzieren, der Reflexion des eigenen rassistischen Handelns und Denkens sowie der Anerkennung und dem Sichtbarmachen von strukturellem Rassismus im Wege steht (vgl. auch Ogette, 2017, S. 87). In Deutschland besteht zudem eine besondere Verknüpfung von Weiß- und Deutsch-Sein als konstruierter ethnischer Gruppe mit einem Anspruch auf Exklusivität in der gemeinsamen Sprache – und häufig eine Verleugnung von Rassismus.

    Rassismus ist auch in der Psychotherapie nach wie vor weitgehend ein »blinder Fleck«, wie die Psychotherapeutin Lucía Muriel 2020 in einem Interview mit der »Zeit« kritisierte (Muriel, 2020). Um rassistische Erfahrungen angemessen verstehen und validieren zu können, helfen Theorien von Alltagsrassismus und Mikroaggressionen, die zu Beginn dieses Beitrags vorgestellt werden. Welche Auswirkungen Rassismus und Diskriminierung auf die Gesundheit

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